Die gesellschaftliche und politische Lage in den Vereinigten Staaten ist durch multiple Krisen gekennzeichnet: politische Radikalisierung, wachsende soziale Ungleichheit, struktureller Rassismus, ökonomische Prekarität und die systematische Aushöhlung demokratischer Institutionen. Mit dem erneuten Amtsantritt Donald Trumps manifestiert sich ein autoritärer Regierungsstil, der weitreichende Folgen für Wissenschaft, Öffentlichkeit und soziale Bewegungen mit sich bringt. Gleichzeitig formieren sich auf lokaler Ebene neue politische Kulturen des Widerstands.
Erst kürzlich konnte ich diese Entwicklungen vor Ort beobachten. Ich besuchte zwei wissenschaftliche Konferenzen – erst in Denver (Colorado), dann in Tacoma (Washington). Beide Städte bieten ein exemplarisches Bild für die Desintegration öffentlicher Räume und institutioneller Strukturen in den Städten der USA. Sichtbare Zeichen der Vernachlässigung sind verfallene Straßen und Gebäude, marode Brücken und verwahrloste und teils dystopisch wirkende Stadtbezirke. Besonders markant ist der dramatische Anstieg der Obdachlosigkeit: Zeltlager entlang von Highways, Parks und Fußgängerwegen sind ein normaler Bestandteil des öffentlichen Raumes. In Städten, die für Autos konzipiert sind, fährt die Mehrheit der Bevölkerung an dieser Realität der Ausgrenzung vorbei.
Konzentration der Vermögensverhältnisse
Die Urbanisierung alltäglicher Armut und die gleichzeitige Konzentration von Kapital in exklusiven Enklaven markiert einen ökonomischen Strukturbruch, wie ihn Thomas Piketty in seiner Analyse der postindustriellen Vermögensverhältnisse beschreibt (1). Im Jahr 2024 stellten die USA fast 40% der weltweiten Millionäre. Gleichzeitig haben über 80% der Erwachsenen in den USA weniger als 100.000 Dollar, was die ungleiche Vermögensverteilung verdeutlicht. (2) Diese Konzentration von Reichtum in den obersten Prozent der Gesellschaft wirkt sich auf demokratische Prozesse, politische Repräsentation und soziale Kohäsion aus. Die Deregulierungspolitik der letzten Jahrzehnte, Steuererleichterungen für Wohlhabende und die Privatisierung öffentlicher Güter haben ein System geschaffen, das soziale Teilhabe systematisch einschränkt oder sogar verhindert.
Parallel zur materiellen Verarmung vollzieht sich in den USA eine Erosion des sozialen Vertrauens. Menschen, die sich in den wenigen öffentlichen Räumen wie Fußgängerwegen oder öffentlichen Verkehrsmitteln begegnen, tun dies meist mit Abstand und Vorsicht. Zum einen mag das an der medialen Omnipräsenz von Bedrohungsszenarien und dem leichten Zugang zu Schusswaffen liegen. Laut Schätzungen gehen in den USA jeden Monat mehr als eine Million neue Schusswaffen über den Ladentisch. (3) Im Jahr 2025 wurden bis Mitte Juni rund 6.450 Todesfälle durch Schusswaffen (ohne Selbstmorde) erfasst. (4)
Zum anderen liegt die Erosion des sozialen Vertrauens sicher auch an der gesellschaftlichen Polarisierung. Die US-amerikanische Gesellschaft mit ihrem faktischen Zweiparteiensystem, den extrem unterschiedlichen Lebensrealitäten und Kulturen – beispielsweise zwischen Land und Stadt – sowie starken Konfliktlinien entlang polarisierter und profitorientierter Medien bieten kaum Schnittmengen für Diskussionen oder Gespräche. Fakten, Beweise und Argumente hängen von soziokulturellen Faktoren ab, was alltägliche Gespräche, geschweige denn gemeinsame politische Aktionen erschwert. (5)
Ein Gegengewicht boten die „No Kings“-Massendemonstrationen vom 14. Juni 2025. Millionen Menschen nahmen an den landesweiten Protesten gegen autoritäre Tendenzen und plutokratische Strukturen unter der Trump-Regierung teil. In Denver waren es Zehntausende, meine Kolleg:innen und ich waren dabei. Die Proteste waren bewegend, die Transparente der Menschen fantasievoll kritisch. Slogans wie „Deportiert Hass, nicht unsere Nachbarn“ (Deport Hate, not our Neighbors), „Migranten machen Amerika groß“ (Immigrants make American Great) oder „Scheiß Reich“ (Turd Reich), eine Anspielung auf das Dritte Reich (Third Reich), stehen für mehr als den Ausdruck von Unmut. Die USA stehen an einem historischen Wendepunkt, und die Widerstände auf den Straßen sind Versuche, der autoritären Zersetzung etwas entgegenzusetzen. Die Menschen gehen auf die Straße – nicht wegen, sondern trotz alltäglicher Gewalt.
„No Kings“-Demonstrationen, 14. Juni 2025, Denver (Colorado)
Am selben Abend lief ich mit einem Freund in einen Polizeiaufmarsch, der sich nach einer Schießerei gebildet hatte. Solche Vorfälle sind in den USA kein Ausnahmephänomen, sie stehen symptomatisch für den Zustand einer Gesellschaft, in der öffentliche Sicherheit zunehmend privatisiert und Gewalt normalisiert wird.
Wissenschaft unter Druck
Diese Themen bewegen auch die Wissenschaft. Auf den Konferenzen überwogen Wut, Ärger und Verzweiflung. Auch wissenschaftliche Institutionen stehen unter starkem politischem Druck. Insbesondere die Forschung in den Bereichen Gender, Rassismus, Klima und sozialer Gerechtigkeit ist unter der zweiten Trump-Regierung massiven Einschränkungen ausgesetzt. Förderstrukturen wurden umgebaut, ideologisch unbequeme Themen marginalisiert oder ganz aus öffentlichen Institutionen verdrängt. Jede:r konnte Geschichten erzählen, wie eigene Forschungsgelder gestrichen und ausländische Studierende bedroht wurden.
Aktuell wird eine lange Liste von Begriffen von Regierungswebseiten und -dokumenten entfernt und zur Überprüfung durch Bundesbehörden markiert. Damit versucht die Trump-Regierung, alle Verweise nicht nur auf Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion, sondern auch auf den Klimawandel, Impfstoffe und eine Vielzahl anderer Themen zu entfernen. Eine von PEN America zusammengestellte Liste enthält mehr als 250 Wörtern und Ausdrücken, die unter der Trump-Regierung als nicht mehr akzeptabel gelten. Sie reicht von „Abtreibung“ über „Frauen“ bis hin zu ‚Behinderung‘, „ältere Menschen“, „amerikanische Ureinwohner“ und – wenig überraschend – dem „Golf von Mexiko“. (6) So wird Sprache systematisch aus dem öffentlichen Raum entfernt und Wissenschaft politisch manipuliert.
Gleichzeitig werden die Visa internationaler Studierender an US-Universitäten aus verschiedenen Gründen widerrufen – darunter angebliche Verstöße gegen die Visabestimmungen und kriminelle Aktivitäten, sowie vorgeschobene Bedenken hinsichtlich nationaler Sicherheit. Seit kurzem hat das US-Außenministerium auch die Befugnis, Visa zu widerrufen, wobei diese Widerrufe ohne eine formelle Anklage erfolgen können. Außerdem hat die Regierung US-Botschaften auf der ganzen Welt angewiesen, zunächst keine Termine mehr für Studentenvisa zu vereinbaren. (7)
Politischer Widerstand und Solidarität
Trotz – oder gerade wegen – dieser politischen Verschärfungen entstehen auch neue Formen der politischen Organisierung in den USA – in der Wissenschaft und auf lokaler Ebene. Auf beiden Konferenzen wurden Gegenstrategien diskutiert und praktische Tipps des Widerstands geteilt. Wissenschaftler:innen vernetzen sich, suchen rechtliche Hilfe und problematisieren öffentlich die faschistoiden Tendenzen der Trump-Regierung. Gleichzeitig formieren sich in Städten wie Denver und Tacoma Mieter:innenkollektive, Gesundheitskooperativen, feministische Selbsthilfeeinrichtungen und offene Technologieprojekte. Auf lokaler Ebene arbeiten sie jenseits institutionalisierter Machtstrukturen, suchen nach solidarischen Antworten auf die wachsenden prekären Lebensverhältnisse und gehen auf die Straße, trotz der wachsenden Bedrohung durch Staat und Polizei.
„No Kings“-Demonstrationen, 14. Juni 2025, Denver (Colorado)
Am letzten Konferenztag in Tacoma bombardierte die USA den Iran, und wieder saß der Schock tief in einem Land, in dem der Krisenmodus immer normaler scheint. Er ist Ausdruck eines tiefgreifenden Umbaus ökonomischer, politischer und kultureller Ordnungen. Ich verbrachte diese Nacht in einem Airbnb, das seit Jahren internationalen Reisenden offen steht. Die Besitzerin schuf in ihrem Haus ein kleines Refugium des Friedens. Mit Tränen in den Augen sprachen wir über den Irrsinn der Regierung, über Ohnmacht und lokalen Widerstand. Wie kann man seine Menschlichkeit bewahren, fragt sie, wenn die Situation so unmenschlich ist? Sie hält ihr Airbnb offen und umarmt internationale Reisende, die trotz allem ihr Haus besuchen. Außerdem läuft sie regelmäßig mit Wasserflaschen durch die Straßen Tacomas, um sie Obdachlosen anzubieten. Das ist ihr Widerstand: Solidarität durch Herzlichkeiten. In Zeiten des alltäglichen Faschismus braucht es beides – auch in Deutschland.
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Fußnoten
(1) Piketty, Thomas. Capital and Ideology. Cambridge, MA: Harvard University Press, 2020.
(3) http://mdr.de/wissen/psychologie-sozialwissenschaften/schusswaffen-usa-statistiken-100.html