Falls sie überhaupt davon Notiz genommen haben, dürften sich jetzige und künftige Rentner in Deutschland über die gerade in China verkündete Rentenreform gewundert haben. Dort hat die Regierung, der Staatsrat beschlossen, dass das gesetzliche Rentenalter ab 2025 von derzeit 55 Jahren für angestellte Frauen (50 für Arbeiterinnen) und 60 für Männer schrittweise auf 63 Jahre angehoben wird. Auch nach der Anhebung des Rentenalters, der ersten Reform seit fast 70 Jahren, ist China mit einer ähnlichen Lebenserwartung wie in Westeuropa in puncto Rentenalter immer noch ein Arbeitnehmerparadies. Das gilt zumindest für die meisten Beschäftigten in den Städten.
Aber es gibt krasse Unterschiede zwischen den Beschäftigten, die als Stadtbewohner registriert sind, und den etwa 300 Millionen Arbeitsmigranten oder Wanderarbeitern, die schon viele Jahre in den Städten arbeiten und leben, aber offiziell immer noch Landbewohner sind Schließlich lebt ein Drittel der Bevölkerung oder ca. 450 Millionen Menschen immer noch auf dem Land. Ein Beispiel für die Unterschiede zwischen Stadt und Land bzw. mit städtischem oder ländlichem Hukou, also der Registrierung als Stadtbewohner bzw. als Landbewohner: Über 60% der Frauen mit städtischem Hukou gehen mit 50 bzw. 55 Jahren in Rente. Von den Frauen, die formal auf dem Land registriert sind, dagegen nur 30%. Hauptgrund dafür sind die unterschiedlichen Rentenansprüche ("Challenges and concerns surrounding China's retirement age reform”, China Labour Bulletin, 12.7.24, unter: clb.org.hk).
Einige Arbeiter schlugen nach der Ankündigung der Regierungsentscheidung in den sozialen Medien vor, das Rentenalter für Angestellte gleich auf 80 (!) Jahre zu erhöhen. Für Arbeiter dagegen sollte es generell auf 50 abgesenkt werden. Denn ein Arbeiter über 45 würde nur noch schwer einen Job finden, bei dem der Arbeitgeber auch für die Rentenversicherung zahlt. Arbeiter besonders im prekären Jobs sind gegen die Anhebung des Rentenalters, weil sie länger arbeiten und mehr in die Rentenversicherung einzahlen müssen. Sie befürchten, dass ihre Rentenansprüche nicht sicher sind.
Von Maos Barfußärzten und der “eisernen Reisschüssel” zur Marktwirtschaft
Zu Zeiten Maos bis Ende der 70er Jahre gab es für Arbeiter, Angestellte und Staatsbeamte in den Städten die sogenannte “eiserne Reisschüssel” mit lebenslanger Beschäftigung und garantierten Renten. Sie mussten keine Sozialabgaben zahlen und gingen mit Erreichung des Rentenalters in Rente, die auch die medizinische Versorgung umfasste.
Auf dem Land war nach der Kollektivierung der Landwirtschaft in den 50er Jahren die kooperative medizinische Versorgung ein Grundpfeiler der sozialen Sicherung: Sie kombinierte kollektive Ressourcen und Beiträge der Landbevölkerung für eine medizinische Grundversorgung und erreichte Ende der 1970er Jahre eine umfangreiche Abdeckung. Das System der »Fünf Garantien« leistete eine soziale Grundversorgung für alle Landbewohner, damit sie nicht durch das soziale Netz fielen. Die »Fünf Garantien« beinhalteten die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Kleidung, Unterkunft, die medizinische Versorgung und die Kosten für eine Beerdigung. Die kollektiven Strukturen der Landwirtschaft hatten eine wichtige Schutzfunktion und erleichterten die Bereitstellung von öffentlichen Gütern. Der Staat und die öffentliche Verwaltung spielten in diesem subsidiär organisierten System nur eine begrenzte Rolle.
Die Ende der 70er Jahre begonnenen Wirtschaftsreformen von Deng Xiaoping – die Einführung der Marktwirtschaft, die Zulassung von Privatunternehmen und die Öffnung für ausländisches Kapital, die Privatisierung der Landwirtschaft und die Lohnarbeit auf Basis von Arbeitsverträgen – erschütterten die Grundlagen der bisherigen Systeme der sozialen Sicherung.
In den Städten, der Machtbasis der Kommunistischen Partei, ließ die Regierung die soziale Sicherung nicht einfach zusammenbrechen. Ihre Institutionen bestanden fort, aber funktionierten immer schlechter. Die Versicherung der Arbeiter erfasste nur den öffentlichen Sektor. Mit dem Aufstieg der Privatwirtschaft führte das zu sinkendem Versicherungsschutz der städtischen Bevölkerung. Denn Beschäftigte in Privatunternehmen waren in der Regel nicht versichert, was diesen einen erheblichen Kostenvorteil gegenüber dem Staatssektor verschaffte. Staatsunternehmen und genossenschaftliche Unternehmen beklagten zudem die ungleiche Verteilung der Kosten der sozialen Sicherung, weil es kein überbetriebliches Pooling gab: Schon lange existierende Firmen mit älteren Belegschaften hatten höhere Aufwendungen für Renten und medizinische Versorgung als jüngere Unternehmen. (Thomas Heberer/Armin Müller: “Chinas gesellschaftliche Transformation“, Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017, abrufbar unter: fes.org)
In den 1990er Jahren erfüllten auch immer weniger staatliche Unternehmen die zugesagten Versicherungsleistungen. Unter dem Diktat des Marktes und mit betriebswirtschaftlichen Kennzahlen wurde Chinas Staatssektor mit harter Hand saniert. Unzählige Staatsbetriebe wurden geschlossen, andere wurden fusioniert mit dem Ziel, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige Konzerne zu entwickeln. Ca. 40 (!) Millionen Beschäftigte im Staatssektor wurden freigesetzt. Damals gab es in China keine Arbeitslosenversicherung und kein System der Sozialhilfe.
U.a. mit Anleihen bei europäischen Systemen der Sozialversicherung und mit verschiedenen regionalen Experimenten entwickelte die chinesische Regierung dann bis zur Jahrtausendwende ein von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziertes Sozialversicherungssystem, das in erster Linie Arbeiter und Angestellte mit Arbeitsverträgen in den Städten erfasste. Neben der Rentenversicherung umfasst die Sozialversicherung auch die Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung, den Schutz bei Invalidität und Unfällen. Die Rentenfonds werden bis heute meist auf Provinzebene verwaltet.
Dieses System erreichte allerdings bei weitem nicht alle Einwohner, die als Städter registriert sind. Die Implementierung konzentrierte sich zunächst auf den öffentlichen Sektor, während private Unternehmen bei der Einführung zögerlicher waren. Die vielen Millionen Arbeitsmigranten, die nach der Privatisierung der Landwirtschaft und nach der Aufhebung der strikten Zuzugskontrollen in die Städte strömten, waren nur teilweise in die Sozialversicherung integriert. Sie hatten oft Schwierigkeiten, die ihnen zustehenden Leistungen auch wirklich zu bekommen.
Heute gehen die meisten städtischen Beschäftigten mit Erreichung des Rentenalters auch in Rente. Viele nehmen auch die Frühverrentung in Anspruch – entweder aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund gefährlicher Arbeitsbedingungen (was nach verschiedenen Studien sehr lax ausgelegt wird). Auch im Rahmen von Personalabbau-Programmen der Staatsunternehmen wurde eine Frühverrentung angeboten.
Die durchschnittliche Rente lag 2023 für Chinesen, die als Stadtbewohner registriert sind, bei monatlich 3.300 RMB. Das ist auskömmlich angesichts der Tatsache, dass die meisten Wohneigentum haben. Beschäftigte staatlicher Institutionen erhalten deutlich höhere Renten – über 7.000 RMB monatlich.
Auf dem Land nur geringe steuerfinanzierte Basisrente, aber Krankenversicherung
Auf dem Land wurde mit der Privatisierung, mit dem System der sogenannten Haushaltsverantwortung, die kollektive Landwirtschaft aufgegeben. Familien bewirtschaften heute die ihnen zugeteilten Parzellen, die formell weiter im Kollektivbesitz sind. Die Privatisierung verlieh der landwirtschaftlichen Produktion einen gewaltigen Schub, setzte gleichzeitig aber viele Millionen Arbeitskräfte frei. Die Privatisierung senkte auch die Fähigkeit ländlicher Regierungs- und Parteiorgane, für die soziale Sicherung zu sorgen. Mit dem Ausbleiben finanzieller und politischer Unterstützung durch die höheren Staatsebenen brach das System der medizinischen Versorgung auf breiter Front zusammen. Denn das System der »Fünf Garantien« war stark von der Lage der kommunalen Haushalte in Dörfern und Gemeinden abhängig. Die Familie wurde wieder der Garant der sozialen Sicherung, was zunächst durch steigende ländliche Einkommen gestützt wurde.
Aber in den 1990er Jahren wurde immer deutlicher, dass die Familien damit überfordert waren. Viele Alte in den Dörfern waren vom Altersarmut bedroht. Krankheit war die häufigste Ursache der Verarmung ländlicher Haushalte.
Der Aufbau neuer Versicherungssysteme auf dem Land wurde zunächst unter der Maßgabe finanzieller Subsidiarität betrieben, also was sich die Kommunen und Dörfer leisten konnten. Das war aber kein Konzept, um die zunehmende Verarmung der Landgebiete zu stoppen. Es waren Chinas Bauern, die durch ihre Arbeit, ihr Mehrprodukt die Grundlagen für den neuen Reichtum in den Küstenregionen, für das Entstehen einer neuen riesigen Mittelschicht und für Chinas Millionäre und Milliardäre geschaffen hatten. Eindrucksvoll ist die Darstellung der Lage der Bauern in dem Buch von Chen Guidi und Wu Chuntao: “Zur Lage der chinesischen Bauern “ (Frankfurt 2006).
Das erste große Programm war die neue kooperative Krankenversicherung, deren Implementierung 2003 begann und bis 2008 in allen Landkreisen Chinas erfolgt war. Offizielles Ziel war die Bekämpfung krankheitsbedingter Armut. Vor allem sollten finanzielle Schocks aufgrund schwerer Erkrankungen und von Krankenhausaufenthalten abgefedert werden. Durch einen ländlichen Hukou, die Bescheinigung, Bewohner in einem bestimmten Dorf zu sein, war die Mitgliedschaft in der kooperativen Krankenversicherung gegeben.
Der Aufbau einer ländlichen Rentenversicherung startete 2009. Die Rentenversicherung für die Landgebiete besteht zum einen aus einer Basisrente, die vor allem aus Steuern finanziert wird, und aus individuellen Rentensparkonten. Auf die Rentensparkonten werden individuelle Beiträge, kollektive Unterstützungszahlungen sowie Zuschüsse der Lokalregierungen eingezahlt. Die ländliche Rentenversicherung war zunächst als Ergänzung zur Absicherung durch Familie, die Bewirtschaftung des kollektiven Bodens und die Sozialhilfe gedacht. Das Mindestniveau der Basisrente wurde 2009 bei monatlich 55 RMB festgelegt, umgerechnet etwa 8 €, weit unter den Lebenshaltungskosten auch auf dem Land. 2023 lag die Durchschnittsrente auf dem Land bei 173 RMB monatlich. Den ländlichen Versicherungssystemen folgten jeweils städtische Varianten. Die sollen die von der Sozialversicherung für Arbeitnehmer nicht erfassten Stadtbewohner abdecken, also Familienmitglieder ebenso wie Beschäftigte im privaten oder informellen Sektor.
Es gibt also ein landesweites System einer sehr niedrigen Basisrente, das nicht nur die Menschen auf den Dörfern umfasst. Die Basisrente gilt auch für die Beschäftigten im informellen im privaten Sektor und auch für die Arbeitsmigranten, sofern sie keinen Anspruch auf die viel höhere städtische Rente haben.
Wanderarbeiter: ohne Arbeitsvertrag kein Anspruch auf gesetzliche Rente
Die meisten Arbeitsmigranten sind froh, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben und in Betrieben arbeiten, die in das Sozialversicherungssystem einzahlen. Denn dann haben sie nach 15 Jahren Zahlungen in die Rentenkasse einen Rentenanspruch bei Erreichung des gesetzlichen Rentenalters. Aber sie haben wenig Informationen darüber, wie die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge kalkuliert sind, welche Rente sie erhalten und wie sie ihre künftige Rente maximieren können. Die meisten zahlen nur den Mindestbeitrag. Da es in der Regel keine Tarifverhandlungen auf Unternehmens- oder Betriebsebene gibt, können auch keine höheren Arbeitgeberbeiträge ausgehandelt werden.
Nach Daten des Ministeriums für soziale Sicherheit von 2017 waren Arbeitsmigranten nicht angemessen in der städtischen Rentenversicherung repräsentiert. Weniger als ein Viertel der Arbeitsmigranten landesweit zahlten selbst und über ihre Arbeitgeber Beiträge in die städtische Rentenversicherung ein, die ein viel höheres Leistungsniveau hat als die Basis-Rentenversicherung.
Denn die meisten Arbeitsmigranten haben keinen Arbeitsvertrag. Das bedeutet, dass die Arbeitgeber nicht zu ihrer Rentenversicherung beitragen müssen und dass ihre Arbeitsjahre nicht zählen für die mindestens 15 Jahre Beitragszahlung, damit ein Anspruch auf die gesetzliche Rente besteht. Nach Daten von 2017 des Nationalen Statistikbüros (seitdem gibt es keine Daten mehr) hatten überhaupt nur 35% der Arbeitsmigranten einen Arbeitsvertrag.
Im Bausektor ist das Problem besonders akut. Bis zur Immobilienkrise, die seit 2021 auf der Volkswirtschaft lastet, war der Bausektor ein wesentlicher Treiber für den Arbeitsmarkt, gerade auch für ungelernte und angelernte Arbeiter. Das ist jetzt vorbei. Informelle Arbeit ist weit verbreitet, die meisten Arbeiter haben keine Arbeitsverträge. Viele müssen sich als Tagelöhner verdienen, die morgens an den Ausfallstraßen auf die LKWs der Baufirmen warten und verzweifelt nach Arbeit suchen. Die Unternehmer können die Löhne drücken und sparen sich die Sozialabgaben. Diese prekären und informellen Jobs haben keinerlei gesetzlichen Schutz. Viele Arbeitsmigranten arbeiten über das gesetzliche Rentenalter hinaus, weil sie nur minimale Rentenansprüche haben. 2020 lag der durchschnittliche Rentenanspruch bei 173 RMB pro Monat, während die Beschäftigten in den Städten durchschnittlich 3.300 RMB pro Monat als Rente kassierten.
Auch die Beschäftigten in Chinas wachsenden Dienstleistungssektor, besonders in der Plattform-Ökonomie, werden vom gegenwärtigen System der Sozialversicherung praktisch nicht erfasst. Nach Schätzungen soll es inzwischen bis zu 200 Millionen Arbeitnehmer in diesem Sektor geben. Vergleichbar den Wanderarbeitern arbeiten diese flexiblen Beschäftigten meist ohne Arbeitsvertrag. Sofern sie einen Arbeitsvertrag haben, zahlen die Arbeitgeber nicht in die Rentenkasse ein. Nach Daten der International Labour Organisation ILO halbierte sich von 2018 bis 2021 die Zahl der Beschäftigten der Lieferdienste mit Arbeitsvertrag auf nur noch 20%, während die Zahl der Lieferkuriere ohne jeden Vertrag auf 42% angestiegen war. Auch nach einer Studie über die soziale Absicherung der Plattform-Arbeiter in den Städten Peking, Chengdu und Hangzhou waren nur 20% über den Arbeitgeber rentenversichert.
Altersarmut programmiert?
Aufgrund der enormen Unterschiede bei den Rentenansprüchen ist klar, dass viele Arbeiter und Angestellte in den Städten weit über das Rentenalter von jetzt 60 Jahren (für Männer) hinaus arbeiten müssen. Sie erhalten zwar eine Rente, aber die ist minimal.
Aber weil sie über das Rentenalter hinaus arbeiten, können sie nach dem Gesetz keine Arbeitsverträge mehr abschließen. Diese Widersprüche in der Gesetzgebung sind gut für die Arbeitgeber: Ohne Arbeitsvertrag sind sie nicht verpflichtet, Sozialversicherungsabgaben zu zahlen. Die Betroffenen müssen mit Dienstleistungsverträgen auf Baustellen, als Sicherheitskräfte oder als Putzkräfte arbeiten. 2024 haben verschiedene chinesische Städte die Altersgrenze für Taxifahrer auf 65 angehoben. Noch zwei Jahre vorher sollten Taxifahrerinnen in Sichuan schon ihre Lizenz verlieren, wenn sie 50 wurden. Jedenfalls können diese älteren Taxifahrer*innen keine Arbeitsverträge mehr abschließen, weil sie das Rentenalter erreicht haben. Das gleiche Problem hatten die älteren Putzkräfte in der U-Bahn von Shenyang: Sie konnten nicht mehr in die Rentenversicherung einzahlen, wenn sie 50 oder älter waren. Die U-Bahn-Gesellschaft erklärte, man wolle Rentenbeiträge zahlen, dürfe es nach dem Gesetz aber nicht.
Auch die gegenwärtig schwierige Wirtschaftslage in China beeinflusst die Rentenzahlungen und damit die künftigen Rentenansprüche. Das China Labour Bulletin mit Sitz in Hongkong berichtet immer wieder von Fällen besonders aus dem Perlfluss-Delta, der größten Fabrik-Konzentration weltweit. Firmen zahlen jahrelang keine Rentenbeiträge – manchmal mit stillschweigender Duldung der zuständigen Regierungsbehörden. Erst bei der Fabrikschließung und Verlagerung z.B. nach Indonesien kommt der massive Sozialbetrug heraus. Als die betroffenen Beschäftigten das lokale Arbeitsamt der Stadtregierung kontaktierten, mussten sie feststellen, dass die nationalen Gesetze zur Sozialversicherung auf der lokalen Ebene nicht umgesetzt werden. Bei einer anderen Fabrikschließung im Perlfluss-Delta wurden die Beschäftigten vor die Alternative gestellt, entweder auf die noch ausstehenden Löhne zu verzichten oder auf die Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung.
Angesichts der aktuell schwierigen Wirtschaftslage in China kürzen viele Beschäftigte selbst ihre Beiträge zur Rentenversicherung und zahlen nur noch den Mindestbeitrag. Oder sie zahlen nur so lange Beiträge, bis sie nach 15 Jahren Beitragszahlung die Mindestrente erreicht haben. In der Privatwirtschaft ist die Beitragszahlung auch bei abhängig Beschäftigten Privatsache, wird also nicht vom Arbeitgeber erledigt. Viele Selbständige oder z.B. Lieferkuriere der Plattform-Ökonomie zahlen überhaupt keine Beiträge mehr zur Sozialversicherung oder nur noch für die Basis-Krankenversicherung. Sie überlegen, wieder Beiträge zur Sozialversicherung zu zahlen, wenn sie es sich leisten können. Das bedeutet, dass weitere Millionen Beschäftigte in den Städten gar keine oder nur eine winzige Rente bekommen werden, während die meisten Städter gut abgesichert in die Rente gehen.
Wirksame Alterssicherung derzeit nur für eine Minderheit
Eine effektive, staatlich garantierte Alterssicherung bleibt einer Minderheit in China vorbehalten. Gesellschaftlich wirkt dieses System damit eher regressiv als progressiv, es erhöht die soziale Ungleichheit. Die Expansion der sozialen Sicherungssysteme seit über 20 Jahren hat zwar dafür gesorgt, dass der allergrößte Teil der Bevölkerung zumindest eine kleine Absicherung für das Alter und gegen die Folgen von Krankheit, Unfällen etc. hat. Doch die Absicherung ist in ihrem Umfang beschränkt. Ein effektives Sozialsystem aufzubauen, ist eine der zentralen Herausforderungen für die Transformation des chinesischen Wirtschaftssystems und für die gesellschaftliche Entwicklung der kommenden Jahrzehnte.
Allein das Rentenalter zu erhöhen, löst nicht die Probleme der Rentenversicherung. Aufgrund ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage sind hunderte Millionen Chinesen in den Städten und auf dem Land derzeit gezwungen, auch nach dem Eintritt in das Rentenalter weiterzuarbeiten. Ob das gesellschaftlich erwünscht und notwendig ist, ist die eine Frage. Die andere ist offensichtlich, wie das Rentensystem – trotz der volkswirtschaftlichen Beschränkungen, die noch kein allgemein höheres Rentenniveau ermöglichen – unter Einbeziehung der Beschäftigten und der Gewerkschaften so gestaltet werden kann, dass es transparenter und egalitärer wird.
Derzeit wird von der chinesischen Regierung nach US-amerikanischen Modell auch eine staatlich geförderte kapitalgedeckte Rente als sogenannte dritte Säule der Rentenversicherung propagiert. Sie sei besonders geeignet für kleine Unternehmen und Selbstständige. Die erste Säule umfasst die Rentenversicherung für die Stadtbewohner und die steuerfinanzierte Basisrente für die Landgebiete. Die zweite Säule ist eine von Arbeitgebern (und Arbeitnehmern) finanzierte Betriebsrente.
Aber wie Chinas früherer Finanzminister Lou Jiwei in einer Rede kürzlich zugeben musste, haben Experimente in reichen Küstenprovinzen mit Finanzprodukten für kapitalgedeckte Renten noch nicht den von der Regierung erwünschten Zuspruch gefunden. Das mag auch daran liegen, dass die versprochenen Vorteile bei der Steuer irrelevant sind, weil die meisten Chinesen ohnehin keine oder kaum Einkommensteuer zahlen. Seit Ende 2024 wird das System landesweit eingeführt. Immerhin sollen inzwischen 60 Millionen Chinesen in eine kapitalgedeckte Rente investieren. Der Markt ist so riesig, dass auch die Allianz dabei ist.