In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 15.3.2023 mit der Überschrift „Deutschland schafft sein Klimaziel“ gab es unter einem Bild eines holzverarbeitenden Betriebes am Seehafen Wismar folgenden Text:
Die deutsche Industrie hat im vergangenen Jahr deutlich weniger Treibhausgas-Emissionen verursacht.
Weil in der Industrie die Treibhausgas-Emissionen stark eingebrochen sind, hat Deutschland 2022 sein Klimaziel erreicht. Durch die gestiegenen Energiepreise in der Folge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine sparten die Unternehmen bei Strom, Gas und Öl, einige Branchen drosselten ihre Produktion.
Nach einer Prognose des Umweltbundesamts (UBA), die jetzt vorgestellt wurde, gingen dadurch die Emissionen in Deutschland insgesamt im Vergleich zum Vorjahr um 1,9 Prozent zurück auf 746 Millionen Tonnen sogenannter Kohlendioxid (CO₂)-Äquivalente. Das sind zehn Millionen Tonnen weniger als das Klimaschutzgesetz als Obergrenze festgelegt hat.“

Immerhin erwähnt der Text
„Im Sinne des Klimaschutzes sieht es in den anderen Sektoren weniger rosig aus. In der Energiewirtschaft stiegen die Emissionen durch den erhöhten Einsatz der Kohle wie erwartet an. Der Gebäudebereich konnte zwar den Ausstoß senken, liegt aber wie im Vorjahr über seinem Ziel. Problemkind der deutschen Klimapolitik bleibt der Verkehr. Hier stiegen die Emissionen sogar an, der Bereich von Minister Volker Wissing (FDP) lag neun Millionen Tonnen über der Zielmarke.“

Außerdem wird UBA-Präsident Dirk Messner zitiert, dass sich die Klimaziele in den kommenden Jahren verschärfen. Zitat: "Um die Ziele der Bundesregierung bis 2030 zu erreichen, müssen nun pro Jahr sechs Prozent Emissionen gemindert werden. Seit 2010 waren es im Schnitt nicht einmal zwei Prozent", sagte er. Die Bundesrepublik liegt nun 40,4 Prozent unterhalb des Wertes von 1990, bis 2030 sollen die Treibhausgase um 65 Prozent sinken. 2045 soll das Land laut Gesetz klimaneutral sein.“

Soweit einmal wieder ein kurzer Artikel in der sog. “Qualitätszeitung SZ“ zum Problem Treibhausgas-Emissionen in Deutschland.
Da wir in Deutschland ja immerhin seit 2021 ein Klimaschutzgesetz (KSG) haben und sich die Gesamt-Emissionen der THG sogar im Rahmen des dort einmal festgelegten Korridors befinden, gibt es laut SZ und UBA zwar in einigen Detailbereichen (Verkehr, Gebäude) einige Probleme, aber insgesamt stimmt für den geneigten SZ-Leser doch die Richtung, zumal ja auch in der Regierungskoalition eine grüne Partei mit einem grünen Wirtschaftsminister und einer grünen Umweltministerin vertreten ist.

So könnte man also denken...  –  ist diese Sichtweise aber wirklich gerechtfertigt und in Ordnung?Nein, denn neben den oben richtig angesprochenen Problemen in den Bereichen Verkehr und Gebäude liegen die großen Probleme der Klimapolitik in Deutschland erheblich tiefer und werden durch die oben dargestellte Berichterstattung in keiner Weise adäquat behandelt.

IPCC- Synthesebericht

Andererseits veröffentlichte am 20.März 2023 der Weltklimarat (IPCC) das finale Synthesedokument[1] des „6. Sachstandszyklus (AR6) 2021/2022“.

Dort wird zum wiederholten Mal festgestellt, dass

  • „das Tempo und der Umfang der bisherigen Maßnahmen, sowie die derzeitigen Pläne weltweit unzureichend sind, um den Klimawandel zu bekämpfen.“

Weiter wird betont:

  • Ohne drastische Minderungen der klimaschädlichen globalen Treibhausgas-Emissionen noch in diesem Jahrzehnt wird das 1,5 Grad-Ziel der Erderwärmung bereits in den 2030-er Jahren überschritten.

Einige wenige weitere Aussagen aus dem Bericht:

  • „Die projizierten CO2-Emissionen aus der bestehenden Infrastruktur für fossile Brennstoffe ohne zusätzliche Vermeidungsmaßnahmen werden das verbleibende Kohlenstoffbudget für 1,5 °C überschreiten.“
  • „Wenn die Klimaziele erreicht werden sollen, müsste die Finanzierung sowohl für Anpassung als auch für die Minderung des Klimawandels um ein Vielfaches steigen.“

Der geneigte SZ-Leser könnte nun meinen, dass diese dramatischen Warnungen und Aufforderungen des IPCC in erster Linie die anderen großen Emittenden von Treibhausgasen und überhaupt die vielen Staaten des globalen Südens betreffen würde und nicht Deutschland, das ja nach der obigen SZ-Meldung sein „Klimaziel“ insgesamt erreicht habe“.

Deutschland hat sein CO2-Budget von 1990 schon seit Jahren völlig ausgeschöpft

Bei dieser Betrachtung lügt man sich jedoch in die Tasche: Denn Deutschland gehört zu den Ländern weltweit, die – selbst bei einer moderaten historischen Betrachtung der CO2-Emissionen erst seit 1990 – das ihnen zustehende CO2-Budget[2], um das Pariser Klimaziel einzuhalten, schon seit fast 2 Jahrzehnten völlig ausgeschöpft haben[3] und täglich permanent weiter überschreiten!

Dass diese Tatsache überhaupt nicht im deutschen Klimaschutzgesetz berücksichtigt wird, kann man formal der Vorgängerregierung unter Angela Merkel anlasten, da dieses Gesetz im Jahr 2021 verabschiedet wurde. Aber auch die grüne Partei, die ja jetzt in der Regierung ist, hat noch nie offiziell mit einem Satz auf diese historische Klimaschuld hingewiesen und sie macht auch keinerlei Anstalten, diese Thematik in ihrer Klimapolitik anzusprechen. Sonst wäre ein völlig anderes Auftreten u.a. auch im außenpolitischen Kontext gegenüber dem globalen Süden angebracht (s.u.).

Mit anderen Worten, das Klimaschutzgesetz von Deutschland, das auch von der grünen Partei widerspruchslos akzeptiert wird, geht von vorneherein schon von einem viel zu hohen Treibhausgas-Budget aus, das unserem Land noch zur Verfügung stünde.

Aber selbst diese fragwürdige und grob beschönigende Denk- und Berechnungsmethode, die im Klimaschutzgesetz grundsätzlich die Basis der Berechungen und der Klimaziele darstellt, ist inzwischen nur schwer einzuhalten, da ja selbst die besonders treibhausgasintensive Kohleverstromung nach oben gefahren wird und selbst das aus ökologischer Sicht eigentlich mehrfach unmögliche, unsägliche und schmutzigste US-Frackinggas in großen Mengen das russische Pipelinegas ersetzt und so unter einem grünen Wirtschaftsminister fröhliche Urstände feiert.

Im Grunde kann man diese ganze politische Mainstream-Diskussion, bei der sowohl die Presse aber auch die grüne Partei mitmacht, als ein großes Zirkusspiel betrachten, bei dem die breite Masse der Bürger, die ja nicht vergessen hat, dass es generell ein ernstes Klimaproblem gibt, mit Nachrichten in der obigen SZ-Art gefüttert, beschäftigt und dabei aber komplett in die Irre geführt wird.

Das Komplizerte in dieser Situation ist, dass die Berichterstattung und Diskussion im Detail und auf der Ebene der verschiedenen Sektoren durchaus sorgfältig und wichtig ist, aber eben insgesamt auf einer völlig falschen Grundlage basiert.

So ist es natürlich richtig, den FDP-Minister Wissing, der für den Verkehrsbereich zuständig ist, hart dafür zu kritisieren, dass die - selbst nach dem KSG sehr harmlosen Reduktionsanforderungen in keiner Weise berücksichtigt werden. Noch nicht einmal ein kostenloses Tempolimit auf Autobahnen wird in Betracht gezogen. In analoger Weise muss man im Detail auch die mangelnde Geschwindigkeit bei der Umsetzung von Klimaschutzvorgaben im Bausektor kritisieren.

Dies alles darf aber nicht den Blick verstellen – wie oben schon erwähnt – dass Deutschand aufgrund seiner historischen Klimaschuld im globalen Zusammenhang die Verantwortung hat, darauf hinzuwirken, dass all die reichen Länder, die eine ähnliche Klimaschuld haben, diese anerkennen und angemessene Reparationsleistugen in einen internationalen Klimafonds zu zahlen haben. Aus einem solchen Klimafonds sollten z.B. alle fossilistischen Energie-Projekte, die es heute immer noch mit erheblichen Subventionen und auch mit Finanzen aus der fossilistischen Groß-Industrie (Kohle-, Öl-, Gas und generell Energie- und Finanzkonzerne) gibt, konsequent durch Projekte auf regenerativer Basis ersetzt und finanziert werden.

Versagen der Grünen

Für derartige drastische Maßnahmen liefert der neueste IPCC-Synthesebericht die unumstößlichen wissenschaftlichen Grundlagen. Es ist eine Schande, dass die grüne Partei in der Regierung dieses Schauspiel auf der Detailebene der Klimapolitik mitmacht bzw. befördert. Sie spekuliert wohl darauf, dass sie sich in der Regierungskoalition als konsequente ökologische Kraft profilieren kann. Im Grunde versagt sie aber völlig, wenn die Maßstäbe des IPCC und dessen dringenste Aufrufe (s.o.) zugrundegelegt werden.

Insbesondere hat auch die Außenmisterin Annalena Baerbock maßlos enttäuscht. Nach ihrem Regierungsantritt Ende 2021 gab es Hoffnungen[4] auf eine grunsätzlich neue strategische Ausrichtung der deutschen Klimaaußenpolitik, da sie die Zuständigkeit für internationale Klimapolitik in das Außenministerium geholt hat und auch mit Jennifer Morgan, der ehemaligen Geschäftsführerin von Greenpeace International, eine hoffnungsvolle Besetzung als Staatssekretärin vorgenommen hatte. Leider hat sich diese Hoffnung völlig zerschlagen, denn es ist überhaupt keine angemessene Initiative im Hinblick auf eine Neuausrichtung[5] der deutschen Klima-Außenpolitik und der Klimaverhandlungen festzustellen.

 

[1] https://www.ipcc.ch/report/sixth-assessment-report-cycle/

[2] Selinger H. 25.9.2010   https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/312-11eine-gerechte-verhandlungsgrundlage-fuer-den-un-weltklimagipfel-in-cancun-ist-moeglich

[3] Selinger H.  23.11.2021    https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/4304-3verlauf-von-glasgow-konferenz-zeigt-voellig-andere-art-klimakonferenz-noetig-fuer-bewaeltigung-der-klimakrise,  und

Autorenkollektiv, Juli 2022, isw-report 129 “Rio Erdgipfel” bis Glasgow: 30 Jahre in Etappen in die Klimakatastrophe
dort: H. Selinger, Kap. 4, S. 11-17 Neuausrichtung der Klimaverhandlungen, Berechnungsmodell konkreter Klimaschulden

[4] offener Brief v. H. Selinger an A. Baerbock,  6.1.2022  https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/4355-54neue-art-der-klimaaussenpolitik-und-internationalen-klimaverhandlungen-sind-notwendig-offener-brief-an-aussenministerin-annalena-baerbock

[5] Selinger H., 5. Dezember 2022   https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/4970-69klimagipfel-cop27-in-sharm-el-sheikh-internationale-klimapolitik-braucht-prinzipielle-neuausrichtung