Reicher Mann und armer Mann
standen da und sah’n sich an.
Und der Arme sagte bleich:
Wär’ ich nicht arm, wärst Du nicht reich.“

Bert Brecht, 1934

 

 

Armut, Armutsgefährdung

Armut begegnet man in allen Lebensaltern, von der Armut von Geburt an bis zur Armut beim Sterben – sind es bei der Geburt, die fehlenden Windeln zum Monatsende, ungesunde und damit krankmachende Wohnverhältnisse oder auch ungesunde Ernährung, so ist es am Ende des Lebens die Sorge der eigenen Bestattung mit oder ohne Würde.

Die Armutsgefährdungsquote gibt an, wie hoch der Anteil der armutsgefährdeten Personen an der Gesamtbevölkerung ist. Sie ist keine aus der Luft gegriffene Erfindung, sondern wurde vom Statistischen Bundesamt (Destatis) und den Statistischen Landesämtern als Maßstab zur Messung von materieller Armut entwickelt. Auf eine Darstellung der nach den EU-SILC- Richtlinien dargelegte Armutsdefinition wird hier verzichtet.

Die Armutsquote in Deutschland betrug bereits im Jahr 2021 nach neuen Berechnungen des Paritätischen  16,9% , will heißen : es gibt  14,1 Millionen arme Menschen  in Deutschland.

Destatis hat in einer Pressemitteilung, Nr. 327 vom 4. August 2022 folgende Hauptbetroffenheit von Armut benannt:

  • Frauen sind eher armutsgefährdet als Männer
  • Mehr als ein Viertel der Alleinlebenden sowie der Personen aus Alleinerziehenden-Haushalten waren armutsgefährdet
  • fast jede zweite arbeitslose Person war 2021 armutsgefährdet
  • Differenziert nach dem überwiegenden Erwerbsstatus von Personen ab 18 Jahren war im Jahr 2021 in der Gruppe der Arbeitslosen mit 47,0 % fast jede zweite Person armutsgefährdet. Bei den überwiegend Erwerbstätigen betrug der Anteil 8,6 %.
    Für Personen im Ruhestand lag die Armutsgefährdungsquote bei 19,3 %.

In einer mehrteiligen Reihe will das isw die Thematik Armut am Beispiel des Bundeslandes Bayern aufgreifen und die Ergebnisse diverser Recherchen darstellen. Dabei geht es neben Zahlen und ihren Veränderungen in Zeitvergleichen auch immer wieder – sozusagen als Weckrufe – um subjektive Eindrücke, was Armut mit Menschen macht. Bei den Diskussionen in diesem Bereich geht es immer um Menschen, ihre Lebensgefühle und Einstellungen und damit auch die Grundfragen des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft – um Gerechtigkeit und gleichberechtigte Teilhabe.

In Bayern lag 2021 die Armutsgefährdungsschwelle bei 12,6%. das entspricht einem verfügbaren Einkommen eines Einpersonenhaushalts von 1236 €. Eine Person gilt dann als armutsgefährdet, wenn ihr Äquivalenzeinkommen die Armutsgefährdungsschwelle unterschreitet.

Armutskonferenz Bayern

In Bayern fand 2014 die letzte Armutskonferenz der Wohlfahrtsverbände statt, seitdem ist Sendepause – kein gutes Signal.
Im Nachbarland Österreich gibt es eine aktive Zusammenarbeit vieler NGO´s, die sich beiden Seiten, der Armut wie dem Reichtum widmen:
Reichtumskonferenz 2022: https://www.armutskonferenz.at/reichtumskonferenz-2022;
Armutskonferenz 2022: https://www.armutskonferenz.at/es-brennt

Der Sozialbericht Bayern

In 2022 veröffentlichte die Bayerische Staatsregierung ihren vorerst letzten Sozialbericht. Regionale oder kommunale Berichte zum Thema Armut sind rar.
Soziale Fragen kommen auf kommunaler Ebene nur am Rande zur Sprache, in den Bügerversammlungen geht es meist um Baumaßnahmen aller Art, was  die/den BürgerIn beschäftigt.
Wenn es um die Platzierung von Bauten z.B. für eine Flüchtlings- oder auch Obdachlosenunterkunft geht, auch dann wird’s hellhörig, laut, schrill und schnell grundsätzlich, Ängste und Vorurteile kommen hoch, werden vervielfacht: Das kann  auch schon geschehen, wenn es um den Bau einer neuen Fußgängerbrücke über einen Bach geht – es könnte ja im Dunkeln dunkle Gestalten anziehen und man fühlt sich nicht mehr sicher im Viertel. Wenn dann daraus Überzeugungen werden, ist mit rationalen Argumenten oft nicht mehr dagegen anzukommen, daraus ziehen politisch Rechte, Nazis und AFD ihren Nutzen.

Der Freistaat Bayern hat eine Verfassung, die hohe Ziele auch bezüglich der Bereiche der Lebenssicherung beinhaltet:  Art. 3

(1) Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl.
(2) Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung. Er fördert und sichert gleichwertige Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern, in Stadt und Land.

Detaillierter wird in den Artikel 166 ff darauf eingegangen; es fallen dort Begriffe wie „-Die menschliche Arbeitskraft ist als wertvollstes wirtschaftliches Gut eines Volkes, -gegen Ausbeutung, Betriebsgefahren und sonstige gesundheitliche Schädigungen geschützt; - Jede ehrliche Arbeit hat den gleichen sittlichen Wert und Anspruch auf angemessenes Entgelt oder auch - Arbeitsloses Einkommen arbeitsfähiger Personen wird nach Maßgabe der Gesetze mit Sondersteuern belegt.
Auch wenn daraus keine unmittelbare Inanspruchnahme abgeleitet werden kann, so muss es dennoch Ziel jeglicher staatlicher Entscheidung und staatlichen Handelns sein und bleiben, diesem Idealzustand näherzukommen, oder wie Heribert Prantl in einem Beitrag am 2./3.12.2016 in der SZ, Seite 49 schrieb: „Die Bayerische Verfassung ist 70 Jahre alt. Sie liest sich so, als hätten Fidel Castro und Papst Franziskus daran mitgeschrieben.“

Armutsberichterstattung – notwendig und machbar, auch in Bayern

Es ist das Anliegen des Autors, Fakten zu benennen, die eine Erstellung eines amtlichen Armutsberichts auf kommunaler Ebene bzw. regionaler Ebene als sozialpolitische Aufgabe zur Bekämpfung von Armut nahelegen. Hierbei erfolgt der Versuch, auf Grundlage eigener Recherchen mit der Angabe von Fakten  darauf hinzuweisen, dass es eine sozialpolitischen , verfassungsverbrieften Aufgabe entspräche,  zur Bekämpfung von zunehmender Verarmung  gerade in einem prosperierenden Bundesland der Bundesrepublik Deutschland eine systematische Armutsberichterstattung anzugehen. Viele Gründe sprechen dafür:

Erstens: Es gibt in Bayern keinen Armutsbericht, es gibt einen Sozialbericht. Warum das so ist? Nach Auffassung der derzeit regierenden Parteien  CSU und FW sind die bestehenden Gesetze bereits die bekämpfte Armut und damit verbiete sich der Begriff Armutsbericht. Das ist Augenwischerei, denn selbst in dem im letzten Jahr erschienenen umfangreichen Sozialbericht (752 Seiten) begegnet man bei genauerem Lesen laufend strukturellen Armutssituationen. Es ist also an der Zeit anzuerkennen, daß es auch in Bayern Armut gibt und diese dann auch so zu benennen, auch wenn mit bundesweiten Vergleichen versucht wird herauszustellen, wie gut die „soziale Lage“ in Bayern doch sei. Auch Bayern hat ein Armutsproblem.

Zweitens: Während es auf Landesebene einen Sozialbericht gibt, sieht es auf Ebene der Bezirke und der 96 Stadt- und Landkreise noch viel düsterer aus. Von wenigen positiven Ausnahmen abgesehen, wie etwa dem Armutsbericht der Stadt München aus dem Jahr 2022, gibt es nur ganz wenige Aussagen zur Betroffenheit von Armut. Und wenn ja, sind die Datensätze meist veraltet. Aktuelle Forderungen, Armutsberichte zu erstellen, konnten nur in den Städten Augsburg, Bamberg und Fürth gefunden werden. In den Regierungsbezirken Mittelfranken und Oberbayern gibt es aus den Jahren 2022 bzw. 2020 zumindest Datenreports.

Drittens: Um dieses weitgehende „Armutsschweigen“ aufzubrechen, wären die 96 Stadt- und Landkreise aufzufordern, jeweils für ihren eigenen Bereich alle z.B. drei Jahre eigene kommunale Armutsberichte zu erstellen und daraus folgend Ziele und Maßnahmen auf kommunaler Ebene zur Bekämpfung der Armut  abzuleiten und zu beschließen.
In vielen Bereichen liegen für eine entsprechende Recherche- und Analysearbeit statistische Materialien vor, die belegbar genutzt werden könnten.

In den Städten und Landkreisen leben die Menschen, die von Armut bedroht und oder betroffen sind – in diesem Nahbereich spielt sich das Leben ab, egal ob im Altenheim, zuhause, der Jugendhilfeeinrichtung oder dem Frauenhaus – dort entscheiden sich Lebensschicksale.

Diese in der isw-Reihe verwendeten Angaben sind auszugsweise aus den verfügbaren amtlichen Daten entnommen, die als Anregung zu verstehen sind für weitergehende Analysen auf regionaler, bzw. kommunaler Ebene.
Der vorliegende auf eigenen Recherchen beruhende Bericht erhebt keinesfalls den Anspruch einer vollständigen Darstellung der Armut in Bayern. Schlaglichtartig kann nur auf elementare Erkenntnisse eingegangen werden.


Das Datengerüst für eine Armuts-Analyse vor Ort gehörten mindestens folgende Kerndaten:

Einwohner, Entwicklung, Zusammensetzung nach Geschlecht, Alter, Nationalität

Relative Bevölkerungsentwicklung seit 2012 in %

Anteil der Arbeitslosen an der Gesamtbevölkerung in %

Quoten und ihre Entwicklung gemäß der amtlichen Gesetzgebungstexte und Verordnungen:

Aus dem Bereich der Sozialgesetzgebung insbesondere Daten aus den Bereichen

SGB III (Arbeitsförderung; insbesondere Arbeitslosengeld I, Kurzarbeitergeld, andere Leistungen der Bundesagentur)

SGB II (seit 2023 Bürgergeld, vorher Grundsicherung für Arbeitssuchende, umgangssprachlich Hartz IV und folgende)

SGB VIII (Jugendhilfe)

SGB IX (Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen)

SGB XI (Soziale Pflegeversicherung)

SGB XII (Sozialhilfe)

 

Zusätzlich verwendbare Daten:

Aufstocker SGB II an allen ALGII Beziehenden in %

Kinderarmut in %

Altersarmut, Grusi in %

Kaufkraft in € pro Haushalt

Haushalte mit niedrigem Einkommen in %

Beschäftigungsquote in %

Unterbeschäftigungsquote

Arbeitsplatzentwicklung in den letzten 5 Jahren in %

WohngeldbezieherIn

Verbraucherinsolvenzen

ÖPNV-Mobilität für Menschen mit wenig Geld

Zudem könnten Kriterien wie etwa die Ausgaben-Entwicklungen als sinnvolle Ergänzung in einen Armutsbericht einfließen.

Der Freistaat Bayern hat die Möglichkeit, sofern es politisch gewollt wäre,,  die Kommunen zu verpflichten, eine regelmäßige Armutsberichterstattung einzuführen. Alle Kommunen haben außerdem die Möglichkeit, vor Ort über die gesetzlich festgelegten Maßnahmen hinaus im Rahmen der freiwilligen Leistungen zusätzliche Angebote zu schaffen, die die Armut zumindest individuell etwas verringern können. Beispiele wie kostenfreie Eintritte in Bäder, Bibliotheken, kostenfreie oder reduzierte Teilnahmemöglichkeiten an Angeboten der Bildungsträger, Theater, ein kostenfreies ÖPNV Ticket und viele andere Ideen gibt es – sie sollten flächendeckend ohne bürokratische Antragsprüfungen eingeführt und umgesetzt werden.
Erschreckend ist immer wieder, wie Politik, egal auf welcher Ebene, abwartend auf Bedarfsäußerungen reagiert, das war so bei der Frage, ob die Zusammensetzung und Höhe der Regelleistungen überhaupt den Vorgaben des Grundgesetzes entsprechen – hier bedurfte es eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar 2010; - 1 BvL 1/09 -, Rn. 1-220; http://www.bverfg.de/e/ls20100209_1bvl000109.html); das betraf die Frage nach Nachhilfe für Hartz IV schulpflichtige Kinder – es kam dann eine späte, zunächst sehr restriktive Regelung: man musste im Vorrücken stark gefährdet sein, um überhaupt Leistungen erhalten zu können, oder auch die Möglichkeit für Kinder, Mitglied in einem Turn- oder Sportverein sein zu können, die dafür notwendigen Sportbekleidung zu erhalten. Das jetzt sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket gibt es erst seit 2011 – Hartz IV trat am 1.1.2005 in Kraft. Auch die zähen Auseinandersetzungen zur Beschaffung von PCs – ein Trauerspiel, statt vorausschauender Sozialpolitik.

Zu den geschilderten Barrieren kommt hinzu, dass man es auf nationaler, Bundesländer-, Bezirks- und Kommunalebene mit einem großen sozialpolitischen Flickenteppich zu tun hat, der Armut keineswegs verhindert; im Gegenteil - er scheint diese  sogar noch zu verstärken.

Selbst für in diesem Bereich  beschäftigte  Profis ist es nicht leicht, nur einigermaßen und aktuell den Überblick zu behalten. Immer wieder sind Zusammenhänge, Anspruchs-voraussetzungen, Bearbeitungsabläufe und -zuständigkeiten  schwer nachzuvollziehen, daß viele Anspruchsberechtigte laut dem bestehenden System der sozialen Sicherung keinen Antrag auf Leistung stellen. Hinzu kommt das Narrativ „dem Staat nicht zur Last fallen“  zu wollen oder auch aus Gründen der  eigenen Scham. Und zu guter Letzt kommt der in einzelnen Behörden immer noch herrschende Korpsgeist hinzu: „Du bist der Bittsteller – wir diejenigen die Leistungen gewähren oder versagen“.

Ein Zwischen-Fazit

Es gibt Armut in Bayern -   in mehreren Teilbereichen nimmt sie zu und verfestigt sich.
Wie ist mit diesem sozialen Thema umzugehen, welche Konsequenzen sollten gezogen werden, welche Forderungen müssen auf den Tisch? Es stellt sich gesellschaftlich also die Frage, ob man das Auseinandertriften weiter stillschweigend wegdrückt, negiert oder ob es Initiativen gibt und braucht, die die Frage Armut und Reichtum – Verteilungsgerechtigkeit – auch in Bayern stellen.


Ein Ausblick

Im nachfolgenden Teil der isw-Reihe geht es um eine möglichst umfassenden Überblick zu den Themen Armut/ Armutsgefährdung in Deutschland und in Bayern, und eine vertiefende Darstellung  der Entwicklungen von  Altersarmut.

Im dritten Teil sind u. a.  Ausführungen zu erkennbaren neueren Formen und Erscheinungen von Armut vorgesehen. Zudem sollen Antworten auf die Frage gegeben werden: Was sagen denn andere Akteure aus dem soziapolitischen Bereich wie z.B. die Paritäter, Diakonie, Gewerkschaften, VdK, DKSB, zum Thema Armut in Bayern.

In einem abschließenden vierten Teil soll es um mögliche Schlussfolgerungen im Umgang mit der Frage von Armut/Armutsgefährdung. „Weiterführenden Hinweise auf nationaler wie bayernweiter Ebene“ sind in einem Anhang vorgesehen.

Armut im Alter – Armut in Bayern (Teil II)

Zur sozialen Situation im Alter – Armut im Alter in Bayern Teil III

 

Angaben zum Autor
Helmut Türk-Berkhan, Sozialarbeiter, Beratung, Begleitung und Förderung von Menschen in materiellen Notlagen  Selbsthilfegruppen Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, Armut; Ämterlotsen, Rechtsambulanz, Dolmetschernetzwerk, Tafeln, Selbsthilfeleitfäden. Seit 1973 Gewerkschafter, nebenberuflich über 25 Jahre Dozent an der Kath. Hochschule München und versch. Bildungseinrichtungen in Oberbayern; Mit-Autor der isw-wirtschaftsinfo 62