Mit überwältigender Mehrheit hat die Bundestarifkommission öffentlicher Dienst (BTK) das Tarifergebnis für die rund 2,3 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen vom 25. Oktober angenommen. 86 Kolleg*innen stimmten am 24. November 2020 mit Ja, dazu gab es jeweils eine Nein-Stimme bzw. eine Enthaltung. So ist es auf der Internetseite des ver.di-Fachbereiches für die Beschäftigten von Bund und Ländern zu lesen. Da kann man sich durchaus mal verwundert die Augen reiben. Mit diesem Beschluss ist der formelle Teil der Tarifrunde 2020 für den größten Teil des Öffentlichen Dienstes abgeschlossen. Eine wirklich ernsthafte inhaltliche Debatte mit entsprechenden Wertungen und Schlussfolgerungen dürfte in den Betrieben gerade erst begonnen haben, eine Debatte, die sich in dem Votum der BTK sicherlich nicht widerspiegelt.

Der materielle Kern des umfangreichen Abschlusspaketes sieht vor, dass zum 1. April 2021 die Tabellenentgelte um 1,4 Prozent, mindestens jedoch um 50 Euro, erhöht werden und ab dem 1. April 2022 um weitere 1,8 Prozent. Zwar wurden unter den gegebenen Bedingungen durchaus Erfolge erzielt, so im Pflegebereich mit Zuwächsen bis u 10%. Unter dem Strich stehen aber eine Nullrunde bis April 2021, eine Laufzeit von 28 Monaten und durchschnittliche Lohnerhöhungen zu Buche, die gerade einmal die zu erwartenden Inflationsraten in 2021 und 2022 ausgleichen werden. Gemessen an den eigenen, vorgegebenen Zielen (4,8% Tariferhöhung bei einer Laufzeit von 12 Monaten!) sind die Ergebnisse für die 2,3 Millionen betroffenen Beschäftigte doch eher bescheiden und bewegen sich sehr nahe am Arbeitgeberangebot. Zu befürchten ist auch, dass die Arbeitgeber den bis zum 31. Dezember 2022 geltenden Abschluss als Stillhalteabkommen, gerade auch über die Bundestagswahlen 2021 hinaus, missbrauchen werden.

Es war eine Tarifrunde die unter den regierungsamtlich verfügten Corona-Bedingungen stattfinden musste, in der die Solidaritätsbekundungen auf den Balkonen durch eine Neiddebatte, befeuert durch die Medien, bzgl. der angeblich so sicheren Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst abgelöst wurde. Und es war eine Tarifrunde die m.E. die Frage aufwirft, ob die tarifpolitische Strategie von ver.di noch zeitgemäß ist. Zu reflektieren ist im Zusammenhang mit dieser Tarifrunde auch der Fakt, dass bei den Gewerkschaften insgesamt die aktuelle Rezession tiefe Spuren hinterlässt. Der Organisationsgrad schwindet in teils rasantem Tempo, die Mitgliedsbeiträge, mit denen u.a. die Streikkassen gefüllt werden, sinken und bei ver.di sind nicht wenige Ressourcen für eine interne Umstrukturierung gebunden. Es stellt sich hier nicht nur für ver.di die Frage nach der künftigen Organisationsmacht und der damit einhergehenden Mobilisierungsfähigkeit, verbunden mit den noch vorhandenen, aber ebenfalls geschwächten gesellschaftlichen Machtressourcen. Die Ursachen hierfür müssen innerhalb von ver.di und den anderen DGB Gewerkschaften ohne Tabus analysiert und aufgearbeitet werden. Aus dieser Analyse müssen entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden, für eine zukunftsfähige tarifpolitische Strategie in Verbindung mit einer gesellschaftspolitischen Vision.

Als Diskussionsgrundlage hierfür bietet bspw. der tarifpolitische Antrag A100 „Gute Arbeit und Gute Dienstleistungen zukunftsgerecht gestalten – betrieblich, tariflich und politisch“ an, der auf dem letzten Bundeskongress von ver.di 2019 verabschiedet wurde, eine mehr als tragfähige Basis. In diesem Antrag sind viele zu realisierende Punkte benannt, die zum Teil während der Corona-Krise schonungslos an die gesellschaftliche Oberfläche gespült wurden. Da wird zum Thema Gute Arbeit fast nebensächlich formuliert: „die Aspekte Guter Arbeit (sind) in Tarifauseinandersetzungen quer über alle Branchen mit einer strategischen Kommunikation und Außendarstellung nach außen (zu) bündeln.“  Dies ist gerade in der aktuellen, in ihren Auswirkungen noch langanhaltenden Corona-Krise und den zu erwartenden sozialpolitischen Angriffen der Kapitalseite auf die Lohnabhängigen und die Ungleichheit der Verteilung der Belastungen, unabdingbar. In der Wochenzeitung „der Freitag“ vom 26.11.20 ist bzgl. der zu erwartenden Folgen der Corona-Krise unter der Schlagzeile „Die Profiteure lächeln“ zu lesen: “Wir haben es mit einer systemischen und nicht zufälligen oder vorübergehenden Ungleichheit zu tun. Sozialpolitische Reformen zu ihrer Abmilderung sind dabei den selbst gemachten Sachzwängen kapitalistischer Weltmarktkonkurrenz unterworfen. Dieser Wettbewerb wird nun aber gerade über die Höhe von Lohnkosten, Einkommen, Besteuerung von Kapitalerträgen, Flexibilität der jeweiligen Arbeitsmärkte, also über die Standortkonkurrenz ausgefochten … Solange dies Zusammenhänge nicht in den öffentlichen Diskurs gebracht werden, bleiben sie undurchsichtig.“ 

Ein solcher öffentlicher Diskurs ist längst überfällig und die Gewerkschaften hätten hier eigentlich eine zentrale Funktion bei der Organisation einer solchen Debatte. In dem genannten Antrag von ver.di heißt es hierzu: Es „muss der Kampf um den hegemonialen gesellschaftlichen Diskurs geführt werden. Es gilt, neoliberale Gemeinplätze zu hinterfragen, die gemeinsamen Interessen von Beschäftigten und Bürger*innen deutlich zu machen, die gesellschaftliche Bedeutung sozialer Dienstleistungen zu vermitteln und somit eine andere, emanzipatorische, humane und soziale Entwicklung zu befördern. Diese Ebenen müssen gemeinsam gedacht und die Kämpfe auf den verschiedenen Ebenen engstens miteinander verwoben werden. Dazu müssen Fachbereiche und Fachgruppen ihre Tarifpolitik mit den Ebenen verbinden. ver.di ist eine Gewerkschaft.  Hier nimmt eine tragende Säule einer zukunftsfähigen tarifpolitischen Strategie, die in ihrer Bedeutung und Wirkmächtigkeit nicht zu unterschätzen ist, zumindest programmatisch Gestalt an. Getragen wird sie von dem Gedanken, dass Tarifpolitik immer auch als gesellschaftspolitisches Ereignis zu begreifen und entsprechend gemeinsam zu handeln ist, nach dem Motto „Nur gemeinsam sind wir stark!“. Nur wenn die schwindende gewerkschaftliche Organisationsmacht in den einzelnen Fachbereichen von ver.di und der Einzelgewerkschaften im DGB gebündelt wird, können zukünftig noch substantielle tarif- und gesellschaftspolitische Erfolge gerade in den industriellen und öffentlichen Schlüsselbereichen erkämpft werden. In dem genannten ver.di Antrag wird auch das Thema Arbeitsschutz behandelt und es wird hier das staatliche Vollzugsdefizit bei der Umsetzung des Arbeitsschutzes anprangert und gefordert, dass insbesondere die Gewerbeaufsicht personell mindestens zu verdoppeln ist und fehlende Gefährdungsbeurteilungen viel schärfer zu sanktionieren sind. Die deutschen Corona-Schlachthöfe lassen grüßen.

Es finden sich in dem Antrag auch Forderungen zum Ausbau der Tarifbindung wieder. Es ist sogar von „Häuserkämpfen“ die Rede, ebenso werden Forderungen zur Stärkung und zum weiteren Ausbau der Mitbestimmung angesichts der sich rasant ändernden Arbeitswelt und zur zukunftsgerechten Gestaltung von Dienstleistungen formuliert. Weiterhin wird das Thema Arbeitszeitverkürzung behandelt. So müsse die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich in ver.di breit diskutiert werden. Dabei kann es hier nicht mehr um die Frage des ob gehen, sondern um die Frage des Wie und des Wann es zu einer weiteren kollektiven Arbeitszeitverkürzung kommen soll bzw. kommen muss. Hier sollte man sich der Debatte, die gerade in der IG Metall begonnen hat (4-Tage-Woche), anschließen und diese aktiv unterstützen.

Die Frage der Finanzierung einer solchen Arbeitszeitverkürzung ist angesichts der vielfach belegten dramatischen Vermögensumverteilung zu Gunsten einiger Weniger längst geklärt. Dieser Umverteilungsprozess wurde durch die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und ihrer Agenda-Politik erst richtig in Gang gesetzt. Diese andauernde und sich verschärfenden Umverteilung, ob nun betriebs- oder gesellschaftspolitisch gesehen, kann in der Corona-Krise nur noch durch eine entschiedene Gegenwehr der Lohnabhängigen und ihrer Gewerkschaften im Bündnis mit den Sozialverbänden, den Klimaaktivisten, der Friedensbewegung und anderer sozialer Bewegungen aufgehalten und umgekehrt werden.Wer dies nicht erkennt oder erkennen will, braucht sich über ein weiteres Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Strömungen weder zu wundern noch heuchlerisch zu empören.

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 26.11.20 führt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hierzu folgendes aus: „Es geht an vielen Stellen darum, inwieweit soziale Ungleichheit und Desintegrationsprozesse die Gesellschaft zerstören. Je größer die soziale Ungleichheit ist, desto höher sind die Gewaltquoten und andere Zustände, die gesellschaftszerstörend wirken. Und weiter: „Die Arbeitsverhältnisse spielen natürlich eine große Rolle. Das Prekäre besteht ja nicht nur in schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigem Lohn. Wir stehen vor weitreichenden Veränderungen etwa im Hinblick auf die Digitalisierungsprozesse, deren soziale und politische Auswirkungen wir noch gar nicht kennen“. Heitmeyer schlussfolgert fast schon resignativ: „Ich bezweifle, dass wir in Zustände sozialer Sicherheit früherer Zeiten zurückkehren werden. Dafür sind die Veränderungsgeschwindigkeiten zu schnell, die finanzkapitalistischen Logiken werden nicht verändert, und die sozialen und politischen Effekte sind vielfach unberechenbar.“ Aus dieser Erkenntnis muss die Einsicht in die Notwendigkeit eines großen außerparlamentarischen Bündnisses erwachsen mit den bereits genannten Akteuren für einen sozial-ökologischen Umbau, der diesen Namen auch tatsächlich verdient. Hierzu müsste gerade in der Corona-Krise geklotzt und nicht länger gekleckert werden! Die programmatischen Grundlagen hierfür sind nicht nur bei ver.di schon längst vorhanden, es fehlt an einer entschiedenen Umsetzung der eigenen gewerkschaftlichen Programmatik mit einer klaren Aktions- und Kampforientierung.