In den Prognosen der Wahlforscher zu den US-Präsidentschaftswahlen liegt der demokratische Bewerber Joe Biden Ende Juni 2020 zehn Prozentpunkte vor dem Amtsinhaber Donald Trump. Für Biden würden 54% der US-Wähler stimmen, für Trump 44%. Die liberalen Medien schreien Hurra und feiern die heraufkommende Zeit nach und ohne Trump. Das ist voreilig. Vor vier Jahren waren die Wahlforscher ebenso überzeugt von Trumps Niederlage gegen Hillary Clinton und legten die entsprechenden Zahlen vor. Noch zwei Wochen vor der Wahl verkündeten damals die Wahlforscher, dass 46% der registrierten Wähler Clinton wählen würden, 40% seien für Trump, 3% für die grüne Kandidatin Jill Stein. Trump drehte die Wahl, indem er die eigene Wählergruppe bis zur letzten Person an die Wahlurne brachte und indem er das undemokratische Wahlsystem des „electoral college“ für sich nutzen konnte. So wurde er mit zwei Millionen Wählerstimmen weniger als die Konkurrentin Clinton der 45. Präsident der USA. Ähnliches kann der Welt am 3. Oktober und in den Wochen danach beim Duell Trump-Biden wieder passieren.

Angst und Furcht prägen die Atmosphäre

Die Wahlen 2020 finden in einer Atmosphäre von Unzufriedenheit, Angst und Furcht statt, ein Gemisch, das dem Polterer und Hetzer Trump entgegenkommt. Mit dem Washingtoner Politikbetrieb insgesamt sind 87% der Wähler unzufrieden, der Zustand des Landes versetzt 71% in Ärger, 66% in Furcht. (Diese und die folgenden Zahlen nach Untersuchungen von pewresearch.org) Die Coronavirus-Katastrophe trägt ihren Teil zur dunklen Stimmung bei. Trump leugnet nach wie vor die Gefahren, obwohl die USA Mitte Juli mit 138.000 Corona-Toten die Nationenliste mit weitem Abstand anführen. (Zweiter ist Brasilien mit 75.000 Toten; der Staat New York allein zählt 32.500 Tote, der NY-Stadtteil Queens 6000. Zusammen mit der Bronx (4000) zählen die beiden New Yorker Stadtteile mehr Tote als ganz Deutschland).

Das Land ist schroff gespalten. 37% finden, dass Trump ein guter bis sogar großartiger Präsident ist, 42% finden ihn „schrecklich“. Von Biden erwarten nur 28% eine gute bis großartige Präsidentschaft, 29% denken, er wäre ein schrecklicher Präsident. Es ist die Person Trump, die das Land trennt in eine Gruppe unterhalb der Mehrheit, die für ihn durchs Feuer geht, und eine knapp größere Gruppe, die ihn tief verabscheut. Einen Riesenvorsprung verzeichnet Trump in der Kategorie „energisch“ (16 Prozentpunkte vor Biden), bei „,mutig“ liegen die Bewerber gleichauf, bei den Merkmalen „ehrlich“ (Biden plus 12), „sorgt sich um die Sorgen der normalen Leute“ (Biden plus 13) und „ausgeglichen“ (Biden plus 35) wird Trump bei einem normalen Spielverlauf eigentlich die rote Karte gezeigt. So auch bei den direkt politischen Qualitäten. Biden liegt überall klar vorne, bei den zentralen Kategorien „Management der öffentlichen Gesundheit beim Angriff des Coronavirus“ (plus 11), „Umgang mit den Rassebeziehungen“ (plus 13), „bringt das Land näher zusammen“ (plus 14). Nur bei einem Punkt führt Trump – in der Kategorie „trifft gute Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik“ (Trump plus 3). Das mag nur ein kleines Plus für Trump sein, doch wie sagte der Lehrmeister der politischen Strippenzieher, Bill Clinton: It’s the economy, stupid. 

Trump-Wähler: weiß, männlich, älter, schlechte Bildung –
Biden: Frauen, Jüngere, gute Ausbildung, „color“.

Will man die Wählerschaften der beiden Kandidaten zusammenfassen, so kommt folgendes Bild heraus: Trumps Leute sind überwiegend weiß (53%), 50 Jahre und älter (52%), mit niederem Bildungsgrad (Highschool oder weniger: 52%). Biden-Wähler sind überwiegend Frauen (57%), schwarz (89%), Hispanic (66%), jünger als 50 Jahre (60 – 68%), besser ausgebildet (College = 64%).

Die Konsequenz, die Trump aus diesen Fakten für seinen Wahlkampf zieht, lautet: Konzentration auf die eigene Klientel, Feindseligkeit gegenüber allen anderen, es soll nicht um das Sich-Messen verschiedener Konzepte gehen, der Wahlkampf soll zur Walstatt gemacht werden, der Gegner ist der Feind, der fertig gemacht werden soll. Trump geht es nicht um das Gewinnen neuer WählerInnen, er will seine Leute scharf machen, das politische Feld wird zur Arena eines Kulturkampfes, in dem die Weißen, die Armen, das ländliche Amerika gegen die kosmopolitischen Eliten in den Metropolen und gegen die Migrantenströme und damit für das „alte Amerika“, das wirkliche Amerika stehen, das Vorbild für die ganze Welt zu sein hat: America first.

Die Entscheidung fällt in den battleground states und dann im electoral college

Dieser grauenvolle Treppenwitz der Weltgeschichte, dass ein mafioser Milliardär aus Manhattan sich aufspielen kann als Retter der Verlierer eines globalen Kapitalismus, in dem die USA eine führende Rolle spielen, diese Farce wird 2020 auf die Spitze getrieben. Trump, dessen unsoziale Politik unter anderem dazu geführt hat, dass in diesen Monaten der Pandemie weitere 5,4 Millionen Menschen ihre Krankenversicherung verloren haben (von Februar bis Mai 2020) tritt wieder auf als Rächer der Verlierer. Er konzentriert seine Propaganda auf die sogenannten „battleground states“, die Schlachtfeldstaaten, wo der Wahlausgang noch umstritten ist. Folgende Staaten nehmen diesen strategischen Platz ein: Arizona, Florida, Michigan, North Carolina, Pennsylvania und Wisconsin. 21 Staaten gelten als sicher für „blau“, die Demokraten, 24 als sicher für „rot“, die Republikaner. In den sechs umkämpften Staaten geht es um 81 Mitglieder des 538 Personen umfassenden „electoral college“, das den Präsidenten wählt.

Der Prozess im electoral college

Der Präsident der USA wird nämlich nicht direkt gewählt, sondern in zwei Schritten. Zunächst wählen die einzelnen Staaten ihre Wahlmänner und -frauen für das Wahlkolleg, dort braucht der neue Präsident ein Minimum von 270 Stimmen, die absolute Mehrheit des Kollegs. Dieses Zwei-Schritt-Vorgehen sorgt strukturell für eine Bevorzugung der kleineren Staaten.

Rhode Island hat 1,1 Millionen Einwohner und stellt vier Wahlkolleg-Leute. New York hat 29 Millionen Einwohner, müsste also fast das Dreißigfache der Vertretung von Rhode Island schicken: fast 120 Wahlmänner und -frauen. In Wahrheit sind es aber nur 29. Trumps Klientel – der weiße, ländlich geprägte, weniger qualifizierte Bevölkerungsteil – hat also ein vielfaches Wahl-Gewicht gegenüber der kosmopolitischen Großstadt. Der Wähler von North Dakota schlägt für das Wahlkolleg dreifach mehr zu Buch als der Wähler aus New York. Schaut man sich die battleground states genauer an, sieht man, dass die rechten Themen Immigration und Globalisierungsverlierer hier besonders ziehen. In Richtung Trump.

Wie kommen die Kandidaten im Wahl-Kollegium auf das Minimum von 270 Stimmen? Die red states bringen laut Wahlforschern bisher 220 Stimmen auf die Waage. Es fehlen also 50 zur nötigen absoluten Mehrheit. Die battlegroundstates zusammen bringen 81 Stimmen, Florida mit 29 und Pennsylvania mit 20 die meisten. Für den, der am Wahlabend mitzählen will: Arizona 11; Michigan 16; North Carolina 15; Wisconsin 10. Die Trump-Maschine wird zielgerichtet auf die entscheidenden Regionen und Wählergruppen losgehen. 

Gibt „Black Lives Matter“ den Ausschlag?

Trumps Verhältnis zu den Wählern war bislang weitaus positiver als das seines Kontrahenten Joe Biden. Während 76% der Wähler für Trump ausdrücklich wegen seiner persönlichen Qualitäten sind, und nur 24 %, weil sie gegen Biden sind, so sind für Biden wegen seines persönlichen Profils nur ganze 33% seiner Wähler. Trump zieht in seinem Milieu mehr Menschen an als Biden in seinem. 

Dennoch ist der Wahlausgang nun offen. Zwar ist nicht die Zuneigung zu Biden gewachsen, doch hat der Abscheu gegenüber Trump neue Höhen erreicht. Und die Bewegung „Black Lives Matter“ („Schwarze Leben zählen“) hat einen mächtigen Sog über die Tage der ersten Betroffenheit hinaus entwickelt. Jesse Jackson, seit sechzig Jahren in der ersten Reihe gegen Rassismus, Militarismus und soziale Ungerechtigkeit, zählt auf, dass die Demos 15 bis 26 Millionen Menschen aller Arten von Rassen und Farben an 2.500 Plätzen auf die Beine brachten. So viele wie nie. Jackson bilanziert: „Eine neue Generation des Protests birgt ein großes Versprechen für Amerika.“

Das Versprechen fängt an mit einem Nein zu Trump.