Mit dem gewaltfreien Zusammenbruch des sich als Realsozialismus verstehenden Ostblocks und der damit einhergehenden Auflösung dessen Warschauer Militärvertragsbündnisses lag für die USA wie den gesamten Westen klar auf der Hand: Sie waren als die Sieger aus dem Wettstreit der sich antagonistisch gegenüberstehenden Gesellschaftssysteme hervorgegangen, der die internationale Ordnung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges maßgeblich geprägt hatte. Von dieser Siegerpose getragen, verkündete der seinerzeitige US-Präsident George Bush senior in einer salbungsvollen Rede vor den beiden Kammern des US-Kongresses im Herbst 1990 sogleich auch den Beginn einer neuen Ära; „einer Ära, in der die Völker der Welt, Ost und West, Nord und Süd, prosperieren und in Harmonie leben können ,… in der der Starke die Rechte des Schwachen respektiert“. Für den US-Politologen Francis Fukuyama war mit der Implosion der UdSSR und des von ihr angeführten antiwestlichen Blocksystems sogar das Ende der Geschichte erreicht. Und die von US-neokonservativen Think Tanks vorgelegten strategischen Konzepte definierten fortan das 21. Jahrhundert als das der USA – nämlich als so genannte Pax Americana. Statt sich jedoch auch - wie ihr einstiger östlicher Gegenspieler - als Militärbündnis aufzulösen, wurde der von den USA angeführten NATO nun die Aufgabe der Durchsetzung dieser Pax Americana zuteil. Anfänglich ging es für die NATO – quasi als Ersatz für das verlorene Feindbild - um die Notwendigkeit des Kampfes gegen den islamistischen Terrorismus. Mit der auf ihrem Gipfeltreffen Ende Juni 2022 in Madrid verabschiedeten neuen Strategie steuert sie jedoch ganz ungeniert auf eine Konfrontation mit China zu. Sowohl ökonomisch als auch auf militärischem Gebiet; indem der Wirkungskreis der NATO bis hin zum Indopazifik ausgedehnt werden soll. Eben, weil das militärisch und wirtschaftlich aufstrebende China aus US-Sicht die größte Herausforderung darstellt. Als eine willkommene Rechtfertigung dafür dient der von Russland am 24. Februar 2022 völkerrechtswidrig vom Zaune gebrochene Krieg gegen die Ukraine. Wie diese Neue NATO-Strategie, so werden auch die G7-Gipfelbeschlüsse im deutschen Elmau davon geleitet, die USA und mithin den Westen als das Bollwerk einer regelbasierten internationalen Ordnung und der Verteidigung solcher ausdrücklich im westlichen Sinne verstandener Werte, wie Demokratie und Rechtstaatlichkeit, zu behaupten.
Wie sich jedoch in den zurückliegenden drei Jahrzehnten gezeigt hat, stößt die westlicherseits angestrebte Pax Americana auf immer gravierendere Widerstände. Bei denen es in der Hauptsache um die Frage Monopolarität oder Multipolarität geht. Und damit steht zugleich auch die Frage der geopolitischen Hegemonie im Raum. Ob also westlichen Interessen eine Vormachtstellung vorbehalten bleibt und mithin westliche Wertesysteme von universeller Bedeutung sind? Oder inwieweit die Schwellen- und Entwicklungsländer, die zusammengenommen bekanntlich die Mehrheit der Weltbevölkerung repräsentieren, in der Lage sind, nicht mehr in erster Linie Objekt des internationalen Geschehens zu sein? Das heißt, vor allem auch als Subjekt zu fungieren, indem sie über eine gleichberechtigte Mitsprache bei der Ausgestaltung der Weltordnung sowie der bestehenden internationalen Institutionen verfügen. So abwegig es westlicherseits auch erscheinen mag: Nicht wenige Analysten sehen aus dieser Perspektive heraus in dem russländischen Ukraine-Krieg sogar jenen geopolitischen „Game Changer“, mit dem das Ende des Hegemonie-Status der USA eingeleitet werden könnte. Wie beispielsweise auch der China-Experte Sebastian Hellmann von der Universität in Trier, der mit diesem Krieg zugleich auch eine geoökonomische Zeitenwende gekommen sieht.
Der globalstrategische Anspruch der USA
Von dem Bewusstsein geleitet, mit dem Wegfall des Ostblocks 1990 einen historischen Sieg errungen zu haben, steht für die USA völlig außer Frage, dass ihr die alleinige Hegemonierolle in der Welt gebühren sollte. Nicht nur alle ihre Präsidenten, gleich welcher politischen Coleur, haben bislang keinerlei Zweifel daran gelassen; selbst, wenn die jeweiligen Begründungen etwas differierten. So wartete Ex-Präsident George W. Bush mit dem klaren neokonservativen Paradigma - Stabilität durch Hegemonie - auf. Wonach es der Welt besser gehe, wenn die USA als einzig verbliebene hegemoniale Supermacht für weltweite Ordnung sorgten. Und somit hatte er zugleich auch klargestellt, wie die von seinem Vater und Vorgänger im Präsidentenamt verkündete neue Ära dann tatsächlich ausgestaltet sein sollte. Während Ex-Präsident Barack Obama diesen Hegemonieanspruch mit der Ausnahmestellung, die die USA nun einmal innehabe, zu rechtfertigen suchte. Oder, wie ihn der amtierende US-Präsident Joe Biden mit der für seine Präsidentschaft ausgegebenen Devise „America is back and ready to lead the world!“ (Amerika ist zurück und bereit, die Welt zu führen) manifestiert. Auch dem US-Kongress wird dieser Führungsanspruch auf verschiedene Weise verinnerlicht. So beispielsweise in dem vom wissenschaftlichen Dienst des US-Kongresses, dem Congressional Research Service, im Januar 2021 vorgelegten Bericht, wonach als außenpolitische Grundsätze die Ausübung „globaler Führung“, sprich Hegemonie in der Welt; die „Verteidigung und Förderung der liberalen internationalen Ordnung“; die „Verteidigung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten“ sowie die Verhinderung, der „Entstehung regionaler Hegemonialmächte in Eurasien“ zu gelten hätten. Ob man es US-amerikanischerseits nun wahrhaben will oder nicht. Aber dieser globalstrategische Führungsanspruch erweist sich schon in verschiedenerlei Hinsicht als äußerst fragwürdig:
- So basiert er auf der irrigen Annahme, wonach die US-Sicht auf die Welt und die dadurch inspirierten Beschlüsse von NATO und G7, die gemäß der von Joe Biden ausgegebenen Order „Demokratien versus Autokratien“ auf eine konfrontative Spaltung im internationalen Geschehen hinauslaufen, überall auf dem Globus in gleicher Weise geteilt würden. Zumal damit noch zu suggerieren versucht wird, dass allein die USA, wie der Westen insgesamt, auf der richtigen Seite der Geschichte stünden. Dass sie es sind, die das Gute verteidigen gegen das Böse - zwar momentan in erster Linie noch in Gestalt von Russland, jedoch bereits mit deutlichem Fingerzeig gen China. Dass im Prinzip so getan wird, als ob die bisherige westliche Suprematie und damit verbundene kolonialistische wie neokolonialistische Ausbeutungsverhältnisse in den Ländern des globalen Südens als reiner Segen empfunden würden. Als ob, westlicherseits gegen missliebige Staaten verhängte Sanktionen dortige betroffene Bevölkerungen nicht als eine Art von Wirtschaftskrieg sähen, welcher vor allem die schwächsten Glieder der Gesellschaft trifft, sondern stattdessen als probates Mittel gewaltfreier Politik betrachteten.
- Auch ist er genau genommen allein schon insofern undemokratisch, als er auf dem anmaßenden Prinzip des „Rechts des Stärkeren“ basiert. Nämlich jene, die Ausnahmestellung der USA begründende Faktoren, darunter solche wie entscheidende und überlegene militärische Schlagkraft, leistungsfähige Wirtschaft, technologische Spitzenkapazitäten, politische Allianzen und nicht zuletzt die so genannte Soft Power, sollen in erster Linie dazu dienen, um den eigenen Interessen weltweit Vorrang einzuräumen. Bis dahin, unter Bruch des Völkerrechts in der Nah- und Mittelostregion gleich mehrere Regime-Change-Kriege anzetteln oder auch im europäischen Kosovo einen völkerrechtswidrigen Krieg führen zu dürfen. Die nun aber entweder vergessen gemacht werden sollen oder aber sogar noch als legitim zu gelten haben. Eben als notwendige Kriege zur Etablierung der internationalen Neuordnung unter US-Ägide. Wie sonst ließe sich erklären, dass für all die, mit diesen Kriegen verbundenen und bis heute nachwirkenden menschlichen und materiellen Zerstörungen westlicherseits zu keiner Zeit je irgendeine Sanktion verhängt worden ist noch zuständige Politiker dafür zur Verantwortung gezogen worden wären. Zumal sich bei alledem immer wieder die ganze Doppelmoral des Westens entlarvt.
- Indem dieser Hegemonieanspruch damit gekoppelt wird, unter Nutzung des Demokratie versus Autokratie-Schlachtrufs gegenüber China einen gefährlichen Konfrontationskurs zu steuern, trägt er nolens volens wesentlich zur Destabilisierung der internationalen Lage bei. So sehr der unverantwortliche Ukraine-Krieg Russlands den USA auch in die Hände spielt, diesen jedoch instrumentalisieren zu wollen, um gleichzeitig auch China als erklärten Hauptrivalen um die Gestaltung der künftigen Weltordnung empfindlich zu schwächen, ist mehr als fahrlässig.Wenn beispielsweise die Geheimdienstchefs vom US-amerikanischen FBI und vom britischen MI5 Anfang Juli 2022 gemeinsam vor die Presse treten, um die chinesische Regierung als die größte langfristige Gefahr für die wirtschaftlichen und nationalen Sicherheitsinteressen des Westens darzustellen, so ist dies fast schon ein Spiel mit dem Feuer. Die im Kontext dessen gegen China vorgebrachten Anschuldigen sind schon deshalb hanebüchen, weil sie die ganze Arroganz westlichen Machtstrebens offenbaren. So sei China vor allem vorzuwerfen, die USA als führende Weltmacht ablösen und bisher mit dem Westen verbundene Staaten auf ihre Seite ziehen zu wollen. Dass bislang mit dem Westen verbundene Staaten durchaus auch von sich aus an engen Beziehungen mit China als aufstrebender Wirtschaftsmacht interessiert sind, passt offensichtlich nicht ins westliche Weltbild. Ganz zu schweigen davon, dass solche gegen China vorgebrachten Anschuldigen eigentlich an die eigene Adresse zu richten wären.Nicht umsonst lassen sich deshalb diesbezüglich auch verschiedene besorgte US-Stimmen verlauten. Seien es nun solche, die davor warnen, Russland durch immer weitere Schwächungen noch enger an die Seite Chinas zu treiben. Wie beispielsweise Wissenschaftler vom Transatlantic Security Program am Zentrum für eine Neue Amerikanische Sicherheit (Center for a New American Security). Deren Erachtens nach dürfe die USA-Strategie nicht allein auf ihrer wieder behauptenden Führerschaft und dem Schutz der Demokratie basieren, weil China und Russland nicht nur durch dieselbe Weltsicht verbunden seien, sondern ebenso auch durch die Komplementierung ihrer Ressourcen und Fähigkeiten. Oder aber auch die Mahnung eines solchen erfahrenen Ex-Politikers, wie des ehemaligen Außenministers Henry Kissinger, in einem Interview mit dem Informationsportal Bloomberg von Ende Juli 2022. Bei allem seinem Verständnis dafür, Chinas Hegemonie verhindern zu wollen, dürfe dies dennoch nicht mit endlosen Konfrontationen zu erreichen versucht werden. Vielmehr erfordere die Geopolitik von heute eine „Nixonsche Flexibilität“, um die bestehenden Konflikte zwischen den USA und China ebenso wie die zwischen Russland und dem Rest Europas zu entschärfen.
- Aus reiner Furcht davor, dass sich in der Geoökonomie wie Geopolitik weitere Wandlungen zum eigenen Nachteil vollziehen, wird die Hegemoniefrage zur Schicksalsfrage auf internationaler Ebene erklärt. Die von den USA und ihren transatlantischen Alliierten angestrebte Monopolarität sieht sich offenkundig durch das sich klar in Richtung Multipolarität ausprägende internationale Gefüge herausgefordert. Welches aber insbesondere der Staatenwelt des globalen Südens sichtliche Chancen einräumt, ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen dementsprechend neu zu kalibrieren. Sodass sich betreffende Staaten des globalen Südens nicht mehr in jedem Falle zur Unterordnung unter die US-amerikanischen Vorherrschaftsansprüche genötigt sehen, sondern zuvörderst eigenen Interessen Rechnung zu tragen vermögen. Und die wiederum bereits strukturell und nahezu weltweit in vielfältiger Weise mit China – wie überdies auch mit Russland – verbunden sind. Wobei die globale Machtverschiebung in Richtung Asien offensichtlich eine bereits unumkehrbare objektive Realität darstellt. Wenn westlicherseits gegenwärtig viel davon die Rede ist, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen; so ließe sich das erklärte US-Streben nach Umkehr dieses begonnenen Multipolarisierungsprozesses auch als Versuch interpretieren, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen.