Der Kampf um die globale Vorherrschaft

In seinem fundamentalen Werk „Kampf der Kulturen“ stellt Samuel P. Huntington fest, dass dominante Macht von „demjenigen, der (sie) ausübt, wirtschaftliche, militärische, institutionelle, demografische, politische, technologische, soziale oder sonstige Ressourcen (verlangt)“[1]. Biden hat das noch zugespitzt: Die USA müssten ihre Überlegenheit darin zeigen, dass ihre Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen – angefangen von der Bekämpfung der Corona-Pandemie bis zur Entwicklung der neuesten Technologien und dem Ankurbeln des Wirtschaftswachstums – den „autoritären“ Gegnern ihre systemische Überlegenheit demonstrieren müssten. Der erste von Huntington genannte Faktor, die wirtschaftliche Potenz, entwickelt sich immer mehr zum Nachteil des Westens. Bis zum Beginn der Corona-Pandemie waren die USA im Verhältnis zu China nach Rechnung des US-Geheimdienstes CIA weit zurückgefallen (in Kaufkraftparitäten gemessen):

Wirtschaftliche Potenz in Kaufkraftparitäten

1. China 23.210 Mio. US-Dollar
2. USA 19.190 Mio. US-Dollar
3. Indien 9.474 Mio. US-Dollar
4. Japan 5.443 Mio. US-Dollar
5. Deutschland 4.199 Mio. US-Dollar
Quelle: CIA: The World Factbook 2019

Dem höheren Wachstum Chinas entsprechend wuchs sein Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt erheblich. Mit Sicherheit ist dieser erhebliche Anteil Chinas an der Weltwirtschaftsproduktion in der Corona-Krise weitergewachsen. Die CIA-Rechnung reicht bis 2017. Danach wuchs China weit schneller als die USA (2018: China 6,9 %, USA 2,2 %). In der Corona-Krise – da sich nach Bidens Worten die Überlegenheit des „westlichen Systems“ zu beweisen hatte – war China unter den Metropolen überhaupt das einzige Land, das wuchs. Die USA hängt also im Krisenjahr 2020 um 5,9 Prozentpunkte hinter dem als „systemischen Rivalen“ bezeichneten China zurück. Deutschland gar 7,3 und der asiatische Nachbar Japan – in den 1980er Jahren die „japanische Herausforderung“ für den transatlantischen Kapitalismus – 7,5 Prozentpunkte.

BIP-Wachstum 2020

1. China plus 2,3 %
2. USA minus 3,6 %
3. Deutschland minus 5,0 %
4. Japan minus 5,3 %
5. Indien minus 10,2 %
Quelle: Schmid, statista

Wenn sich aus dem wirtschaftlichen Ergebnis etwas zur Systemüberlegenheit sagen lässt, dann: China ist weit überlegen. Nach den Prognosen der OECD, der UN-Unterorganisation der entwickelten „westlichen“ Länder, wird diese Überlegenheit anhalten.

BIP-Wachstum

  2021 2022
1. Indien plus 10,2 % plus 5,4 %
2. China plus 7,8 % plus 4,9 %
3. USA plus 6,5 % plus 4,0 %
4. Deutschland plus 3,0 % plus 3,7 %
5. Japan plus 2,7 % plus 1,8 %
Quelle: OECD


Huntingtons erste Ressource für internationale Macht entschwindet den USA mithin immer mehr. Es ist abzusehen, dass China nach diesen Prognosen unumstritten die Nr. 1 der Weltwirtschaft wird, dass seine Entscheidungen deren Verlauf mehr prägen als die in Washington, WallStreet und Silicon Valley ausgegebenen Kommandos. Wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher – ceteris paribus, sagen die Wissenschaftler, was heißen soll, alle wesentlichen Umstände bleiben dieselben. Wie steht es mit der soft power, der weichen Macht, den politisch-kulturellen Werten, die ein System anzubieten hat? Können solche Faktoren die Konkurrenzverluste der USA auf wirtschaftlichem Gebiet wettmachen? Was hat sich durch das Virus verändert, das Trump doch das „chinesische“ genannt hat? Es ist Trump nicht gelungen, China als einen epochalen Übeltäter hinzustellen. Die Financial Times sprach gar von dem „Tschernobyl-Moment Chinas“, in Anspielung auf die Atomkatastrophe in der Sowjetunion 1987. Tatsächlich aber war es den meisten Menschen schnell klar, dass das Virus einen virologischen Ursprung hat, keinen ideologischen. Schaut man sich dann die bisherige „Leistungsbilanz“ der Staaten im Kampf gegen das Virus an, so stehen die USA mit an der Spitze der Minus-Skala. Der US-Nachrichtendienst Bloomberg hat errechnet, wie viele Corona-Tote pro eine Million Einwohner in den einzelnen Staaten zu beklagen sind.

1. UK 1.907
2. USA 1.502
3. Frankreich 1.316
4. Brasilien 1.267
5. Deutschland 899
6. Russland 622
7. Indien 120
8. Japan 66
9. China 3
Quelle: Bloomberg

 

Bis zum 21.3.2021 wurden weltweit über 123 Millionen Viruserkrankungen gemeldet und 2,7 Millionen „an und mit dem Virus“ Verstorbene. Es war und ist die nach den Kriegen mit Abstand größte Herausforderung an die Gesundheitssysteme der Staaten- Und in dieser Schicksalsfrage schneiden die Länder mit „westlichen Wertesystemen“ und westlicher Regierungsform erschreckend schlecht ab. Schon vor der Pandemie waren die meisten Bevölkerungen „mit der Demokratie in unserem Land“ unzufrieden. 2018 erklärten 58 % der US-Befragten diese Unzufriedenheit[2]. Daniele Ganser zitiert eine weitere Gallup-Studie, die den Bevölkerungen in 65 Ländern die Frage stellte: „Welches Land ist heute die größte Gefahr für den Weltfrieden?“ 24 % nannten die USA; Pakistan, die muslimische Atommacht, wurde von 8 % genannt; China ebenso wie Israel, Afghanistan und Nordkorea nannten je 5 %[3]. Vor der Pandemie-Krise hielt die große Mehrheit der Menschen wenig von der westlichen Demokratie und fast fünf Mal mehr Menschen sehen den Weltfrieden mehr gefährdet durch die USA als durch China. Niemand hatte vor der Pandemiekrise eine geringere Wertschätzung unter den Völkern als die USA. Dies wurde durch die verheerende Bilanz der Trump-USA im ersten Jahr der Pandemie noch vertieft. Ende 2020 fragt Allensbach in Deutschland wieder nach der Einschätzung der USA.

Kein anderes Land vertritt seine Interessen so rücksichtslos und egoistisch wie die USA.

  2003 2020
Sehe ich auch so 72 % 72 %
Sehe ich nicht so 13 % 13 %
Unentschieden 15 % 15 %

Wenn jemand sagt: "die Amerikaner sind als Konsum- und Wegwerfgesellschaft ein abschreckendes Beispiel für den Rest der Welt".

  1993 2003 2020
Stimme ich zu 68 % 74 % 80 %
Stimme ich nicht zu 17 % 12 % 8 %
Unentschieden 15 % 14 % 12 %
Quelle: Allensbach


Trotz der umfassenden „Umerziehung“ der Deutschen durch die US-Besatzungs- und spätere Nato-Vormundschaftsmacht waren sich die Deutschen über die Ruchlosigkeit des Großen Bruders stets im Klaren. Bald trat die Verachtung dieses „Vorbilds“ hinzu; diese Geringschätzung wurde auch mit dem neuen Präsidenten nicht anders, im Gegenteil, nie taugten die USA weniger als ein Ideal, dem man nacheifern möchte. Die US-Gesellschaft wirkt vielmehr „abschreckend“. Wenn schon der durch die eigene Erziehung gegangene „kleine Bruder“ Deutschland auf größtmögliche Distanz geht, wie weit mögen sich andere „Partner“ aus dem Zugriff dieser USA befreien wollen. Unter Trump lag die weltweite Ablehnung der Führungsrolle der USA bei 43 %, diejenige Chinas bei 30 %. Auch wenn „middle class Joe“ sich und seinem Land Sympathie-Pluswerte verschafft haben mag, das Negativkonto der USA ist in aller Welt gewaltig. Bidens Anspruch, die USA könnten durch ihr politisches und ideelles Vorbild die Welt anführen, ist aberwitzig. Müssen die USA also – da ihr BIP-Wachstum nicht mit China mithalten kann und ihr kulturelles und politisches Bild die Welt eher das Fürchten lehrt – zu den Waffen greifen, zur Disziplin, in der sie alle anderen überragen? Die USA weisen mit Abstand die höchsten Militärausgaben auf – das 2,7fache des Militärhaushalts Chinas. Fast die Hälfte der hundert größten Rüstungskonzerne hat ihren Sitz in den USA – schon der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower warnte in seiner Abschiedsrede 1960 vor dem unheilvollen Einfluss des „militärisch-industriellen Komplexes“, der sich immer mehr der Politik und der öffentlichen Meinung bemächtige[4]. Die Rüstungskonzerne wickeln auch über die Hälfte aller Waffenlieferungen in Krisenzonen ab und stützen damit despotische Regimes (Beispiel: Saudi-Arabien) und die globale Dominanz des „Westens“. Die USA sind die überlegene Atommacht. Sie haben tausend Militärstützpunkte in fremden Ländern. Die USA haben mehr als 200.000 Soldaten im Ausland stationiert[5]. Die USA sorgen heute schon massiv für die militärische Absicherung ihrer Nr.1-Position. Was also werden sie tun, wenn sie im „Wettstreit der Systeme“ auf dem zivilen Feld entscheidend geschlagen werden?

Wie steht es um den „Kampf der Systeme“?

Auf zwei Faktoren gründet die Unterscheidung der Propagandisten der „westlichen Werte“ in die „demokratischen“ versus die „autoritären“ Gesellschaftssysteme. Das ist einmal der wirtschaftliche Bereich. In der „freien Marktwirtschaft“ des Westens würde der Einsatz der Produktionsfaktoren mit dem Ziel der Gewinnmaximierung durch die einzelnen Unternehmer am effizientesten organisiert. Hingegen würde die staatswirtschaftliche Planung mit ihrer Orientierung an politischen Zielen und ihrer Kontrolle der Marktteilnehmer durch staatliche Behörden zu einer ständigen Fehlallokation der Produktionsfaktoren führen. Auf dem Feld der politischen Systeme wird der Entscheidungsprozess, über allgemeine und freie Wahlen zur höchsten Autorität zu kommen, dem Parlament, und der Schutz des einzelnen vor dem Zugriff des Staates auf der einen Seite gegen die politische Herrschaft einer Partei und deren umfassende Kontrolle der sozialen Beziehungen andererseits gestellt. Dieses zweite, „autoritäre“ System würde im Übrigen mit der Herausbildung einer breiten Mittelschicht in sich zusammenfallen. Denn diese Schicht würde persönliche Freiheitsrechte beanspruchen und auch durchsetzen. Das gelte auch für den wirtschaftlichen Bereich, der ohnehin in einem „autoritären“ System in die „Middle Income“-Falle gerate, aus der er nur herauskomme, wenn die sozialistischen Elemente der Wirtschaftsplanung abgelöst würden durch einen klaren Marktkapitalismus. Das Ausrufen des Systemwettbewerbs ist zugleich die Kampferklärung an ein System, das dem Fortschritt ohnehin nur im Wege stünde[6].

Freier Markt kontra Staatswirtschaft

Dass die Kommunistische Partei den produktiven Einsatz der Produktionsfaktoren behindere, versucht Nicholas Lardy so zu begründen: „Das fundamentale Hindernis, um weitreichende Reformen in China einzurichten, ist die Ansicht der Top-Führerschaft, dass staatliche Unternehmen, mögen sie auch Chinas Wirtschaftswachstum behindern, wesentlich sind dafür, in der Chinesischen Kommunistischen Partei die Position und Kontrolle zu behaupten und die strategischen Ziele der Partei zu erreichen.“ Lardys Vorhalt ist also der, dass die Kommunistische Partei gar nicht das Hauptziel wirtschaftliches Wachstum verfolgt, sondern andere „strategische Ziele“, und das eben würde den optimalen Einsatz von Kapital und Arbeit behindern. Der erste Teil dieser Kritik ist durchaus berechtigt. Tatsächlich stellt die Kommunistische Partei Chinas schon seit Jahren nicht mehr das wirtschaftliche Wachstum in den Mittelpunkt ihrer Politik. Auf dem Parteitag 2017 propagierte Generalsekretär Xi Jinping, „den Sozialismus chinesischer Prägung für ein neues Zeitalter voranzutreiben“ und dabei zu achten auf die „Evolution des Hauptwiderspruchs, vor dem die chinesische Gesellschaft steht: zwischen der unausgewogenen und unzureichenden Entwicklung und den ständig wachsenden Bedürfnissen der Bevölkerung nach einem schönen Leben“. Während der Markt die maximale Rendite des privaten Kapitals als Zielkriterium des Einsatzes der Produktionsfaktoren stellt, hat der „Sozialismus chinesischer Prägung“ das glückliche Leben aller in den Mittelpunkt gerückt. Ob dieses strategische Ziel, das die Politik einführt, tatsächlich eine sozial und ökologisch verantwortliche Wirtschaft am Wachstum hindert, ist zum ersten eine empirische Frage, und die ist seit Jahren eindeutig gelöst: Die chinesische Wirtschaft wächst weit schneller als die „westliche“, wenn die überhaupt noch wächst. Auch die wirtschaftswissenschaftliche Theorie hat diese Frage seit Jahrzehnten erörtert. Zu beobachten war, dass das gesamtwirtschaftliche Wachstum stets differierte vom Wachstum der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. War es größer, wurde der Unterschied auf den technologischen Fortschritt zurückgeführt. Dieser jedoch ist keineswegs unabhängig von den politischen „strategischen Zielen“, im Gegenteil er wird von nichts mehr beeinflusst als von den politischen Entscheidungen (welche Technikfelder werden in welchem Ausmaß staatlich gefördert?). China hat mit seinem ehrgeizigen „Made in China“ die Weichen gestellt, dass das Land bis zum Jahr 2025 in den folgenden zehn Technik-Bereichen Weltspitzenniveau erreicht: 1. Informations- und Kommunikationstechnologie; 2. Robotik und Automatisierung; 3. Luftfahrt, Langstreckenflüge, Flugzeugkomponenten; 4. Marineausrüstung und High-Tech-Schiffe; 5. Moderne Bahntechnik; 6. Fahrzeuge mit neue Energie; 7. Stromerzeugung und -übertragungssysteme; 8. Landwirtschaftsmaschinen und -ausrüstung; 9. Neue Materialien; 10. Pharmazeutika und Medizintechnik[7]. Auf dem Nationalen Volkskongress 2021 wurden sieben Schlüsselbereiche für den nächsten Fünfjahrplan festgelegt: Künstliche Intelligenz und Quanteninformation; die Hirnforschung; der Halbleiterbau; Genforschung und Biotechnologie; klinische Medizin und die Erforschung des Weltraums, der Tiefsee und der Polargebiete[8]. China trifft damit die wichtigsten Technologiefelder, wie unter anderem sein Vorsprung beim Elektroautobau, seine (noch ungenügenden) Fortschritte beim Umweltschutz und seine erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie belegen. Zu diesen positiven strategischen Vorgaben der Politik für die Entwicklung des technischen Fortschritts tritt die Dominanz der Politik über die Wirtschaft als ein höchst positiver Faktor. Denn in den westlichen Demokratien mündet der ebenfalls stattfindende technische Fortschritt nicht in die gesamte Wirtschaft, sondern er wird von den Monopolen eben „monopolisiert“. Die stärksten 5 Prozent der Serviceunternehmen haben 44 % der Produktivitätssteigerung auf sich vereinigt, die restlichen 95 % gerade mal 7 %. Im heutigen Kapitalismus wird weder der technische Fortschritt sinnvoll und ausreichend gefördert, noch wird er auf die gesamte Wirtschaft verteilt, sondern von den Monopolen usurpiert. Für China kommt das „Metzler Asset Management“, zuständig für die renditeträchtige Anlage großen privaten Reichtums, zu dem Schluss: Es „bestehen unseres Erachtens gute Chancen für einen dynamischen und nachhaltigen Wachstumstrend. Ein Indiz dafür ist, dass das Reich der Mitte schon jetzt die Europäische Union bei den öffentlichen und privaten Forschungs- und Entwicklungsausgaben überholt hat. China wird also zunehmend auf den Weltmärkten vertreten sein, und damit die totale Faktorproduktivität schon bald wieder steigern – umso mehr, als die Eigenschaft der digitalen Güter (Sunkenness, Spillovers, Synergies, Scalabity) es sogar erfordern, dass der Staat eine immer größere Rolle übernimmt, damit ein Land die Digitalisierung erfolgreich meistern kann. Die Digitalisierung kommt also dem Chinesischen Wirtschaftsmodell sehr entgegen.

Freie Bürger kontra Staatsdiktat

Die Behauptung, der Westen habe mit seinem Parlamentarismus und seinen freiheitlichen Grundwerten China in den Schatten gestellt, ist schon in seiner Ausgangsunterstellung unbegründet: Es gibt diese Art von demokratischem Ideal nur auf dem Papier. Die westlichen Gesellschaften sind gekennzeichnet von tiefer sozialer Ungleichheit und vom Vermögensund Einkommensstatus hängt der Zugang der Menschen ab zu Leistungen wie Gesundheit, Wohnen, Bildung, Beruf und auch und vor allem zu politischem Einfluss. In den USA hat der Oberste Gerichtshof 2010 entschieden, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung auch für Unternehmen und Verbände gelte. Anschließend entschied das Oberste Appellationsgericht, dass die Political Action Committees (PACs) Spenden in unbegrenzter Höhe annehmen dürfen. Im Februar 2021 gab es in den USA knapp 2.300 solcher PACS, denen über 3,4 Milliarden Dollar zugeflossen waren, und die im Wahlkampf 2020 über 2,1 Milliarden Dollar an ihre Kandidaten verteilt haben. Davon unabhängig gibt es in Washington über 11.000 im Lobbyregister eingetragene Interessengruppen, die über 40 Mitglieder der Regierungsmannschaft Bidens stellen. Der Vermögensverwalter BlackRock allein gab drei seiner wichtigsten Mitarbeiter für die erste Reihe der Biden-Berater frei (s.w.v. S. 21) In den USA gewinnt kein Kandidat, egal ob Senator, Abgeordneter oder Präsident, ohne die Zustimmung und den Geldfluss des großen Kapitals. Von einer freien Wahl, die jeder Bürgerin und jedem Bürger denselben Einfluss mit ihrem Wahlzettel zuwiese, kann keine Rede sein. Auch nicht von einem nur am Gemeinwohl interessierten Abgeordnetenverhalten, wie Anfang 2021 der Skandal der CDU-CSU-Abgeordneten wieder offenbar werden ließ, die in der Pandemiekrise nichts Besseres zu tun hatten als „Provisionen“ für Maskenaufträge aus dem Bundesgesundheitsministerium einzustreichen. Der Unterschied zwischen den USA und Deutschland besteht vor allem darin, dass bis zu diesem Spendenskandal die Bundesrepublik nicht einmal ein Lobbyregister besaß. Die Frage ist, ob China mit seiner Einparteienherrschaft ein größeres Maß an Demokratie herstellt. Volkskongress, Staatsorgane – alle wesentlichen Institutionen der öffentlichen Macht werden von der Kommunistischen Partei geprägt. Die Partei hat sich in den vergangenen dreißig Jahren mehr als verdoppelt und zählt heute knapp 90 Millionen Mitglieder. Sie versteht sich nicht als die Partei der Arbeiterklasse oder der Werktätigen, sondern als Partei der wichtigsten Teile beim sozialen Fortschritt Chinas. Das zeigt sich in der Entwicklung der Mitgliederstruktur.

Von 2005 bis 2016 ist der Anteil der Arbeiter und Bauern an den KP-Mitgliedern von 43,7 % auf 36,9 % zurückgegangen, der Anteil der Hochschulabsolventen stieg von 29,0 % auf 45,9 %. Die prägende Kraft und fast die quantitative Mehrheit kommt der akademischen Elite zu, die selbstverständlich auch der Träger des technologischen Fortschritts ist. Diese Dominanz ist umso größer, als die Erwerbsbevölkerung in China zurückgeht. Waren 2010 noch 13,9 % der Erwerbsbevölkerung „inaktiv“, also Rentner, so beträgt dieser Anteil 2020 20,8 %. In der KP bleibt der Anteil der Rentner mit knapp 19 % seit Jahren unverändert. Das gilt auch für die Partei- und Behördenkader, deren Anteil bei 8,5 % steckenbleibt. Das Hauptziel der Partei ist offenbar die Organisierung der Träger des wissenschaftlichen und sozialen Fortschritts in ihren Reihen. Auch soll offenbar der Zugriff auf die Privatwirtschaft – die aktuell über 60 % der Wirtschaftsleistung produziert, bei steigendem Anteil – enger werden. Binnen eines Jahrzehnts hat die Partei 1,8 Millionen Parteiorganisationen im Privatsektor aufgebaut, ausländische Unternehmen eingeschlossen. Diese Zusammensetzung sagt einiges über die Fähigkeit der KP, den Lauf der Gesellschaft zu kontrollieren und die sozialen Eliten zu integrieren. Sie sagt nichts über die demokratische Qualität der Partei. Eine Mitgliederuntersuchung hat die Mitgliedschaft in fünf Gruppen unterteilt: 1. politische Führungsschicht; 2. Wirtschaftselite; 3. Bildungseliten; 4. Sogenannte „Zuschauer“; 5. Unterschicht. Die vierte und die fünfte Gruppe machen über 90 % der Mitglieder aus und haben nach dieser Studie so gut wie keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Partei. Das Gefühl sozialer Ungleichheit und eigener Ohnmacht erfasst danach die allergrößten Teile der Organisation, die an den Entscheidungen nicht beteiligt sind. Nun ist der Herausgeber dieser Einschätzung, merics = Mercator Institute for Chinese Studies, ein wissenschaftlicher Vorposten des Westens im Kampf der Systeme und seine Behauptungen sind mit großer Vorsicht entgegenzunehmen. Andererseits hat der Partei- und Staatsvorsitzende Xi selbst eine Säuberungswelle gegen Patronagenetzwerke und innerparteiliche Gruppenbildung inszeniert. Allerdings: Die Hunderte Millionen Arme, die dank der Politik der KP aus der Armut geholt wurden, werden ihr chinesisches politisches Verfahren dem plutokratischen System in den westlichen Demokratien mit Sicherheit vorziehen.

Thesen zum Fortgang der Entwicklung in den USA und des „Kampfs der Systeme“

1.) Die Politik von Präsident Biden versucht, sich als Instrument der „working class“ darzustellen, der Arbeiterklasse. Er zollt der Arbeiterklasse rhetorisch seinen Respekt, seine konkrete Politik führt aber keineswegs zu einer strukturellen Verbesserung ihrer sozialen Lage. Er bleibt de facto „middle class Joe“, der das obere Segment der funktionellen Elite bedient, deren Interesse bei dem des großen Geldes angesiedelt ist. Es gibt keine Gesetzesvorschläge zur Besteuerung der großen Vermögen. 2.) Damit vertieft sich die soziale Spaltung des Landes weiter. In den USA erzielen die obersten 10 % einen Anteil von über 85 % des Gesamteinkommens, so viel wie seit siebzig Jahren nicht mehr. Damit wird das Land weiter zerrissen in eine kleine Elite der Superreichen und einen großen Block in der zweiten, dritten und vierten Reihe. Die zweite Reihe sieht sich an das Interesse des großen Geldes gebunden, lebt aber in Angst vor einem sozialen Abstieg. Wenn die Unterschicht zum Existenzminimum getrieben wird und weitere Schichten den sozialen Absturz fürchten, bildet sich – bei weiterem Versagen der Politik – ein anschwellender Strom hin zu rechtsextremen und faschistischen Bewegungen. Die Wiederkehr Trumps oder eines Trump-Surrogats ist mithin wahrscheinlich. 3.) Die Einsicht Bidens, dass universale Herausforderungen wie Klimawandel, Epidemien, Energie- und Rohstoffknappheit sowie die Verbreitung von Atomwaffen internationale Zusammenarbeit über die Systemgrenzen hinweg verlangen, eröffnet eine Chance für die Entwicklung friedlicher internationaler Beziehungen und Kooperation. China plädiert ohnehin für diese Art globaler Zusammenarbeit. 4.) Das Schwinden der Ressourcen der Super-Macht USA ist ein langwieriger Prozess. Die USA kontrollieren mit ihrer Gruppe die Politik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Sie sind in den UN und in der Welthandelsorganisation eine bestimmende Macht. Ihr globales Allianzsystem bedrängt die „systemischen Rivalen“. Der US-Dollar ist die dominierende internationale Währung. US-amerikanische Staatspapiere sind immer noch für viele Kapitalbesitzer in aller Welt die sicherste Anlage. China ist über die Staatsanleihen der größte Gläubiger der USA, zwischen Gläubiger und Schuldner besteht eine symbiotische Finanz-Beziehung. Die neueste Phase des Kapitalismus beruht auf der Bewirtschaftung von Informationen als wesentlicher Quelle der Wertschöpfung. Die großen Silicon Valley-Konzerne verschmelzen mit der Finanzwirtschaft der Wall Street zu neuen Zentren der Ökonomie und des technischen Fortschritts. Alle diese Faktoren sorgen dafür, dass die USA noch eine längere Phase an der Spitze der Weltpolitik stehen. 5.) China steht bei der inneren Entwicklung der Gesellschaft vor schwierigen Problemen. Die Strategie der „dualen Kreisläufe“ verlangt einen entschiedenen Ausbau des inneren Marktes und da vor allem eine Stützung auf den Massenkonsum und eine Konzentration der Investitionen auf Zukunftstechnologien. China will unabhängiger von dem „externen Kreislauf“ werden, sowohl von den Exporten wie den Importen. Angesichts der Drohungen aus den USA werden auch die Rüstungsausgaben erhöht. Bei dieser rigorosen Umstellung der Wachstumsstrategie hat auch China mit dem Problem der sozialen Ungleichheit zu kämpfen. Die unteren 50 % der Einkommensbezieher haben 1990 einen Anteil am Gesamteinkommen von 23 % erzielt; die obersten 10 % einen Anteil von 30 %. 2015 waren die Zahlen: Die Unteren 50 %: 15 %, die Top 10 %: 42 %[9]. Dies wird die Unzufriedenheit derer, die sich nicht als Gewinner der Modernisierung sehen, weiter befeuern. Die Führung der KP wird auf weitere Verbreiterung des neuen „Reichtums“ drängen müssen, nachdem die Armut prinzipiell überwunden ist. 6.) Trotz anhaltender Stärken der USA und wachsender sozialer Probleme Chinas ist das allmähliche Schwinden der Macht-Ressourcen der USA eindeutig festzustellen. Die USA stehen vor der Versuchung, vor dem Verlust ihrer zivilen Mittel der Dominanz die militärischen Mittel einzusetzen, in denen sie auf absehbare Zeit dominieren werden. Zur Hauptaufgabe der Friedenskräfte im eigenen Land und in aller Welt gehört, den kriegstreibenden Kräften in den Arm zu fallen. Zu den Aufgaben einer solchen Friedenspolitik zählt die Zurückweisung der Propaganda, es handele sich bei China und Russland um eine neue Art des „Reichs des Bösen“, wie Reagan damals die Sowjetunion schmähte. China ist vielmehr ein Land, dem die Entwicklung des eigenen Volkes zu einem „glücklichen Leben“ als strategisches Ziel dient, und das deshalb den Krieg mit aller Kraft ablehnt. Die Angebote Chinas zur Zusammenarbeit, zu einer friedlichen Koexistenz der Systeme, sollten angenommen, das US- System der Strafzölle und der militärischen Überfälle und Drohungen abgelehnt werden.


[1] Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Wien 2002, S. 122 [2] Schuhler, a.a.O., S. 116 [3] Daniele Ganser: Imperium USA. S. 20f. Zürich 2020 [4] Dwight D. Eisenhower: The White 965, House Years: Waging Peace. Garden City 165, S.614 [5] Ganser, a.a.O., S. 32ff; Rügemer, Vorwort zur dritten Auflage: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, S. 9 [6] Siehe Schuhler, Wie weit noch bis zum Krieg, S. 89ff [7] Schuhler, a.a.O. S. 125 [8] Süddeutsche Zeitung, 11/2/2021 [9] Wolfgang Müller: Die Rätsel Chinas – Wiederaufstieg einer Weltmacht. Hamburg 2021, S. 56 ff Abramowitz, Alan (2018): The Great Alignment: Race, Party Transformation, and the The Rise of Donald. New Haven Auswärtiges Amt (2020): NATO 2030: Geeint in ein neues Zeitalter. Analyse und Empfehlungen der vom NATO-Generalsekretär eingesetzten Reflexionsgruppe Biden, Joseph (2021): Remarks by President Biden on the American Rescue Plan. Biden, Joseph (2021): Remarks by President Biden at the 2021 Munich virtual security conference. Biden, Joseph (2021): President Biden on Americas place place in the world. Biden, Joseph (2021): Outline Steps to Reform Our Immigration System. Blackwell, Ken (2020): What Does BlackRock’s Prominence in the Biden Administration Mean for Investors? Blackwill, Robert D. / Haris, M. Harris (2016): War by Other Means. Geoeconmics and Statecraft. Cambridge 2016

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus report 124: Das neue Amerika von Biden/Harris.