Berlin - Das Leben von Russen in Deutschland habe sich radikal geändert, war neulich im Tagesspiegel zu lesen. Seit dem Start des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zählte das Bundeskriminalamt rund 500 Straftaten und Delikte gegen russischsprachige Menschen. Sachbeschädigungen, Beleidigungen, Drohungen im Internet und auf der Straße.

In Marzahn gab es einen Brandanschlag auf die Sporthalle der deutsch-russischen Lomonossow-Schule. Auch der Spiegel berichtete. Russinnen und Russen in Deutschland würden „beschimpft, bedroht und drangsaliert“.

Seit der Ukraine-Invasion werden russischstämmige Menschen auch in Deutschland beschimpft, bedroht und drangsaliert. Dabei sind die meisten von ihnen gegen den Krieg. https://t.co/L13oU2jdXk

— DER SPIEGEL (@derspiegel) March 13, 2022

Auf Twitter postete Außenministerin Annalena Baerbock entsprechend: „Wer Belaruss*innen oder Russ*innen in Deutschland anfeindet, der greift nicht nur unsere Mitbürger*innen an, sondern auch die Grundprinzipien unseres Zusammenlebens.“

Der Krieg in der #Ukraine ist Putins Krieg. Wer Belaruss*innen oder Russ*innen in Deutschland anfeindet, der greift nicht nur unsere Mitbürger*innen an, sondern auch die Grundprinzipien unseres Zusammenlebens. Wir halten zusammen. Wir sind stärker als der Hass. pic.twitter.com/r6NXkx7qqG

— Außenministerin Annalena Baerbock (@ABaerbock) March 3, 2022

Gleichzeitig stehen bekannte Russen und Russinnen unter Druck. Sie sollen sich gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin positionieren. Valery Gergiev musste so seinen Posten als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker räumen. Aber Putin-Nähe allein scheint nicht entscheidend zu sein.

Das Royal Opera House in London hat eine Sommersaison mit dem Bolschoi-Ballett gestrichen. Das Montreal Symphony Orchestra verschob drei Konzerte des 20-jährigen Pianisten Alexander Malofeev, obwohl sich dieser öffentlich distanzierte. Auch „nicht prominente, russischsprechende Menschen“, schrieb das Nachrichtenmagazin BR 24 kürzlich, fühlen sich „immer mehr genötigt, öffentlich Stellung zu beziehen“. Allerdings fallen ihre Perspektiven aus der Berichterstattung, auch in Deutschland.

Der Krieg habe all das verändert

Wie gehen Russinnen und Russen in Deutschland mit einem Krieg um, der in Russland keiner ist? Eine „spezielle Militäroperation“ zur „Entmilitarisierung und die Entnazifizierung der Ukraine“ ist dort das Codewort. Denn wie jeder Krieg ist auch dieser ein „Krieg der Informationen“. Er geht über Landesgrenzen hinweg, und Russinnen und Russen in Deutschland sind mittendrin.

So wie Maria (Name durch die Redaktion geändert). Die gebürtige St. Petersburgerin zog im Alter von 17 Jahren zum Studieren nach Deutschland. Mittlerweile wohnt sie seit zehn Jahren hier. Deutschland sei zwar nicht ihre „Heimat“, aber ihr „Zuhause“ geworden. Heimat bliebe St. Petersburg, dort leben ihre Mutter und Großmutter. Wie viele Russinnen und Russen hat Maria Verwandte und Bekannte in der Ukraine. Als Kind verbrachte sie ihre Sommer in Odessa und auf der Krim. Die Ukraine sei eine „zweite Heimat“, erzählt sie. Der Krieg habe all das verändert. Der Kriegsbeginn teilt Marias Leben in ein „Davor“ und „Danach“. Die Tage danach seien wie im Nebel vergangen, erzählt sie. Viele Fragen, viele Telefonate, wenig Schlaf. „Und Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten.“

Engagement in der Flüchtlingshilfe

„Auf anfängliche Apathie folgte bei mir Hyperaktivität“, sagt sie. Demos, Spendenaktionen, Ehrenamt, Hilfsangebote. Sie engagiert sich in der Flüchtlingshilfe und nahm eine Frau mit Sohn aus der Ukraine auf. Mittlerweile habe sie sich etwas beruhigt, ihre Familie telefoniere aber weiter viel zwischen St. Petersburg, Odessa, Charkiw und Kiew.

Was blieben, seien Angst, offene Fragen und das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen. „Für einige hier im Westen bin ich Russlandversteherin, für viele meiner Landsleute bin ich Verräterin. Für mich weiß ich aber: Verräterin bin ich nicht, ich liebe mein Land.“ Sie verurteile die Handlungen der russischen Regierung, die die Macht in ihrer Heimat usurpiert habe. Dennoch sei Russland „viel stärker und langlebiger als Putin“. Das sagte der Schriftsteller Boris Akunin, Maria stimmt ihm zu und umgibt sich mit Menschen, „die in dieser Situation ähnlich empfinden und für dieselben Werte kämpfen.“ In Deutschland sind das vor allem Russinnen und Russen, die eine starke Verbindung zu ihrer Heimat haben.

Wie viele Russen leben in Deutschland?

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts lebten vor Kriegsbeginn gut 235.000 russische und 135.000 ukrainische Staatsbürger in der Bundesrepublik. Die Zahl der russischsprachigen Zuwanderer ist aber sehr viel höher: Migrationsexperten schätzen sie auf etwa 2,2 Millionen. Das Bundesamt nennt sie „postsowjetische Migranten“. Der Begriff orientiert sich am Herkunftsland und nicht an der Sprache. Denn geht es nach der Sprache, werden viele Menschen als Russisch gelesen, die es nicht sind. Russlanddeutsche, zum Beispiel.

Viele Migranten mit russischen Wurzeln kamen vor allem als (Spät-)Aussiedler oder jüdische Kontingentflüchtlinge. Außerdem leben Zehntausende Arbeits-, Bildungs- oder Heiratsmigranten in Deutschland. Einige haben die deutsche Staatsbürgerschaft, andere nicht. Die Gruppe ist also sehr heterogen.

Maria meint, die Einstellungen russischsprachiger Migranten zum Krieg hingen weniger von einer „gemeinsamen“ Vergangenheit ab, als von der Intensität ihrer Beziehungen zum heutigen Russland. Laut Statistik gab es im Jahr 2020 gut 298.000 deutsch-russische Doppelstaatler, 24.000 Menschen hatten zugleich die deutsche und die ukrainische Staatsbürgerschaft. Die Zahl all jener, die in Deutschland ihren zweiten Wohnsitz haben, ist noch schwieriger zu bestimmen. Aber Pendelbewegungen zwischen Moskau, St. Petersburg und Berlin oder München sind nun erst mal vorbei.

Russland ist gesellschaftlich gespalten

Was „die Russen“ über Putins Überfall auf die Ukraine denken, könne man nicht sagen. Russinnen und Russen seien zu gespalten, meint Katja. Sie kam mit 14 Jahren von Russland nach Deutschland, studiert Theaterwissenschaften und liebt Kunst. Damals kam sie mit ihrer Schwester und Mutter. Mit ihnen redet sie über den Krieg.

Ihre Mutter mochte Putin von Anfang an nicht, erzählt sie. Wegen seines vulgären Sprachstils und Humors, aber auch wegen seiner KGB-Geschichte. Was in der Ukraine geschehe, sehe die Familie kritisch. Frauen, meint Katjas Mutter, gebären keine Kinder, damit diese wegen der Manie weniger Personen sterben. Egal, ob man es Krieg nennt oder nicht.

Ähnlich wie Katja hat auch Maria Glück. Auch sie stehe mit ihrer Familie auf einer Seite, erzählt sie. Ihre Oma informiere sich hauptsächlich durch das Staatsfernsehen, sei aber trotzdem gegen Krieg. Bei vielen Freunden sei das anders, durch ihre Familien gingen Risse. „In Russland herrscht gerade eine gesellschaftliche Spaltung, die es schon lange nicht mehr gab, nicht einmal beim Krim-Anschluss oder bei der Beteiligung Russlands an den Kämpfen in Donbass.“

Maria beschäftigt sich aber auch viel mit dem Russlandbild in den deutschen Medien. Schon vor dem Krieg sei das einseitig und schemenhaft gewesen. Jetzt konsumiere sie zu russischen Themen fast ausschließlich „Original-Quellen“, ohne den deutschen „Mainstream-Filter“. Das sei wichtig, um wirklich Einblick zu bekommen. Sie sagt: „Wer sich über Russland aus dem Spiegel, der FAZ oder der Süddeutschen informiert, kriegt zwangsläufig eine westliche Perspektive. Um Russland in ihrer Eigenart und Komplexität zu begreifen, sollte man die westliche Brille ablegen und andere Maßstäbe anlegen.“

Maria empfiehlt die Plattform dekoder.org. Die übersetzt Artikel aus Nowaja Gaseta, deren Chefredakteur Dmitrij Muratow den Friedensnobelpreis erhielt, und den Internetzeitungen Meduza und Republic. In den letzten Monaten, sagt sie, sei der Ton in Russland schärfer, die Drohungen lauter und die Feindbilder klarer geworden. In den Kreml-treuen Medien tauchten immer wieder Begriffe wie „Säuberungen“ und „Landesverräter“ auf.

Allerdings tobt der Krieg der Informationen auf allen Seiten. Auch in Deutschland ist schwer einschätzbar, welche Informationen glaubhaft und legitim sind. „Wir wissen auch nicht, was wir denken oder glauben sollen, aber niemand will Krieg“, fasste es eine Russin in Marzahn in einem Interview kürzlich zusammen. Das ist wohl der Kern der Wahrheit.

Sanktionen und Dämonisierung

Tanja ist in Russland geboren und aufgewachsen. 2017 kam sie für ihren Master in Sprachwissenschaften nach Deutschland. Mittlerweile hat sie einen Job und arbeitet Vollzeit. Auch sie engagiert sich in der Flüchtlingshilfe, auch sie hat Freunde in der Ukraine. „Jedes Mal frage ich mich“, erzählt sie, „wie es sein kann, dass ich ihnen noch zu Weihnachten meine Lieblingsbars in Berlin gezeigt habe. Jetzt sprechen wir über Barrikaden, die in ihrer Heimatstadt gegen den Angriff errichtet werden.“ Sie mache sich aber auch große Sorgen um die Menschen in Russland.

Die Sanktionen, die härtesten der Geschichte, werden vor allem Russinnen und Russen treffen, die eh schon wenig haben. Viele Firmen haben ihre Russland-Geschäfte gestoppt und Filialen geschlossen. Tausende Menschen habe ihre Jobs verloren und können ihre Kredite nicht zurückzahlen. Aus Armut wird so Existenzangst. Auch Medikamente und medizinische Geräte werden teurer und knapp. Für viele Arzneistoffe gibt es keine Alternativen in Russland, einige Therapien und Operationen sind bereits jetzt unmöglich. Das sind einige Realitäten der Sanktionen gegen Putins Krieg.

Auch Maria und Katja teilen diese Sorgen. Sie begrüßen die weltweite Solidarität mit der Ukraine. Es macht ihnen aber Angst, „wie alles Russische pauschal boykottiert, verboten, geächtet und dämonisiert wird“. Vom russischen Kunst- und Kulturerbe über russische Katzen bis hin zu Athleten bei den Paralympics. Auch längst verstorbene Künstler stehen auf dem Prüfstand. Das Cardiff Philharmonic in Wales nahm jüngst den russischen Komponisten Pjotr Tschaikowsky aus dem 19. Jahrhundert aus seinem Repertoire.

„Dämonisierung und Isolation lösen aber keine Probleme“, meint Maria, „sie erzeugen welche.“ Immerhin differenzierten deutsche Medien meist (nicht immer) zwischen „Putin“ und „den Russen“. Der Krieg sei Putins Krieg, das sei positiv. Auch die russische Opposition werde ernst genommen und es werde auf Risiken des Protests in Russland aufmerksam gemacht. „Awtozak – der Gefangenentransport – gehört zum Stadtbild wie Lenin-Denkmäler“, erzählt sie, das kann man nicht schönreden. Dennoch fehlten auch in Deutschland Stücke in der Berichterstattung. Selbstkritik zum Beispiel, und ein Hinterfragen eigener Pauschalisierungen. Auch bliebe zwischen Putin und Moskau oder dem Kampf der Opposition kaum Platz für normale Menschen und deren Leben in Russland.