Die Haltung zur Russischen Föderation ist in Deutschland umstritten. Auch im linken Spektrum und in der Friedensbewegung. Und das keineswegs erst seit dem Jahr 2014, dem Beginn der sogenannten Ukrainekrise. Mit der Selbstauflösung der Sowjetunion 1991 und dem Ende der Blockkonfrontation schien sich das Tor zu einer Periode des Friedens und der Partnerschaft geöffnet zu haben. Aber diese Hoffnung zerstob sehr schnell. Zu unterschiedlich waren die geopolitischen und geoökonomischen Interessen zwischen Russland und dem transatlantischen Westen, zu verschieden die historisch gewachsenen politischen Kulturen. Der Weg Russlands in den Kapitalismus führte zunächst durch einen historischen Niedergangsprozess ohnegleichen, der den Westen ermutigte, dem Land eine Partnerschaft auf Augenhöhe zu verweigern. Die Krise in der und um die Ukraine ab dem Jahr 2014 war nicht die Ursache der heutigen Konfrontation, sondern die Folge einer schon lange zuvor begonnenen Fehlentwicklung in den Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union (EU). Der bis heute anhaltende Streit über die völkerrechtliche Bewertung der Abtrennung der Krim von der Ukraine (als Sezession oder Annexion) verdeckt den dahinterliegenden langfristigen Charakter des Konflikts zwischen Russland und dem Westen.
Langfristiger Charakter des Konflikts zwischen Russland und dem Westen
Das Verhältnis des transatlantischen Westens zu seinem großen Nachbarn im Osten gilt seit dem Beginn der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges als Schlüsselproblem für die europäische Sicherheit. Diese Rivalität eskalierte unter den Bedingungen des Atomzeitalters zur existenziellen Bedrohung für die gesamte Menschheit. Seit den 1950er Jahren besaßen beide Seiten die mehrfache Fähigkeit zur Totalvernichtung („Overkill-Fähigkeit“) der menschlichen Zivilisation mittels Kernwaffen. Es bedurfte eines mehr als zwanzigjährigen Erkenntnis-prozesses beider Seiten, dass ein Kernwaffenkrieg nicht zu führen und zu gewinnen ist. Diese Erkenntnis fand im Jahr 1975 ihren völkerrechtlichen Ausdruck in den Prinzipien der friedlichen Koexistenz, die in der Schlussakte von Helsinki enthalten waren. Seitdem mahnte der Nestor der europäischen Entspannungspolitik, der SPD-Politiker Egon Bahr, unermüdlich und fast wortgleich: „Frieden und Stabilität in Europa sind nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit Russland möglich.“ Wie alle Welt weiß, scheiterte das sozialistische Lager an seinen inneren Widersprüchen. Es waren vor allem die Defizite im Bereich der Demokratie und Menschenrechte sowie der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, die 1991 zur Selbstauflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion führten. Die NATO und der gesamte transatlantische Westen verstanden sich als Sieger der Geschichte. Das erweist sich immer wieder als grundlegender Irrtum unserer Zeit. Russland entließ – mehr oder weniger gewollt – zwar 1991 seine sowjetischen Teilrepubliken in die Unabhängigkeit, blieb aber der flächengrößte Staat der Welt. Allein durch seine enorme Größe und bi-kontinentale Lage spielt Russland die Rolle eines Mittlers zwischen Europa und Asien. Russland verfügt nach wie vor über einen großen Reichtum aller beliebigen Rohstoffressourcen. Vor allem aber ist Russland nukleare Großmacht geblieben. Seine welthistorische Rolle als Siegermacht im zweiten Weltkrieg wurde in der Nachkriegsordnung der Vereinten Nationen als Vetomacht des Sicherheitsrates festgeschrieben. Daran kann auch seine relative ökonomische Schwäche im Verhältnis zum transatlantischen Westen nichts ändern. Was aber insgesamt in der Wahrnehmung des Westens ignoriert wird: Russland hat in den letzten 500 Jahren seiner gesamten gesellschaftlichen Entwicklung niemals Deutschland – oder dessen historische Vorgänger – militärisch angegriffen. Russland dagegen ist schon zweimal Opfer deutscher Angriffskriege geworden. Vor allem aber wird in der Europäischen Union weitgehend ausgeblendet, dass die USA ein geostrategisches Interesse daran haben, partnerschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu verhindern. Wer das nicht erkennt, anerkennt oder glaubt, sollte Brzezinskis Buch „Die einzige Weltmacht“[1] aus dem Jahre 1997 lesen oder zumindest die Positionen des „Chicago Council on Global Affairs“ (2015) zur Kenntnis nehmen. Dann wird er die gegenwärtige Außenpolitik der USA – und nicht erst seit Trump – besser verstehen, die hartnäckig versucht, einen Keil zwischen die EU und insbesondere zwischen Deutschland und Russland zu treiben. Aus Sicht der offiziellen US-Außenpolitik ist zur Absicherung der alleinigen Führungsrolle der USA in der Welt gegenwärtig eine elementare Bedingung zu gewährleisten: Partnerschaftliche Beziehungen Deutschlands und der EU mit Russland und dem asiatischen Raum sind zu beziehungsweise zu verhindern. Das widerspricht jedoch dem Grundinteresse Deutschlands und der EU, wonach kooperative Beziehungen mit dem großen Nachbarn im Osten unerlässlich für Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung in Europa sind. Gerade weil es gegenwärtig so zahlreiche Differenzen zwischen Deutschland und Russland gibt, ist eine Politik des Dialogs und des Abbaus von Sanktionen und Konfrontation unverzichtbar. Das ist eine Existenz- und Überlebensfrage für Deutschland und damit auch ein Gebot der Vernunft.
Feindbild Russland
Der transatlantische Westen hat seinen alleinigen Führungsanspruch in der und für die Welt nie aufgegeben. Zur Durchsetzung dieses Anspruchs braucht er die NATO und zu deren Rechtfertigung moralisch geprägte Feindbilder – darunter insbesondere das Feindbild Russland. Hinter diesem Feindbild steht das manichäische Weltbild des transatlantischen Westens insgesamt: die Teilung der Welt in Gute und Böse, in „Wir und die Anderen“. Dieses Weltbild beruht auf dem Selbstverständnis des Westens als höchste Stufe der menschlichen Zivilisation – im Unterschied zu allen anderen bestehenden Kulturen beziehungsweise Zivilisationen, in deren Rahmen die annähernd 200 Staaten dieser Welt koexistieren. Man sollte sich an Samuel P. Huntington erinnern, der bereits Mitte der 1990er Jahre darauf aufmerksam machte, dass „der Glaube an die Universalität der westlichen Welt an drei Problemen [kranke]: er ist falsch, er ist unmoralisch, und er ist gefährlich“[2]. Huntington sah in einer Politik des Westens, die „unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen“ nicht berücksichtigt, die Wurzel für Konflikte zwischen den Staaten verschiedener Zivilisationen beziehungsweise Kulturkreise – insbesondere an deren Randzonen[3]. Genau diese Vorhersage hat sich mit den Kriegen der letzten 20 Jahre auf dem Balkan sowie im Nahen und Mittleren Osten bestätigt. Das Wertesystem des Westens wird überhöht als Verkörperung allgemeinmenschlicher Werte dargestellt. De facto hat die Verabsolutierung der Werteorientierung in der Außenpolitik Deutschlands und der EU missionarischen Charakter und einen neokolonialistischen Anspruch. Aus der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen werden selektiv und einseitig die westlichen Vorstellungen über Grundrechte, Freiheit und politischer Demokratie in den Vordergrund gestellt. Der damit einhergehende Überlegenheitsanspruch der westlichen Kultur beziehungsweise Zivilisation erweist sich als konfliktfördernd und friedensgefährdend. Diesen Anspruch stellt kein Land eines anderen Kulturkreises – kein Russland, kein China, kein Indien. Nur die Länder des transatlantischen Westens. Und diesen Anspruch transportieren alle deutschen Mainstreammedien Tag für Tag – zumindest in der Hauptsendezeit – mit ihren Meldungen, die Russland und China betreffen. Es gibt dort faktisch keine Information zur Russischen Föderation, die nicht mit Negativbegriffen oder Häme verbunden ist. Und immer, wenn sich Ansätze für eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland abzeichnen, kann man darauf warten, dass über einen „russischen Giftgasangriff in Syrien“ oder einen „russischen Auftragsmord“ – wo auch immer in der Welt – berichtet wird. Am besten noch mit dem Zusatz „von Putin persönlich befohlen“, der als Verkörperung des Bösen schlechthin dämonisiert wird. So geht auch ideologische Kriegsvorbereitung. Zumindest bewirkt man damit das Anheizen von Spannungen und liefert zugleich die Begründung für einen irrationalen Konfrontationskurs.
Russland war, ist und bleibt untrennbarer Bestandteil Europas
Die historische Rolle Russlands für Europa wird besonders geprägt durch den Beitrag der Sowjetunion an der Zerschlagung des Hitlerfaschismus im Zweiten Weltkrieg. Die von Deutschland überfallene Sowjetunion trug die Hauptlast der Alliierten im Zweiten Weltkrieg bei der militärischen Vernichtung der Aggressoren. Der militärische Sieg vom 8. Mai 1945 in Berlin rettete maßgeblich Europa und die europäische Kultur vor der Nazibarbarei. Und es war die Sowjetunion, die Deutschland in Jalta und Teheran auch vor den US- amerikanischen De-Industrialisierungs- und Zerstückelungsplänen (Morgenthau-Plan) bewahrte. Mit dem Potsdamer Abkommen vom August 1945 sollte ein einheitliches und demokratisches Deutschland als Pufferstaat zwischen dem kapitalistischen Westen und der Sowjetunion bewahrt werden. Das war das erklärte Ziel der sowjetischen Außenpolitik bis etwa 1955 – dem Jahr des Beitrittes der Bundesrepublik zur NATO und der Gründung der Warschauer Vertragsorganisation (WVO). Der sich in der Nachkriegsperiode entwickelnde Kalte Krieg und die Blockkonfrontation waren Ausdruck der Systemkonkurrenz und der geopolitischen Rivalität zwischen den Führungsmächten des Westens und des Ostens auf Augenhöhe. Die Selbstauflösung der Sowjetunion durch Jelzin Ende 1991 veränderte das geostrategische Kräfteverhältnis. Der Westen nutzte die politische Schwäche und verweigerte dem auf Russland reduzierten Staatsgebilde den vordem zugestandenen Respekt. Ab diesem Zeitpunkt fehlt dem transatlantischen Westen ein geopolitisches Pendant. Der Westen verstand sich als Sieger und einzig akzeptables Zukunftsmodell der Geschichte. Die Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung wurde deshalb vom Westen verspielt. Hier liegt auch der entscheidende Grund, weshalb Putin im April 2005 die Auflösung der Sowjetunion als „geopolitische Katastrophe“ bezeichnete. Russland unternahm Anfang des 21. Jahrhunderts drei politische Vorstöße, um eine gesamteuropäische Friedensordnung auf den Weg zu bringen. Das war erstens mit der Rede Putins vor dem deutschen Bundestag 2001, in der er die Bereitschaft zur Partnerschaft signalisierte. Der zweite Vorstoß erfolgte im Februar 2007 mit der Rede Putins vor der Münchener Sicherheitskonferenz, in der er vor den Folgen einer Verweigerung partnerschaftlicher Beziehungen warnte. Die dritte Initiative kam vom damaligen russischen Präsidenten Medwedew, der 2008 einen Vorschlag zu einem „Vertrag über eine europäische Friedensordnung“ auf der Basis gemeinsamer Sicherheit unterbreitete. Grundlage all dieser Initiativen war die „Charta von Paris“ 1990, als Gründungsdokument der OSZE, mit der die Politik der KSZE aus den 1970er und 1980er Jahren unter den neuen Bedingungen fortgesetzt werden sollte. Aber auch die Charta von Paris interessierte den Westen schon bald nicht mehr. Die Politiker in Berlin, Paris, Brüssel und Washington reagierten mit Desinteresse, Ignoranz und Zurückweisung auf die russischen Vorschläge. Die NATO verfolgte zielstrebig ihre Politik der Osterweiterung. Im Jahr 2004 wurde die zweite Phase mit der Mitgliedschaft der ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen abgeschlossen. Damit rückte die NATO bis unmittelbar an die russische Grenze vor. Im Jahr 2008 wurde in Bukarest der Beginn von Aufnahmeverhandlungen mit mehreren Balkanländern beschlossen sowie für Georgien und die Ukraine eine Aufnahme in die NATO in Aussicht gestellt. Der Friedensnobelpreisträger Obama beleidigte Russland mit der Bezeichnung Regionalmacht. Das war im Jahr 2011. Zum Höhepunkt der Konfrontation kam es Ende 2013/Anfang 2014 mit dem Barroso- Ultimatum (Josè Julio Barroso war zu dieser Zeit Kommissionspräsident der Europäischen Union), das die Ukraine vor die Alternative stellte, entweder als Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion beizutreten oder über das Assoziierungsabkommen mit der EU verbunden zu sein. Danach erfolgte der Janukowitsch-Putsch in Kiew. In dessen Folge eskalierten die Autonomie- und Sezessionsbestrebungen in der Ost-Ukraine und auf der Krim. Im Ergebnis einer vom autonomen Krim-Parlament angesetzten Volksabstimmung fand sich eine große Mehrheit für die Sezession und den Anschluss der Krim-Republik und Sewastopols an die Russische Föderation. Als Russland darauf mit Parlamentsbeschluss reagierte und durch Dekret des Präsidenten den Beitritt der Krim in die Föderation vollzog, war die Empörung im Westen groß. Bis heute ist die alleinige Schuldzuweisung an Russland für die Krise in der und um die Ukraine auch das bestimmende Argument für die Ausgrenzung, Sanktionierung und Dämonisierung Russlands geblieben. In seinem Selbstverständnis scheint den Westen keinerlei Schuld zu treffen. Seitdem sind die Beziehungen zwischen der EU und der NATO einerseits und Russland andererseits tief zerrüttet und könnten das wohl noch Jahrzehnte bleiben. (Wenn nicht eine andere existenzielle globale Krise, nämlich die im Frühjahr 2020 ausgebrochene Virus- Pandemie, die Völker zur Vernunft zu bringen vermag.)
Russlands Ringen um Partnerschaft und Vertrauensbildung in Europa
Russland ist durchgängig seit Beginn des Helsinki-Prozesses um eine Politik der europäischen Partnerschaft auf Augenhöhe bemüht. In der Phase bis 1991 war es die Sowjetunion, die sich als Führungsmacht der Organisation des Warschauer Vertrags (WVO) für diese Politik einsetzte. Nach dem Ende der Sowjetunion und der WVO ist Russland bemüht, die Fragen der Rüstungskontrolle und militärischen Vertrauensbildung weiterhin in den Mittelpunkt des politischen Dialogs zu stellen. Es ist hier wichtig zu betonen, dass die entscheidenden völkerrechtlichen Grundlagen für einen gesamteuropäischen Entspannungsprozess – wie er sich mit konkreten Aktivitäten zur Rüstungskontrolle und militärischen Vertrauensbildung besonders in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auszuprägen begann – schon in der Schlussakte von Helsinki angelegt waren. Die Schlussakte enthielt ein spezielles Dokument über die Vorankündigung von Manövern und größeren militärischen Bewegungen sowie den Austausch von Militärbeobachtern – zunächst allerdings nur auf freiwilliger Basis. Verbindliche Festlegungen gab es erst gegen Ende der Blockkonfrontation mit dem Übergang von der KSZE zur OSZE. Die Charta von Paris bildete dabei den entscheidenden Ansatz für eine europäische Friedensordnung. Drei Säulen sollten den Ausgangspunkt für einen nachhaltigen Entspannungsprozess bilden: Das war erstens das Wiener Dokument über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM, Februar 1990), das in zahlreichen Schritten bis 2011 aktualisiert und präzisiert wurde. Die Präzisierungen betrafen insbesondere Fragen der militärischen Transparenz, wie zum Beispiel die Schwellenwerte für Personalstärken und schwere Panzer. Die zweite Säule betraf den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag, November 1990). Dieser Vertrag zwischen der NATO und der WVO führte auf der Basis eines detaillierten Verifikationssystems zu einer drastischen Reduzierung von schweren Offensivwaffen in Europa. Die dritte Säule bildete der Vertrag über den offenen Himmel von 1992, der es den teilnehmenden Nationen bis heute gestattet, gegenseitig ihre Territorien auf festgelegten Routen zu überfliegen und Aufnahmen zu machen.
Dialogverweigerung und zunehmende Konfrontation durch den Westen
Gegen Ende der 1990er Jahre verlor jedoch der Westen das Interesse an dem begonnenen Prozess der Rüstungskontrolle und militärischen Vertrauensbildung. Die Lage hatte sich grundsätzlich geändert: Der Warschauer Pakt hatte sich aufgelöst. Russland war unter Jelzin in eine tiefe wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Krise geraten. Ebenso die meisten postsowjetischen Länder, die sich neu gebildet hatten und eine neue Identität finden mussten. Die NATO hatte im Jahr 1999 einen nichtmandatierten Separationskrieg gegen Serbien geführt, der mit der Abtrennung des Kosovo endete. Vor allem aber betrieb die NATO einen forcierten Kurs der Osterweiterung durch die Aufnahme ehemaliger Mitgliedstatten der WVO bis unmittelbar an die russische Grenze. Soviel Übermut konnte nicht gut gehen. Russland erholte sich unter der Präsidentschaft Putins und suspendierte im Jahr 2007 den KSE-Vertrag, um eine eigene Nachrüstung – vor allem aber eine grundlegende Militärreform – zu ermöglichen. Der KSE-Vertrag war ohnehin obsolet geworden, da ihn die NATO-Länder zwar unterzeichnet, aber nie ratifiziert hatten. Endgültig ins Stocken geriet der Prozess der militärischen Entspannung jedoch mit der Krise in der und um die Ukraine im Frühjahr 2014. Der Westen wirft Russland eine einseitige Verletzung des Völkerrechts vor, indem er eine Annexion der Krim unterstellt. Er reagiert seitdem permanent mit der Aussetzung der Tätigkeit des NATO-Russland-Rates (der für den Fall solcher Konflikte geschaffen wurde) sowie mit Strafzöllen und Sanktionen, die beiden Seiten schweren Schaden zufügen. Der Westen lässt Russland mit seinen Bemühungen für einen konstruktiven Dialog ins Leere laufen und praktiziert real eine Politik der Dialogverweigerung. Insofern wurde auch der Appell Putins, den er in seiner Rede zum Tag des Sieges am 9. Mai 2019 an die Staaten der Welt gerichtet hatte, völlig ignoriert. Putin hatte zum wiederholten Male vorgeschlagen, im Interesse der Völker ein effektives und für alle gleiches System der gemeinsamen Sicherheit zu schaffen. Die Situation ist festgefahren. Die Positionen der Hauptakteure NATO und Russland sind diametral entgegengesetzt und der politische Wille für eine Lösung fehlt. Der Westen will nicht akzeptieren, dass Russland im Fall der Sezession der Krim mit deren Beitritt zur Russischen Föderation eine rote Linie gezogen hat und hält an der Wiederherstellung des alten Zustands vor der Krise fest. Schlechte Aussichten also für eine neue Entspannungspolitik, wenn nicht ein ähnlich pragmatischer Ansatz gefunden wird wie während des Kalten Krieges im Umgang mit der DDR und der (West-)Berlinfrage.
Wiederbelebung der Politik der Friedlichen Koexistenz als Alternative zur Konfrontation
Was also können die Brücken sein, um Bewegung in den politischen Dialog zu bringen? Im Wesentlichen handelt es sich um eine Rückbesinnung auf Erfahrungen und Instrumente aus der Zeit der Blockkonfrontation. Die Gegensätze und Probleme von damals sind den heutigen sehr ähnlich. Aber sie sind von ihrer ideologischen Verschleierung befreit. Es treffen nunmehr die blanken geopolitischen Interessen aufeinander. Mit Erfahrungen und Instrumenten sind vor allem die völkerrechtlich akzeptierten Prinzipien der Friedlichen Koexistenz und die realen – auch heute noch bestehenden – Instrumente zu ihrer praktischen Anwendung gemeint. Das ist in erster Line die OSZE als Folgeorganisation der KSZE mit ihren gegenwärtig 57 Teilnehmer- und elf Partnerstaaten. Das ist zweitens das Wiener Dokument in seiner Fassung von 2011, als politisch verbindliches Abkommen aller OSZE-Mitglieder zur Transparenz und Vertrauensbildung mit Gültigkeit im Raum vom Atlantik bis zum Ural und in Zentralasien bis an die chinesische Grenze. Drittens gehört hierzu der NATO-Russland-Rat als Konsultationsorgan zwischen den NATO-Staaten und Russland in Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Viertens schließlich ist hier auch der Europarat zu nennen, gegründet bereits 1947, (nicht zu verwechseln mit der EU- Institution) als Diskussionsforum über allgemeine Fragen der europäischen Staaten. Über diese Brücken muss man gehen, wenn man das existenzielle Risiko vermeiden will, das mit der Endlosspirale gegenseitiger Abschreckung verbunden ist. Aber die wechselseitige Nuklearabschreckung ist nun einmal Realität. Mit der Eskalation der Konfrontation zwischen der NATO und Russland hat die Gefahr sogar wieder zugenommen, dass Deutschland und Zentraleuropa zum Schauplatz eines nuklearen Schlagabtausches werden können. Insofern ist für uns die Nuklearabschreckung Russlands genauso wenig akzeptabel wie die der NATO. Dazu kommt, dass Abschreckung heute durch die technologischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre ein noch fragileres Instrument der Friedenssicherung geworden ist als während der Blockkonfrontation. Als einzig vernünftige Alternative bleibt nur die Überwindung des Gesamtsystems der gegenseitigen Abschreckung durch die Schaffung einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur.
Neue Verantwortung der Friedensbewegung
Als Fazit und zugleich wichtigste Schlussfolgerung für die Friedensbewegung gilt die Grundaussage: Mehr denn je ist heute die Frage der Normalisierung der Beziehungen zwischen dem transatlantischen Westen und Russland die Schlüsselfrage für Frieden, Sicherheit und Stabilität sowie für die ökonomische und soziale Entwicklung jedes Landes in ganz Europa. Wenn es uns misslingen sollte, in Frieden mit Russland zu leben, brauchen wir über andere Lebensfragen in der Welt nicht mehr zu reden. Die Friedensbewegung sollte sich dabei über folgende drei Grundsätze im Klaren sein: Erstens – Russland als Gegner oder Feind zu betrachten ist ein politischer Irrweg und perspektivlos. Das entspricht auch den historischen Erfahrungen Deutschlands in den vergangenen 500 Jahren europäischer Geschichte. Deutschland sowie die gesamte Europäische Union sind der natürliche Nachbar von Russland. Die Menschen dieser großen Region dürfen nicht noch einmal in einen existenzbedrohenden Krieg gegeneinandergehetzt werden. Bereits die Fortsetzung der gegenwärtigen Konfrontations- und Sanktionspolitik führt zu irreparablen Schäden in allen beteiligten Staaten. Die Normalisierung der Beziehungen zu Russland muss gerade wegen der bestehenden Differenzen zu einem parteiübergreifenden Projekt aller Friedenskräfte gemacht werden. Das entspricht auch der real bestehenden Grundstimmung in unserem Lande. Zweitens – Die Friedensfrage darf dabei nicht auf Pazifismus und Antimilitarismus reduziert werden. Neue Formen der Konfrontation unterhalb der Schwelle eines heißen Krieges wie Strafzölle und Wirtschaftssanktionen, Cyberwar, geheime Weltraumoperationen oder verdeckte Kampfaktionen verwischen die Grenzen zwischen Krieg und Frieden und können zu ähnlich destruktiven Konsequenzen wie heiße Kriege führen beziehungsweise schneller als in der Vergangenheit zu heißen Kriegen eskalieren. Insofern ist es unerlässlich, dass sich die Friedensbewegung aktiv gegen jegliche Konfrontationspolitik und für Kooperation und Partnerschaft mit Russland einsetzt. Das schließt Meinungsverschiedenheiten mit Russland keineswegs aus. Drittens – Die Friedensfrage kann gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nur im untrennbaren Zusammenhang mit den anderen existenziellen Herausforderungen der Menschheit als Ganzes gelöst werden. Das heißt, die Friedensbewegung muss heute alle globalen Bedrohungen wie die Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich, Ressourcenverknappung, menschengemachter Klimawandel, ungleichmäßige demografische Entwicklung, Terrorismus oder Pandemien im Auge haben, da hier zugleich auch Ursachen und Ansatzpunkte für neue Staaten- und Bürgerkriege liegen. Setzen wir uns in diesem Sinn alle ein für eine internationale und parteiübergreifende Initiative: „Für eine neue Entspannungspolitik JETZT!“
[1] Zbigniew Brzezinski (2017): Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Rottenburg [2] Samuel P. Huntington (2006/07): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, S. 509 [3] ebd., S. 22 Hierbei handelt es sich um eine aktualisierte Version des Beitrags Schlüssel für Frieden und Stabilität in Europa: Normalisierung der Beziehungen zu Russland, S. 114-127, in: Lühr Henken (Hrsg.) (2020): Schluss mit dem Wahnsinn! Abrüsten!, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik Band 26, Kassel