Dies ist Teil II des Artikels, Teil I: ‘Meint Ihr, die Russen wollen Krieg’ ,,, (I)

Wir (die traditionelle Linke), seien nach wie vor im „reaktionären Lagerdenken“ gefangen, stellten uns in der „Systemkonkurrenz lieber auf die Seite einer rotgelackten national-kapitalistischen Einparteienherrschaft“ statt auf die der bürgerlichen Demokratie des Westens. So lauten die Vorwürfe aus dem Lager der Mainstream-Medien und -Parteien, sie rühren aber auch von FreundInnen und GenossInnen im Lager der Friedensbewegung und der gesamten Linken.

Frank Deppe, marxistischer Politikprofessor emeritus der Uni Marburg, nennt ein Verständnis der internationalen Konfliktlinien in Begriffen des Kalten Krieges „naiv“. Es ist mehr als das – es ist falsch und kann gegebenenfalls gefährlich sein. Der alte Block des Westens ist zwar immer noch ein von den USA dominierter Block, dessen Einheit aber erst durch eine Bedrohung von außen, wie jetzt im Fall der Ukraine, hergestellt wird. Europa, vor allem Frankreich und Deutschland, betonen eine größere Eigenständigkeit Europas, eine eigene Armee, ein größeres Gewicht in der Nato. Und selbst jetzt drücken sich die Widersprüche aus im Beharren der Deutschen auf ihren Importen von Energierohstoffen aus Russland. Der Versuch der deutschen Regierung, die Energieabhängigkeit von Russland zu beheben durch vermehrte Importe aus den arabischen Despotien demonstriert, wie gehaltlos das Gerede der US-Regierung ist, es ginge weltweit um das Gegenüber von Demokratien gegen Autokratien. Das diese Epoche kennzeichnende Kriterium ist nicht die Haltung zur „Demokratie“, sondern die realpolitische Erwägung der Länder, ihr Interesse lieber beim Stärkepol USA zu suchen oder aber bei der am schnellsten wachsenden Supermacht China. Nach Kaufkraft gemessen produzieren die USA ein gutes Fünftel des gesamten Weltprodukts. US-Kapitalisten besitzen erhebliche Teile des Kapitals in anderen entwickelten Ländern des Kapitalismus, sie besitzen den größeren Teil der weltweiten Lieferketten. Diese stellen die neue Form der internationalen Ausbeutung der Länder des Südens dar.

Das Beispiel Apple: Die neue Form der globalen Ausbeutung

Ein Beispiel dafür ist das Produktionsnetzwerk des Apple-iPhone. In den USA und in China sind etwa gleichviele Menschen für seine Produktion beschäftigt. Auf die Beschäftigten in den USA entfällt das Dreißigfache der Lohnsumme ihrer chinesischen Kollegen. In den USA sind Händler- und Produktentwickler beschäftigt, in China ArbeiterInnen am Fließband[1]. Das Beispiel Apple demonstriert mehrere Seiten der neuen internationalen Ordnung. Das westliche Kapital ist in großem Ausmaß involviert in Ländern quer über den Globus, weithin ungeachtet des Umstands, zu welchem Lager sie gehören mögen, „Demokratie“ oder „Autokratie“, USA-Block oder China-Block. Die Länder des Südens, selbst China, werden systematisch benachteiligt bei dieser Art von internationaler Arbeitsteilung. Diese benachteiligten Länder werden im internationalen Magnetfeld vom Pol China angezogen, um dessen Belt & Road-Initiative (die Neue Seidenstraße) herum wächst ein stärker werdender Faktor, der sich nach und nach zu einem „Block“ entwickeln kann. Heute indes ist seine Kohäsion längst nicht mit der Festigkeit eines Blocks zu vergleichen. Wie fragil die Gruppe ist, lässt sich ablesen am Abstimmungsverhalten der Staaten, als in den Vereinten Nationen das Verhalten Russlands gegenüber der Ukraine zur Abstimmung stand. Fünf Länder haben die Verurteilung Russlands abgelehnt, 141 Länder haben, angeführt von den USA, ihm zugestimmt, 35 Länder haben ihn abgelehnt. In dieser Gruppe zeichnet sich die Kontur einer Anti-US-Kraft ab. Es wäre aber völlig verfrüht, es wäre falsch, hier schon von einem Block zu sprechen, der sich um China herum gebildet hätte. Es waren Länder, die ihre Erfahrungen gemacht haben mit dem westlichen Imperialismus: Vietnam und Kuba, Nicaragua und El Salvador, vom Kongo und Zimbabwe, von Algerien und Angola, von Tansania und Irak. Selbst einige dieser Länder schwanken je nach Konfliktstoff zwischen dem Angebot des Westens und dem Chinas. Sie sind auch unterschiedlich eingebunden in die Globalisierungsstrukturen von wirtschaftlicher Produktion, Handel, Kultur, Militär.

Indien und Pakistan – nicht mehr „Sklave des Westens“?

Ein Musterbeispiel liefern Indien und Pakistan, zwei Länder, die für die Machtverteilung in Zentral- und Südasien von enormer Bedeutung sind. Beide haben sich wie China bei der Abstimmung enthalten und damit signalisiert, dass sie sich weder von der Propaganda des Westens noch von der Russlands einspannen lassen. Auf die Mahnung der EU, man solle eine kritischere Haltung einnehmen, entgegnete Pakistans Premierminister Imran Khan mit der Abfuhr, dass man kein Sklave des Westens sei. Im Krieg in Afghanistan noch Partner der USA, bahnt sich nun eine chinesisch-russisch-pakistanische Dreiecksbeziehung an. Russland kann die dringend benötigten Energierohstoffe liefern, der „China Pakistan Economic Corridor“ bringt enorme Investitionen in Häfen, Straßen und Energiesysteme. Dem über das Unrecht in der Ukraine klagenden Westen halten die pakistanischen Eliten seine Doppelmoral vor, der gerade das von ihm zerstörte und zerbombte Afghanistan verlassen musste. Noch bedeutsamer für die internationale Machtverteilung ist die künftige Haltung Indiens, die Nr.2 der Welt an Bevölkerungsreichtum, die Nr. 3 nach dem Bruttoinlandsprodukt (BIP – nach Kaufkraftparitäten). Das Land, das einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebt, versucht in einem schwierigen Balanceakt Äquidistanz zu den großen Polen China und USA zu erringen und zu halten. Es gehört einerseits dem Quadrilateralen Sicherheitsdialog mit Australien, Japan und den USA (Quad) an, verweigert aber die Teilnahme am gegen China gerichteten Militärbündnis AUKUS (Autralien, United Kingdom=England, USA). Vielmehr ist Indien Mitglied in der von China dominierten Shanghai Cooperation Organisation und auch von BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), die größte moderne Organisation der „Blockfreien“, die schon 2009 auf ihrem damaligen Gipfel in Jekaterinburg kundtaten: „Wir wollen eine demokratischere und gerechte multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staaten.“ Putin-Russland hat mit dem Militärüberfall auf die Ukraine diese Prinzipien grob verletzt, Indien will sie aber geltend machen beim Versuch der Äquidistanz zu China und zu den USA. Indien hat sich mit den BRICS-Grundsätzen gegen die USA gestellt, deren Präsident Joe Biden den Dominanzanspruch formuliert hat: „Ich will dafür sorgen, dass Amerika wieder die Welt führt“, weil „keine andere Nation die Fähigkeit dazu hat.“[2] Hingegen finden die Inder Zustimmung beim chinesischen Staats- und Parteichef Xi: „Wir dürfen die Regeln nicht durch ein oder einige weniger Länder festlegen lassen, die sie den anderen aufzwingen oder Unilateralismus von gewissen Ländern festlegen lassen, die der ganzen Welt die Richtung vorgeben wollen.

Die Gegenpole USA und China

Nach dieser Sicht haben wir eine Zweiteilung der Welt in einen USA-Pol, um den herum sich die anderen entwickelten Volkswirtschaften gruppieren, und in ein gegnerisches Feld um den Pol China, der die weniger entwickelten Nationen anzieht. Das Feld China umfasst die mit Abstand meiste Bevölkerung (die fünf BICS-Länder allein stellen 42 % der Weltbevölkerung), aber es bringt nur die Hälfte des BIP der Gegenseite auf. Der schwache Zustand ihrer Volkswirtschaften produziert in einer globalisierten Weltwirtschaft spezifische Interessen gegenüber den reichen Ländern, die sie in der globalen Auseinandersetzung eher an die Seite Chinas führen. Mit dem Ausbau der Road & Belt-Initiative, der „neuen Seidenstraße“, bietet China eine Möglichkeit vom Zugriff der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften geschützter wirtschaftlicher Entwicklung, die bereits von über 100 Nationen genutzt wird. Das bedeutet nicht, dass sie sich bereits zu einem Block formieren. Aber sie stärken das Gewicht Chinas, das als einzige Atommacht nicht den Einsatz von Atomwaffen in seiner Militärplanung vorsieht; und dass sich in seiner Außenpolitik strikt an die Gebote der friedlichen Koexistenz hält, die ausdrücklich die friedliche Kooperation auch systemischer Alternativen verlangt. Eine Friedensordnung taugt nur etwas, wenn sie unterschiedliche, ja konträre Auffassungen aushält und auf der friedlichen Austragung der Konflikte besteht. Die Vorstellungen der USA, sie seien eine außergewöhnliche, alle anderen überragende Nation“, der „Exzeptionalismus“, unterscheiden sich fundamental von der chinesischen, es geht um friedliche Koexistenz, für „ein gutes Leben für alle“.

Was aber ist mit Russland?

Russland spielt bei diesem Aufeinandertreffen internationaler Kräfte eine große Rolle. Nach den BIP-Zahlen nach Kaufkraftparitäten (also ohne die Umrechnung in Dollar), nimmt Russland den sechsten Rang ein, direkt hinter Deutschland. Seine Diffamierung durch den damaligen bundesdeutschen Kanzler Schmidt als „Obervolta mit Atomraketen“ ist also einerseits neiderfüllte Häme. Andererseits ein richtiger Hinweis: Es sind die Atomraketen, die den besonderen Rang Russlands ausmachen. Das Atomwaffen-Arsenal – Raketen und Sprengköpfe – hält mit dem der USA mit. Die USA haben einen zwölfmal höheren Rüstungsetat als Russland, China hat einen viermal größeren, doch Russland hat den höchsten Standard und dieselbe Menge an Atomwaffen wie die USA. Russland garantiert das Patt der beiden großen „Machtblöcke“, liefert den Schutzraum für die eigenständige Entwicklung junger Nationen. Machte man sowjetische Kollegen in internationalen Organisationen früher aufmerksam darauf, dass sie in ziemlich abgerissener Kleidung daherkämen, dann sagten sie: „Entschuldigen Sie bitte, mein zweiter Anzug hängt in Angola, der dritte in Kuba.“ Diese objektive Schutzfunktion nimmt Russland immer noch wahr. Aber der Anspruch, man arbeite an einem System friedlicher Koexistenz, an einem guten Leben für alle, ist angesichts der Flüchtlinge, der verzweifelten Menschen in Bunkern, der Leichensäcke, die nach dem russischen Angriff herausgetragen werden – dieser Anspruch ist für das Russland Putins dahin. Als die Fragen von Autonomie und Selbstbestimmung der vielen Völkerschaften in die junge Sowjetrepublik hineinstießen, wandte sich Lenin 1922 vehement gegen die großrussischen Tendenzen auch in seiner Partei: „Dem großrussischen Chauvinismus erkläre ich hiermit den Kampf auf Leben und Tod.“[3] Putin, alles andere als ein Marxist, hat die Worte des alten Bolschewiken in den Wind geschlagen. Und er hat sich völlig verrannt – militärstrategisch, politisch, auch ideologisch. Diese krude These, die Ukraine habe keine nationale Identität, sie sei eine künstliche Schöpfung der frühen Sowjetunion, war noch nie haltbar, und Putins Invasion hat das Nationalbewusstsein noch geschärft. Russland muss, wie schon dargelegt, zu einer Friedensregelung bereit sein, die die nationale Selbstbestimmung der Ukraine festhält und dagegen den von den USA und der Nato bestätigten Verzicht der Ukraine auf Nato-Mitgliedschaft festlegt. Die Bevölkerung der Regionen Krim und Donbass werden in Abstimmungen über ihre staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Im Rahmen der KSZE werden Regelungen der Friedenssicherung und der Abrüstung in Europa angestrebt. China, mit dem Russland in vielen Verträgen als ein prinzipieller Partner verbunden ist, sollte auf den westlichen Nachbarn einwirken, zu Positionen des Völkerrechts, wie sie auch von BRICS bekräftigt wurden, zurückzukehren. Mehr noch als die Sanktionen des Westens wird das Gewicht Chinas das Putin-Russland zu einer Position bewegen, die sowohl das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer wie auch das Sicherheitsbedürfnis Russlands zur Geltung bringt.


[1] Fischer/Reiner/Staritz (Hrsg.), Globale Warenketten und Ungleiche Entwicklung. Wien 2021, S. 11 [2] Peter Wahl, Der Ukraine-Krieg und seine geopolitischen Hintergründe. Attac, AG Globalisierung & Krieg; Conrad Schuhler, Das Neue Amerika des Joseph R. Biden, S. 111 ff [3] Helmut Dahmer, Stalin, Putin und eine chauvinistische „Halt‘s Maul-Politik“. Lunapark 21, 57/03/2022, S. 52