Das Programm der Ampel steht. Nachdem seit vielen Jahren unter Wirtschaftspolitik nichts anderes als staatliche Dienstleistung für Unternehmen und die Anbetung des Marktes verstanden wurde, war die Spannung groß, was die neue Regierung wirtschaftspolitisch vereinbaren werde. Eine andere, aktive Wirtschafts- und Finanzpolitik ist unumgänglich, öffentliche Investitionen sind in fast allen Lebensbereichen bitter notwendig: in Schulen und Universitäten, im Gesundheitssektor, bei der Bahn, in erneuerbare Energien und die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft. Im Feld der Sozialpolitik steht die Sicherung der Renten an und die Revidierung von Harz IV. Die Grünen bezifferten im Wahlkampf den Finanzbedarf für eine Modernisierung Deutschlands auf 50 Milliarden Euro pro Jahr. Allein für die Bahn sollen zehn Milliarden jährlich ausgegeben werden, eine effektive Senkung der CO2 Emissionen im Bereich Gebäude und Heizung würde nach Angaben des BDI 17 Milliarden pro Jahr aus der Staatskasse erfordern. Soweit so klar. Allerdings wirkte es anhand dieser Anforderungen schon fast absurd, dass die FDP sich bereits in den „Sondierungsgesprächen“ mit einer Art Finanzierungsverweigerung durchsetzen konnte: Sie verhinderte Steuererhöhungen und bestand auf der Rückkehr zur Schuldenbremse ab 2023. Wie die Ampel den Widerspruch zwischen Modernisierungskosten und Finanzierungsverweigerung lösen wollte, war eine entscheidende Frage. Der Koalitionsvertrag umfasst 177 Seiten und verliert sich über weite Strecken in einem heillosen Klein-klein von Ankündigungen, Absichtserklärungen und unverständlichem Wortgeklingel in schlechtestem Unternehmensberater-Deutsch. Gut, wir sind keine Literaturkritiker, also müssen wir uns trotzdem durcharbeiten und auf den Gehalt vorstoßen. Wir wollen das in mehreren Beiträgen tun, in denen wir versuchen, den Koalitionsvertrag in drei Bereichen zu bewerten

  • Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik
  • Ökologie und Klima
  • Verkehrswende
  • Verteidigung

Standort Deutschland

Zunächst einmal fällt auf, dass die Wirtschaftspolitik im Programm vorwiegend unter einer bekannten Prämisse steht: Nein - keineswegs sozialökologischer Umbau, keineswegs Sicherung der Lebensgrundlagen - sondern Stärkung des Standortes Deutschland und seiner Wettbewerbsfähigkeit. Ständig finden sich Formulierungen wie die Folgenden:

Mehr Innovationen stärken den Wirtschaftsstandort Deutschland ebenso wie die gesamtgesellschaftliche EntwicklungWir wollen die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland als Grundlage für nachhaltiges Wachstum, Wohlstand und hohe Beschäftigung in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft erhöhenBei der Novellierung der europäischen Klima-, Umwelt- und Energiebeihilfeleitlinien und anderer Regelungen werden wir darauf achten, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gewahrt bleibt.

Da auch in den Konkretisierungen des Programms die Entwicklung beispielsweise von Wasserstofftechnologie, von Batterien und anderen „grünen“ Produkten weniger unter dem Aspekt der CO2-Vermeidung, sondern unter dem Aspekt der weltweiten Vermarktung betrachtet wird, riecht das verdächtig nach der Fortsetzung des lediglich grün angestrichenen deutschen Wachstumsmodells durch Exportüberschüsse - und nach weiterhin steigendem Ressourcenverbrauch. All das steht unverbunden neben den ökologischen Programmteilen. So wie hier Parteien beisammen sind, die nicht so richtig zueinander passen, so sind offensichtlich auch in diesem Programm Elemente vereint, die nicht zueinander passen. Ob sich in der Regierungsarbeit dann eine ökologische Reformpolitik oder eine grün gelackte FDP-Profitmaschine durchsetzen wird, dürfte das spannende Thema der kommenden Jahre sein.

Investitionen

Ein wirtschaftspolitischer Schwerpunkt sind, wie oben skizziert, die Investitionen. Angekündigt werden sie zuhauf. Investiert werden soll so gut wie überall. Nirgendwo sind aber Investitionssummen hinterlegt, fast nirgendwo ist spezifiziert, wer, wann, wo, wieviel genau investieren soll. Dafür gibt es viele Verweise darauf, dass natürlich „die Wirtschaft“ oder die Unternehmen investieren müssen. Das ist in einer kapitalistischen Marktwirtschaft zunächst einmal logisch: Wenn die Stromerzeugung in privater Hand ist und dort bleiben soll, dann müssen auch die Investitionen in deren Umbau von Privatunternehmen getätigt werden. Das bedeutet aber noch nicht zwangsläufig, dass der Staat damit abgemeldet ist. Welche Rolle er konkret in den kommenden Jahren spielen soll, ist allerdings unklar. Im Programm ist viel von Vorgaben, Zielen und Rahmensetzungen die Rede - konkret wird das selten. Auch hier bleib offen, ob es sich bei diesem „Fortschrittsprogramm“ um ein öffentlich gelenktes Programm im Sinne der Allgemeinheit mit einer Stärkung der staatlichen Bereiche handelt - oder um eine Geldbeschaffungsaktion für Konzerne und zeitgeistige Startups.

Finanzen

Erstaunlich: Seit Monaten fragt sich der wirtschaftspolitisch interessierte Teil der Nation, wie die Ampel ihre Erneuerung Deutschlands finanzieren möchte. Im Koalitionsvertrag steht dazu wenig. Es gibt keinen Finanzierungsplan, lediglich Hinweise auf streichbare Subventionen und die vage Andeutung, Mittel in Sondervermögen umzuschichten, die dann nicht im Bundeshaushalt erscheinen. Solche Sondervermögen sind etwa der Haushalt der Bahn AG oder der Klimafonds. Es kommt aber noch schlimmer: Die Koalition verordnet sich einen Tilgungsplan zum Abbau der aufgelaufenen Coronaschulden. Wenn die Bunderepublik Deutschland ernsthaft Schulden tilgen möchte, begibt sie sich damit in den Bereich des wirtschaftspolitischen Schwachsinns: Gleichzeitig investieren und Schulden tilgen geht halt nicht.

Dieses und Jenes

Abgesehen von diesen zentralen Widersprüchen enthält der Vertag Dutzende von Einzelmaßnahmen, die durchaus begrüßenswert sind: So wird etwa versprochen, die Handwerkerausbildung zu fördern und die Kosten für den Erwerb von Meisterbriefen zu senken. Recht detailliert legt sich die Koalition auf den Ausbau einiger genau bezeichneter Bahnstrecken fest. Eine Milliarde Euro stellt sie als „Pflegebonus“ für Pflegepersonal in Heimen und Krankenhäusern zur Verfügung. Positiv dürfte auch die Einführung einer Kindergrundsicherung sein, allerdings ist dem Vertrag deren finanzielle Höhe nicht zu entnehmen. Aber bei einigen großen sozial- und wirtschaftspolitischen Themen wird es dann schon wieder unzureichend bis enttäuschend:

Arbeitsmarkt

Die Anhebung des Mindestlohns ist einer der Positivpunkte im Koalitionsvertrag. Flankierend dazu wäre aber eine Abkehr von der Agenda 2010 und ihrer Förderung prekärer Arbeitsverhältnisse notwendig gewesen. Dazu finden sich allerdings nur ein paar Korrektur- und Anpassungsvorhaben bei Minijobs oder Befristungen, die das Problem der prekären Beschäftigung in keinster Weise ernsthaft behandeln. Die Umwidmung von Harz IV in ein Bürgergeld scheint im Wesentlichen Kosmetik zu sein. Zwar sollen die Zuverdienstmöglichkeiten verbessert, Sanktionen und Anrechnungen reduziert werden - aber vom Kernthema, nämlich von einer notwendigen deutlichen Erhöhung der Regelsätze ist nichts zu hören und zu lesen.

Wohnungsbau und Regionalpolitik

Die Koalition möchte 400.00 Wohnungen bauen – pro Jahr! Bereits die Vorgängerregierung hatte unter dem zuständigen Minister Seehofer ein ähnliches Wohnungsbauziel - und hat dieses Ziel verfehlt. Die neue sozialdemokratische Bauoffensive wird aller Voraussicht nach ebenso scheitern und ist ohnehin ein politischer Irrweg. Der Autor dieses Artikels hat, zum Leidwesen seiner wohnungskämpfenden Freunde, seit jeher vertreten, dass „Bauen, Bauen, Bauen“ eine falsche Losung ist. In Deutschland stehen 1,8 Millionen Wohnungen leer, andere Schätzungen sprechen von 2 Millionen. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung geht davon aus, dass sich die Leerstände bis Ende des Jahrzehnts auf mehr als 3 Millionen erhöhen werden. Ganz offensichtlich ist Wohnungsnot also eine Folge von Binnenwanderungen: Viele Regionen in Deutschland (und Europa) leiden unter Bevölkerungsschwund, viele ihrer Einwohner müssen in einige wenige sich überhitzende Boomzentren ziehen - weil die Unternehmen dort investieren und deshalb dort zusätzliche, neue Arbeitsplätze entstehen. So gab es beispielsweise in München Jahre, in denen weit über 20.000 Menschen (netto) in diese Stadt zuwanderten. Damit entsteht einen lose-lose Situation: einige Regionen bluten aus, andere überhitzen. Dieses regionalpolitische Ungleichgewicht durch Bauen auffangen zu wollen, wird nicht funktionieren - und ist auch gar nicht wünschenswert.

  • die Kapazitäten der Bauindustrie sind begrenzt und derzeit bereits ausgelastet.
  • das Angebot an Bauland ist ebenfalls begrenzt, Boden lässt sich bekanntlich nicht vermehren.
  • die Verdichtung und Zersiedelung von Boomregionen senkt dort die Lebensqualität, verursacht eine Überlastung der Infrastrukturen.
  • bauen ist extrem CO2- und materialaufwändig. Eine Bauoffensive wie die geplante würde sich, wenn sie denn möglich wäre - deutlich negativ in der CO2-Bilanz niederschlagen.

Statt die deutschen Ballungszentren weiter zuzubetonieren, müsste man eine aktive, gestaltende Regionalpolitik entwickeln, die nicht die Menschen zur Arbeit in die Boomregionen bringt - sondern die Arbeit zu den Menschen und damit dem regionalen Auseinanderfallen Deutschlands entgegenwirkt. Zwar wird Regionalpolitik im Koalitionsprogramm relativ ausführlich angesprochen und es werden einzelne regionalpolitische Maßnahmen skizziert – im Wesentlichen geht es dabei aber vor allem um eine Effektivierung bisheriger Regionalpolitik und eine nicht näher quantifizierte Aufstockung der Mittel. Von einem effektiven regionalpolitischen Konzept, das vor allem an den regionalen Standortentscheidungen der Unternehmen ansetzen müsste, bleiben diese Vereinbarungen noch weit entfernt (1, 2).

Rente

Die Sicherung der gesetzlichen Rente war ein vorrangiges Wahlkampfthema der Sozialdemokraten. Das war auch nötig, denn gerade bei der Rente laufen sich derzeit die Neoliberalen warm und versuchen angesichts der „Alterung der Gesellschaft“, in einer neuen Offensive die gesetzliche umlagefinanzierte Rente sturmreif zu schießen. Die Koalition hat nun erst einmal die Haltepunkte der Rentenversicherung bekräftigt: Kein Absinken der Durchschnittsrente unter 48 %, keine Steigerung der Rentenbeiträge über 20 % in der laufenden Legislaturperiode, keine Anhebung der Altersgrenze. Nun ginge es aber weitergehend darum, die Umlagefinanzierung auch langfristig zu sichern und zu verteidigen. Gerade dieses System bietet die besten Möglichkeiten, sich an geänderte demographische Verhältnisse anzupassen, speziell mit ihm könnte man durch politische Beschlüsse zielgenau auf Veränderungen reagieren. Für eine langfristige Stärkung der gesetzlichen Rente hätten die Koalitionäre deshalb auch überlegen können, angenähert an die österreichische Umlagefinanzierung, die Basis der Rentenversicherung durch die Einbeziehung zusätzlicher Berufsgruppen zu stärken. Die Koalition macht nun aber etwas völlig anderes: Sie öffnet mit einer neuen kapitalgedeckten Zusatzrente eine Fluchtmöglichkeit aus der solidarischen Finanzierung: Um diese Zusage (keine Erhöhung des Rentenalters, C.P.) generationengerecht abzusichern, werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen. Das heißt: Dann, wenn deutlich mehr Rentner als heute Leistungen beziehen, soll ausgerechnet der Kapitalmarkt die Stabilisierung der Renten übernehmen. Wie genau diese kapitalgedeckte gesetzliche Rente ausgestaltet wird, wer, wann, welche Beiträge einzahlen soll, ist ungeklärt. Zwar kommt der Begriff „Aktienrente“ im Programm nicht vor, doch könnte es in diese Richtung gehen. Aktienfonds sind der Traum aller Neoliberalen, die die Schwankungen, Blasen und Pleiten der Finanzmärkte unverdrossen ausblenden. Kurzum: Die Ampelkoalition öffnet einer krisenanfälligen Teil-Kapitaldeckung der Rente die Tür und schwächt perspektivisch die umlagefinanzierte Rente. So wie schon die privaten Rentenversicherungen und die Betriebsrenten werden damit jetzt auch Teile der gesetzlichen Rente den Kapitalmärkten übereignet.

Europa

In Deutschland betrachtet man die europäische Wirtschafts- und Währungsunion traditionell als Absatz -und Investitionsgebiet, das möglichst von deutschen Konzernen und von den Rezepten deutscher Wirtschaftspolitik dominiert werden soll. Dass diese Sichtweise Europa zu Beginn der 2010er Jahre an den Rand des Scheiterns gebracht hatte, wird hier immer noch ignoriert. Diese Ignoranz setzt sich im Koalitionsprogramm leider fort. Während in Brüssel inzwischen vorsichtige Bestrebungen in Gang sind, die europäische Schuldenbremse (Stabilitäts- und Wachstumspakt) wenigsten teilweise zu beerdigen und den Euroländern nach der Pandemie eine aktive Wirtschafts- und Fiskalpolitik zu ermöglichen, ziert sich die Koalition. Völlig unklar wird formuliert. „Die Weiterentwicklung der fiskalpolitischen Regeln sollte sich an diesen Zielen (Wachstum/Schuldentragfähigkeit/nachhaltige Investitionen C.P.) orientieren, um ihre Effektivität angesichts der Herausforderungen der Zeit zu stärken. Der SWP sollte einfacher und transparenter werden, auch um seine Durchsetzung zu stärken. Lässt sich so ausdeutschen: Wir schauen uns vielleicht mal irgendeine „Weiterentwicklung“ an, sind aber auf jeden Fall für die generelle Beibehaltung und konsequente Durchsetzung der europäischen Schuldenbremse. Notwendig für den Zusammenhalt der Eurozone wäre allerdings das genaue Gegenteil: Eine schnelle Streichung des „Stabilitätspakts“. Recht verklausuliert kommt auch die Passage zur EZB daher: „Die EZB kann ihr Mandat, das vor allem dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist, dann am besten ausüben, wenn die Haushaltspolitik in der EU und in den Mitgliedsstaaten ihrer Verantwortung nachkommt. Verstehen lässt sich dieser Satz nur so, dass die EZB sich gefälligst wieder um die Inflation zu kümmern hat und nicht um die Staatsfinanzierung - die dann natürlich wieder den Banken und Finanzmärkten überlassen bliebe. Dass ein schneller Rückzug der EZB aus der Krisenfinanzierung auch angesichts der wirtschaftlichen Schäden durch Corona dramatische Folgen haben könnte, scheint egal zu sein (1, 2).

Fazit: Dieser Vertrag enthält Dutzende von Absichtserklärungen und einzelne wirtschaftspolitische Maßnahmen wie etwa die Erhöhung des Mindestlohns, die durchaus sinnvoll sind. Die großen Linien der Wirtschaftspolitik dagegen laufen allerdings in eine falsche, neoliberale Richtung: Unverändert setzt die Wirtschaftspolitik auf Wachstum und Export - und passt deshalb auch nicht zum ökologischen Anspruch der Ampel. Unverändert sieht sie Europa als Wirtschaftsraum Deutschlands und vertritt die Losung „Standort D - first“. Und unverändert sieht sie die Privatwirtschaft und den Markt als entscheidenden Akteur und den Staat eher als Dienstleister des Kapitals. Allerdings sind die hier beurteilten wirtschaftspolitischen Passagen ja nur ein Teil des Programms, der wiederum eng mit den klimapolitischen Vorhaben zusammenhängt, die in diesem Artikel nicht berücksichtigt wurden. Ob sich daraus insgesamt ein grün angestrichener Turbokapitalismus oder eine tatsächliche ökologische Wende ergeben wird, entscheidet sich auch an der Frage, wie konsequent die ökologischen Themen angegangen werden. Was wiederum davon abhängt, wer sich in den nächsten Jahren in der Koalition durchsetzen wird. Die relevante politische Auseinandersetzung wird mit einiger Sicherheit nicht zwischen Regierung und Opposition stattfinden, sondern innerhalb dieser Regierung selbst. Die Grünen haben in der letzten Phase der Koalitionsverhandlungen versucht, zur ihrer Unterstützung Umweltverbände und Fridays for Future zu mobilisieren. Eine sehr richtige Idee für eine Art „Doppelstrategie“ die vielleicht ein wenig den Weg weist. Ob die Regierungspolitik in Richtung ökologische Reformen oder in Richtung Greenwashing und Profitorientierung rutscht, wird immer auch von der Kraft der fortschrittlichen Bewegungen außerhalb des Parlaments abhängen. In diesem Sinne werden wir uns in einer weiteren Folge mit den klimapolitischen Kapiteln des Koalitionsvertagen beschäftigen.