Am Tag nach der Wahl waren die Medien so ratlos wie zuvor. Die ZEIT tat souverän und gab kund, dass von Trump kein Putsch zu erwarten sei. Nicht etwa, weil sich die demokratischen Kräfte als durchsetzungsstark erweisen würden, sondern: „Ein Coup erfordert eine intellektuelle Kompetenz, die dem Chaos-Mann abgeht.“ Mit dem Schrecken gerade so davongekommen, demonstriert Josef Joffe, Mitglied des US-Council on Germany, Vertrauter der US-Geheimdienste und ZEIT-Herausgeber, wieder die arrogante Verachtung für den Schnösel und Bildungsarmen im Weißen Haus, die Trump bei den Wahlen 2020 noch einmal acht Millionen Wähler mehr zugetrieben hatte. Die spanische Zeitung El Pais freute sich, dass mit Bidens Sieg der Vormarsch des Nationalpopulismus gebremst sei. Die Süddeutsche Zeitung war sich da auf ihrer Online-Seite nicht so sicher und zitierte Stimmen, nach denen Biden möglicherweise nur den „Trumpismus mit menschlichem Antlitz“ darstelle. Andererseits meinte sie, dass Trump nur ein „Ausrutscher der amerikanischen Geschichte“ gewesen sei. Das Handelsblatt sekundierte und gab sich überzeugt, dass Biden das „Heldenstück“ gelingen könne, das Land zu „versöhnen“. Im Übrigen sei seine Aufgabe, Kamala Harris für 2024 „weißehaus-reif“ zu machen.

Die Wahlen 1: Die Demokraten gewinnen das Weiße Haus und das Repräsentantenhaus, aber nicht den Senat – grundsätzliche Entscheidungen können blockiert werden.

Es gab die höchste Wahlbeteiligung seit vielen Generationen. Die Demokraten kamen bei der Präsidentschaftswahl auf 77,2 Millionen Stimmen, die meisten Stimmen, die je ein Präsidentschafts-Kandidat eingefahren hat. Trump erhielt 72,19 Millionen Stimmen, mehr als je ein unterlegener Bewerber erhalten hat. Biden hatte also ein Plus von 5,1 Millionen Stimmen. Der Abstand zwischen Hillary Clinton und Trump betrug 2016 drei Millionen (mehr für Clinton). Trump bekam acht Millionen Stimmen mehr als vor vier Jahren. Das bedeutet, dass sich das gewaltige rechtspopulistische Segment hinter Trump noch enorm vergrößert hat. Sagte man 2016, die Politik Trumps wird seinen Wählern schnell die Augen öffnen und dann werden sie die Nachteiligkeit und Abscheulichkeit des Trumpismus erkennen, so muss man 2020 konstatieren: Nie waren die Augen offener auf einen Kandidaten gerichtet als die der US-Wähler auf Donald Trump. Dessen ungeschlachtes, frauenfeindliches, erratisches Gehabe und seine reaktionäre Politik waren über vier Jahre das Hauptthema der US-Leitmedien. Wer Trump wählte, wusste, was er oder sie tat. 71 Millionen, fast die Mehrheit der US-Wählerinnen und Wähler, wählte ihn trotzdem oder eben deswegen. Sie entschieden sich bewusst für das Angebot einer nationalistischen, fremdenfeindlichen und sexistischen Politik.

Im Repräsentantenhaus verloren die Demokraten fünf Sitze, behalten aber die Mehrheit. Im Senat, der bisher von den Republikanern kontrolliert wurde, steht es derzeit unentschieden. Entscheiden werden die beiden Sitze, die im Januar 2021 in Georgia zur Wahl stehen. Vorne liegen die Kandidaten der Republikaner. Nur wenn der (unwahrscheinliche) Fall eintritt, dass die Demokraten beide Sitze erobern, wäre ein Gleichstand erreicht und hätten die Demokraten im Senat eine Mehrheit, weil dann die Stimme der Vorsitzenden des Senats, der Vizepräsidentin, entscheidet. Erzielen die Republikaner die Mehrheit, kann Biden kein Gesetz durch den Kongress bringen. Er wäre gezwungen, mithilfe von „executive orders“ zu regieren (die der Nachfolger jederzeit kassieren kann). Die Senatsmehrheit könnte das Abschließen internationaler Verträge ebenso verhindern wie die Ernennung von Richtern des Supreme Court und von Mitgliedern der Regierung. 

Die Wahlen 2: Zwei gesellschaftliche Blöcke stehen sich in allen Fragen schroff gegenüber

Die registrierte Wählerschaft der USA unterteilt sich zu drei fast gleichen Teilen in Demokraten, Republikaner und „Unabhängige“. Die Letzteren neigen zu ziemlich gleichen Teilen zu den beiden Parteien. Diese Gesamt-Wählerschaft unterscheidet sich fundamental in mehreren grundlegenden Bereichen.

Ethnische Zugehörigkeit: 30% der Gesamtwähler zählen zu nicht-weißen Ethnien (Latinos, Schwarze, andere = vor allem Asiaten). Die Republikaner erhalten nur 15% ihrer Stimmen von diesen Gruppen, die Demokraten hingegen 40%. Von den 69% weißer Wähler erhalten die Republikaner 81% ihrer Stimmen, die Demokraten aber nur 59%. Die Demokraten profitieren mithin von der ständigen demografischen Transformation – die nicht-weißen Gruppen haben eine höhere Geburtenrate, die Immigration bringt vor allem Latinos in die USA.

Lebensalter: 52% der US-Wähler sind über 50 Jahre. 56% der Republikaner-Stimmen entfallen auf diese Gruppe, bei den Demokraten sind es nur 50%.

Die Quote der Jüngeren, die ins höhere Alterssegment hineinwächst und dennoch bei ihrer alten Wahlentscheidung bleibt, wird relativ hoch sein, ebenso fällt die Sterbequote negativ für die Republikaner ins Gewicht. Auch beim Lebensalter spricht demnach die Demographie für die Demokraten.

Bildungsstand: 65 % der US-Wählen haben keinen Hochschul-Abschluss. Die Republikaner erhalten 70 % ihrer Stimmen aus diesem Potential, die Demokraten nur 59 %. Umgekehrt ist es bei den Stimmen derer mit College-Abschluss: Bei der Gesamtwählerschaft entfallen auf sie 36%, bei den Republikanern sind es nur 29%, bei den Demokraten aber 41%. Mit zunehmendem Akademisierungsgrad, der eine Folge der Transformation der Wirtschaft sein kann, wird die Attraktion der Demokraten größer.

Religion: 64% aller Wähler definieren sich als einer Religion zugehörig. 79% der Wähler der Republikaner gehören dazu, bei den demokratischen Wählern sind es nur 62%. Die Demokratische Partei ist die Partei der Nicht-Religiösen (relativ zu den Republikanern, keineswegs absolut). Da die Religionszugehörigkeit schnell abnimmt – seit den Wahlen 2008 um 20 Prozent – spricht auch dieser Faktor perspektivisch für die Demokraten. Diese strukturelle Chancenlosigkeit der Republikaner meinte Trump, als er äußerte, eine allgemeine Briefwahl, die vor allem von der urbanen Bevölkerung geleistet wird, wäre das Ende jeder Erfolgsaussicht für einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten.

Diesen unterschiedlichen Lebenslagen – Ethnie, Alter, Bildung, Religion – entsprachen die Prioritäten der Wähler bei den Präsidentschaftswahlen 2020.

  Trump Biden
Wirtschaft 66 84
Gesundheit/Pflege 44 82
Ernennungen Oberstes Gericht 64 66
Coronavirus Pandemie 24 82
Auswärtige Politik 50 53
Abtreibung 42 46
Klimawandel 11 68

Die größte Bedeutung maßen die Biden-Wähler der Wirtschaft, dem Gesundheitswesen, den Pandemie und dem Klimawandel zu. Hier gibt es auch die größten Unterschiede zu den Republikanern, die alle diese Punkte für nicht so wichtig fanden. Die Pandemie, deren fatales Nicht-Management liberale Medien als die größte Schwäche Trumps angesehen wurden, fanden republikanische Wähler nur von untergeordneter Bedeutung. Am Unwichtigsten ist dieser knappen Hälfte der US-Wähler der Klimawandel, den nur 11%, also nur jeder Zehnte für erwähnenswert hält, dann folgt die Pandemie, wo zumindest jeder Vierte in Sorge ist. Fragen, die entscheidend sind für das Weiterleben der Gesellschaft, jucken diese Wähler nur am Rande. Das ist ein erschütternder Befund für die öffentliche Meinungsbildung in den USA.

Fragen des Obersten Gerichts, der Auswärtigen Politik und der Abtreibung werden von beiden Parteigängern dasselbe Gewicht beigemessen. Das bedeutet aber keine Übereinstimmung in der Sache. In allen Fragen beziehen sie vielmehr völlig entgegengesetzte Positionen, mit Ausnahme der Außenpolitik. Diese grundsätzliche Verschiedenheit bekräftigen die Wähler bei der Frage nach den ur-amerikanischen Werten. 80% der Trump-Wähler und 77% der Biden-Wähler sagen Ja zu folgender Aussage: „Nicht nur haben wir verschiedene Prioritäten in der Politik, sondern wir sind (mit der anderen Partei) vollkommen uneins bei den fundamentalen amerikanischen Werten.“

So zerrissen die US-Nation auch in der Tagespolitik wie im Grundsätzlichen ist, so stark ist der Wunsch nach einer Zusammenführung der Pole. 89% der Biden-Wähler und 86% der Trump-Anhänger geben dem nächsten Präsidenten den Auftrag, die Bedürfnisse aller Amerikaner zu berücksichtigen, auch wenn das bedeutet, einige der eigenen Unterstützer zu enttäuschen. Nur jeder Zehnte in beiden Lagern ist dafür, sich nicht aufhalten zu lassen von Rücksichten auf Bedenken derer, die nicht für die eigene Partei gestimmt haben. (Aussagen und Zahlen a.a.O.) Ob sich diese Zusammenführung der sich aktuell geradezu feindselig gegenüberstehenden Gruppen verwirklichen lässt, oder ob die zugrundeliegende gesellschaftliche Entwicklung sie nicht eher weiter auseinandertreibt, wollen wir im Folgenden untersuchen.

Die objektiven Ursachen des Zerreißens der US-Gesellschaft

Es gibt vier dieser objektiven Ursachen der wachsenden Spaltung der kapitalistischen US-Gesellschaft , die wir hier nur kurz streifen können: 1) die Globalisierung; 2) die nahende Mehrheit der „Minderheiten“; 3) die Digitalisierung/Roboterisierung der Wirtschaft; 4) alles überwölbend: die rasant wachsende soziale Ungleichheit.

  • Die USA sind in mehrfacher Hinsicht von der Globalisierung betroffen. Zum einen waren die USA lange mit großem Vorsprung die Nr. 1 der Weltwirtschaft. Das hatte unter anderem zur Folge, dass sich die US-Wirtschaft die besten Plätze auf der Welt aussuchen konnte, wo sie am Profitabelsten investieren konnte. Das US-Kapital konzentrierte sich auf die Realisierung horrender Gewinne im globalen Finanzsektor und vernachlässigte dabei die reale Wirtschaft. Plätze in der Produktion wurden weniger geschaffen und die Konzerne verlegten die Arbeitsplätze vor allem der Industrieproduktion mit hohem Arbeiteranteil in Länder, wo die Arbeitskosten niedriger waren. Wären die Tausende Milliarden Dollar, die von den USA allein in Asien/Pazifik und in Lateinamerika investiert wurden, in Michigan, Wisconsin oder Ohio eingesetzt worden, dann gäbe es dort keinen Rust Belt, keinen Rostgürtel mit vielen Millionen Arbeitslosen. Gleichzeitig nutzen die USA ihre Sonderstellung aus, um mehr zu importieren als zu exportieren, sich also zu verschulden. Dies führte unter anderem zum Finanzcrash 2008, als Millionen Arbeiter ihre Hypotheken nicht mehr zahlen konnten und ihre Häuser verloren. Die USA fallen im globalen Wettbewerb immer weiter zurück. Schon längst erzielt China nach Kaufkraftparitäten ein erheblich größeres Bruttosozialprodukt als die USA[1]. Die Verschuldungsfähigkeit der USA wird weiter zurückgehen, die realen Einkommen der unteren Mittelklasse werden sinken. Die Hoffnungslosigkeit der Unterklasse hat ihren realen ökonomischen Grund. Sie spürt, dass die Versprechungen der politischen Klasse verlogen sind. Sie wendet sich Rechtspopulisten wie Trump zu.
  • Die ethnischen Minderheiten werden zur Mehrheit. Das Statistische Bundesamt der USA geht davon aus, dass ab Mitte 2020 Kinder, die keine weiße Hautfarbe haben, die Mehrheit der 74 Millionen Kinder im Land bilden. Voraussichtlich in den 2040er Jahren werden die Weißen nur noch 49% der Bevölkerung bilden, Latinos, Schwarze, Asiaten und multiethnische Gruppen die Mehrheit stellen. Das demographische Gesetz der USA lautet: Die Weißen werden zur Minderheit. Umso erbitterter klammern sich die Weißen der Mittel- und Unterschicht an das einzige Privileg, das sie zu haben meinen: ihre Hautfarbe.
  • Digitalisierung. Die Transformation der Wirtschaft in immer höhere technologische Dimensionen teilt die Wirtschaft scharf ein in solche, die dank ihrer Ausbildung zu den Gewinnern dieser Entwicklung gehören, und in jene, die den fortschreitenden Verlust ihrer wirtschaftlichen und sozialen Existenz erleben. Die Mehrheit der US-Bevölkerung ist ohne College-Bildung und verfügt deshalb über schlechtere Zukunftsaussichten. Ezra Klein stützt sich in “Der Tiefe Graben“ auf die Kategorien der fixierten und der fluiden Persönlichkeit. „Fluide“ sind solche Personen, die gesellschaftliche Strukturen befürworten, die es den Mitgliedern erlauben, eigene Wege durchs Leben zu finden; die zurechtkommen mit den rasanten Innovationen in der Wirtschaft, und die deshalb zu der Überzeugung tendieren, die Gesellschaft solle den Menschen mehr Spielraum zugestehen. Menschen mit fixierter Weltsicht haben mehr Angst vor potenziellen Gefahren, sie bevorzugen deshalb klare und feste Regeln, die sie vor den Bedrohungen schützen können. Noch 1992 waren Fixierte und Fluide unter den Wählern von Demokraten und Republikanern gleichermaßen verteilt. 2016 wählten 71% der „Fluiden“ die Demokraten, 26% waren Wähler der Republikaner. Umgekehrt bei den „Fixierten“: 60% waren für die Republikaner, 25% für die Demokraten. Klein zeigt, dass diese Zweiteilung der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten sehr stabil war.

Von den „Fixierten“ bezeichneten sich 84% als „konservativ“, von den „Fluiden“ 80% als „liberal“, die gängigen Attribute der beiden Parteien. Der rechtskonservative große Kern stellt seit Jahrzehnten die große Masse der republikanischen Wähler, und so hat es sich auch wieder in der Wahl 2020 erwiesen[2]. Die USA haben eine gewaltige soziale Basis für Rechtspopulismus, eine Flanke, die offen ist für eine faschistische Bewegung. Schon im Deutschland der dreißiger Jahre war der „absteigende Mittelstand“ die eigentliche soziale Basis für den deutschen Faschismus.

  • Die soziale Ungleichheit wächst in absurde Höhen. Der Abstand zwischen Super-Reich und unterem Mittelstand ist auf seinem historischen Höchststand. In den letzten fünf Jahren wuchs das Einkommen der obersten 1% fünfmal stärker als das der 90% am Boden, das Einkommen der obersten 0,1% fünfzehnmal stärker. In den Jahren zwischen 1979 und 2017 stieg das Einkommen der „unteren“ 90% des Landes um 22,2%, das der Top 1% um 157,3% und das der Top 0,1% und 343,2%. Die Produktivität der Gesamtwirtschaft wuchs sechsmal stärker als der Stundenlohn von ArbeiterInnen[3]. Dabei zeigt sich eine aufschlussreiche Dreiteilung der Gesellschaft: eine superreiche Oberklasse; eine Mittelklasse, deren oberer Teil am Wachstum in bescheidenem Maß teilhat, und eine Unterklasse, die seit Jahrzehnten bei miserablen Löhnen stagniert. 41% der US-Familien fallen in den Niedriglohnsektor. Hier haben wir die realen Grundlagen für die Bildung fluider oder flexibler Persönlichkeiten. Nur wer es sich leisten kann, ist fluid.

Fazit: Während die demographischen Faktoren für ein kommendes Überwiegen der Demokratischen Partei spricht, wirken sich die objektiven Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung eindeutig für ein Anwachsen der Republikaner und ihres nationalistischen, rechtspopulistischen Kerns aus. Die Produktion und Verteilung des wirtschaftlichen Produkts sorgen unter den kapitalistischen Vorzeichen der USA für absurden Reichtum der Wenigen und für Armut und Mangel bei großen Teilen der Arbeiterklasse. Das US-Kapital führt mit großem Vorsprung bei den modernsten Technologien. China ist auch in diesem Feld ein erfolgreicher Widersacher. In den USA werden bald nicht mehr nur alte Industriearbeitsplätze zum Export anstehen, sondern auch solche der Hochtechnologie. Die Probleme der Globalisierung schlagen durch auf weitere Bereiche der „Mittelklasse“. Die Angst vor sozialem Abstieg wird noch mehr Menschen erfassen, der Wettbewerb um die hochqualifizierten Arbeitsplätze wird härter, die Zahl der Verlierer größer. Die Spaltung wird sich vertiefen. Ein Trump 4.0 könnte die Basis schaffen für einen wenig verhohlenen Faschismus.  

Biden international – der Aufbau eines internationalen Rings gegen China unter US-Führung

Unter den knapp 100 Seiten der „2020 Democratic Party Platform“ entfällt nur ein Viertel auf die auswärtige Politik. Dies unter der programmatischen Überschrift „Renewing American Leadership“, Erneuerung der amerikanischen Führerschaft“. Der Vorwurf an Präsident Trump ist keineswegs, dass der zu hart und zu nationalistisch-einseitig in die Weltpolitik eingegriffen habe, sondern ganz im Gegenteil, „Trump hat sich zurückgezogen und unseren Gegnern erlaubt, diese Leere zu füllen“. Deshalb ginge es den Demokraten nicht einfach darum, „die amerikanische Führung wiederherzustellen. Wir müssen sie wiedergründen für eine neue Ära.“ Das ist keineswegs nur eine Frage der Diplomatie. „Wir werden sicherstellen, dass unser Militär keinen ebenbürtigen Gegner hat.“ Die Diplomatie soll jedoch das erstrangige Instrument der US-Interessenvertretung sein. Doch bevor irgendwelche neuen Handelsverträge ausgemacht werden, müsse in die Wettbewerbs-fähigkeit der US-Wirtschaft investiert werden. Zu lange habe das globale Handelssystem verfehlt, seine Versprechen an die amerikanischen Arbeiter zu halten. Jetzt werde man „die Einhaltung bestehender Handelsgesetze und Vereinbarungen aggressiv erzwingen“.

Und dann der zentrale Abschnitt: „Demokraten glauben, dass, wenn die USA nicht mit ihren Alliierten und Partnern daran arbeiten, die Bedingungen des globalen Handelns zu formen, dann wird das China für uns tun – und amerikanische Arbeiterfamilien und die Mittelklasse wird den Preis dafür zahlen. Deshalb werden wir mit unseren Alliierten daran arbeiten, über die Hälfte der Weltwirtschaft zu mobilisieren, um gegen China aufzustehen und von der stärkstmöglichen Position zu verhandeln.“ Der Hauptpunkt der Biden-Handelspolitik wird also sein, einen internationalen Ring zu schmieden, der Chinas Marsch an die Weltspitze unmöglich machen, jedenfalls aufhalten soll.

Europa behandelt die Plattform der Demokraten nach „Globale Wirtschaft und Handel“, nach „Afrika“, Lateinamerika“ und „Asien-Pazifik“ auf einer Seite. Die Demokraten „glauben, dass ein vereinigtes, demokratisches und prosperierendes Europa lebenswichtig ist für die USA“. Die Transatlantische Allianz sei die „Grundlage unseres globalen Einflusses“. USA und Europa bildeten die größte wirtschaftliche Beziehung der Welt“, die Nato sei die gewaltigste Militärallianz. Demokraten würden Europa unterstützen im Kampf gegen das „revanchistische Russland“. Zusammen mit Europa wäre man überlegen im Wettbewerb mit China. Sie würden mit Europa auch zusammengehen gegen die existenzielle Heraus-forderung des Klimawandels.

Nach Europa, als letzter im Riesenprogramm, kommt der Mittlere Osten. Hier rücken die Demokraten entschieden ab vom Kriegsprogramm der Trump-Regierung. Sie wollen sich diplomatisch mit dem Iran auseinandersetzen und dem Gemeinsamen Handlungsplan zur Einstellung des iranischen Atomprogramms wieder beitreten. Israel garantieren sie das Recht auf einen Staat mit anerkannten Grenzen, und sie wollen das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat hochhalten.

Sollte das Programm Wirklichkeit werden, würden die Biden-USA wieder dem Pariser-Klimaschutz-Abkommen beitreten ebenso wie dem Iran-Abkommen; sie würden ihre Partner mit Respekt behandeln, insbesondere die Europäer, die einen wichtigen Beitrag für die US-Dominanz in der Weltpolitik leisten; in der Handelspolitik müssen die Europäer allerdings mit einer harten Gegenposition der demokratischen Regierung rechnen, die bessere Bedingungen im globalen Austausch für die USA durchsetzen will. Als Richtschnur in den globalen Händeln dient Biden der Aufbau einer Gegenkraft gegen die Top-Rolle der Chinesen. Dies gibt den Grundton für das US-Vorgehen in der internationalen Politik an. 

„Präsident der Versöhnung“ heißt auch: Stopp der Linken

Biden wird von den internationalen Medien als Mann der Versöhnung gepriesen, als Heiler der durch Spaltung geschundenen amerikanischen Seele. Das war schon der emotionale Höhepunkt ihres Programms: „Die Seele Amerikas heilend“. Und so hat es Biden als gewählter Präsident – president elect – immer wieder bekräftigt. Die ihm gesonnenen Medien argumentieren, dass Biden es in vielen Schicksalsschlägen gelernt habe, mit Leid umzugehen. Er könne auch für Versöhnung der zwei heute feindlichen Lager sorgen.

Nun geht es aber nicht um Schläge des Schicksals, sondern um Schläge des Kapitals und dessen Staat. Wenn 40% der US-Familien zu den Beziehern von Niedriglöhnen zählen, hat nicht das Schicksal zugeschlagen, sondern Großkonzerne, die in einem gewerkschaftsschwachen Land solche Löhne durchdrücken, und der Staat, der vom Mindestlohn bis zur Besteuerung dafür sorgt, dass kapitalistischen Unternehmern der Staat freundlich zuwinkt, während er Arme und weniger Hochqualifizierte zu prekären und immer armseligeren Existenzen zwingt. Hier sind die Biden-Demokraten nicht qualifiziert und nicht willens, Hand anzulegen. Selbst im Wahlprogramm, das stets mehr in den Himmel projeziert als später eingehalten wird, selbst da ist nicht von „Medicare for all“ die Rede, sondern da heißt es: „Securing Universal Health Care Through a Public Option“, also man will die allgemeine Gesundheitsfürsorge nicht durch eine öffentlichen Krankenversicherung gewährleisten, sondern dadurch, dass neben die weiter privaten – und für die meisten unbezahlbaren – Krankenversicherungen auch eine „öffentliche Option“ treten soll.

Diese halbherzige und nicht zum Ziel führende Haltung nehmen die Demokraten in allen sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen ein. Ausdrücklich wird festgestellt, dass die US-Wirtschaft nicht im Interesse der Arbeiter funktioniert. Es werden Forderungen nach Erhöhung des Mindestlohns (bis 2026 15 $ pro Stunde) und nach Stärkung der Gewerkschaften gefordert. Nirgendwo aber geht es um eine Änderung der Entscheidungsgewalt in den Unternehmen, was die Linke in der Demokratischen Partei fordert, seit je aber von Biden und Harris abgelehnt wird, die solche Forderungen wie die rechte Propaganda als „sozialistisch“ zu brandmarken versuchen, der Argumentenkiller Nr. 1 in den USA. Nun, mit der flammenden Selbstverpflichtung, die Nation zu versöhnen, werden linke Forderung weiter an den Rand gedrängt, da sie doch angeblich der Versöhnung im Wege stehen.

Dies ist der Kardinalirrtum der Parteiführung. Alexandra Ocasio-Cortez, kurz AOC genannt, die markante Sprecherin der Linken, hat diese Haltung scharf kritisiert. Sie verlangte nach der Wahl, dass ganz im Gegenteil jetzt Fortschrittliche in die Parteiführung gehörten, weil diese konkrete Vorschläge hätten, die jetzt von Wert seien für die vom System Enttäuschten. (Der Guardian titelt: „AOC beendet den Waffenstillstand und warnt vor ‚inkompetenter‘ Demokratischer Partei“) Überall, wo das Movement for Black Lives und für den Green New Deal sich engagierten, konnten die Kandidaten der Demokratischen Partei siegen. AOC selbst hat ihren Sitz in New York mit 50 Prozentpunkten Vorsprung wiedergewonnen. Ebenfalls siegreich waren ihre drei engsten Mitstreiterinnen, die zusammen als The Squad einen linken Block in der mittleren Parteiebene bilden. Überhaupt waren die fünf Sitze, die im Repräsentantenhaus verlorengingen, bisher alle von sogenannten Moderaten gehalten worden. In Detroit und Philadelphia und Georgia lagen die Schwerpunkte der Black Lives-Matter Organisatoren, die sich auch in den Wahlkampf einschalteten. Überall erfolgreich, in Detroit erhielt Biden 94% der Stimmen.

Die oberste Parteiführung wird diesen Überlegungen nicht folgen. Biden hat sich seit Jahrzehnten ausgewiesen als ein Politiker, den man in Deutschland als „rechten Sozialdemokraten“ bezeichnen würde, abgesehen von seiner Haltung als strammer Militarist, der von den „Kriegsinterventionen“ in Afghanistan, Irak oder Libyen wie auch bei den Drohnenkriegen immer an vorderster Stelle mit dabei war – einem rechten deutschen Sozialdemokraten würde das schwerer fallen. Kamala Harris war vor ihrem Senatorenamt Generalstaatsanwältin von Kalifornien. Ihre Bilanz ist durchwachsen. Als Staatsanwältin war sie gewissermaßen von Amts wegen für law and order, tat sich vor allem gegen Eltern von Schulschwänzern und -abbrechern hervor, die in der Regel Schwarze waren. Im Senat hat sie Sanders´ Initiativen für einen öffentlichen Gesundheitsdienst unterstützt und sich im Justizausschuss des Senats scharf mit Trumps Justizminister Barr angelegt. Dennoch kann sie nicht dem linken Lager zugeordnet werden. Sie hat Biden als Präsidentschaftskandidat gegen Sanders und Warren unterstützt. Sie scheint in erster Linie an ihrer Karriere interessiert und wird mit Sicherheit auf eine Präsidentschafts-Kandidatur 2024 hinarbeiten. Die will sie, wie es aussieht, als Frontfrau der Parteirechten erreichen.

Fazit: Die Republikanische Partei wird, so gut es irgend geht, jeden Vorschlag Bidens sabotieren wollen, besonders die vernünftigen. Sollte sie die Mehrheit im Senat erzielen, erleben wir ein sich selbst blockierendes politisches System wie in der zweiten Amtszeit Obamas. Präsident Biden wird hinter der Fahne „Versöhnung“ auf die Republikaner zugehen, womit sich die Demokratische Partei weiter von der Arbeiter- und Mittelklasse entfernt. AOC formulierte es so: Wenn die Partei ihre progressive Graswurzelmaschine nicht in sich einbauen kann, dann wird sie den Weg ins Verlieren beschreiten. AOC sieht auch etwas Positives: „Ich glaube, das Zentrale am Wahlausgang ist, dass wir nicht mehr im freien Fall zur Hölle sind.“ Aber dann: „Der Anteil weißer Unterstützung für Trump, das allein zeigt einem, was für eine Arbeit wir noch leisten müssen.“


[1] Conrad Schuhler, Wie weit noch bis zum Krieg. Köln 2020, S. 28ff, S. 43f. [2] Ezra Klein, Der tiefe Graben. Hamburg 2020, S. 84f [3] Conrad Schuhler, Wie weit noch bis zum Krieg. Köln 2020, S. 18