Am 8. April wurde der Lockdown in der chinesischen Stadt Wuhan aufgehoben. 76 Tage hatte er gedauert, die Menschen in der 11-Millionen-Metropole waren in dieser Zeit fast völlig isoliert. Mit 67.000 Corona-Fällen waren die Provinz Hubei und die Provinzhauptstadt Wuhan das Epizentrum des Corona-Ausbruchs in China. Regierung und Behörden gehen davon aus, dass sie das Virus nach den umfangreichen Vorsichts- und Quarantänemaßnahmen im Griff haben. „Inlands-Infektionen“ werden kaum noch gemeldet. Probleme bereiten die eingeschleppten Infektionen durch Rückholung chinesischer Staatsbürger, insbesondere Studenten, die ihr Studium z.B. in den USA abbrechen, weil sie sich zuhause sicherer fühlen. Auch die zahlreichen Landwege nach China bringen Gefahren mit sich. China hat dreimal so viele Einwohner wie die EU, die Fläche ist zweieinhalb Mal so groß wie die aller EU-Länder zusammen.
Seit Mitte März versucht die chinesische Regierung, die Produktion wieder hochzufahren, den Shutdown der Betriebe zu beenden. Ein Unterfangen, das sich als schwieriger herausstellt als das Ankurbeln der Konjunktur nach der Finanzkrise 2008/09.
Finanzkrise 2008/09: Krise als Chance
Das Wort “Krise” setzt im modernen Chinesisch aus zwei Schriftzeichen zusammen: 危机. Das erste (wei) bedeutet „Gefahr“, das zweite (ji) „günstige Gelegenheit“. Die Jahre 2008 bis 2010 standen für China ganz im Zeichen dieser Doppeldeutigkeit. Ausgelöst von der durch die USA verursachten globalen Finanzkrise (Platzen der Immobilienblase; subprime Hypotheken) begann das Jahr 2009 mit einem gefährlichen Einbruch des chinesischen Exports, für China damals ein überragender Wachstumsmotor. Tausende kleine und mittlere Firmen, die für den Export produzierten, mussten schließen. Etwa zwanzig Millionen Wanderarbeiter verloren ihren Job und mussten in ihre Heimatdörfer zurückkehren.
Im Frühsommer 2009 schaffte die chinesische Regierung mit einem gigantischen, noch nie dagewesenen Konjunkturprogramm – Umfang: 14% des BIP – den turnaround. Das Wachstum beschleunigte sich wieder und der Rest des Jahres geriet zur Erfolgsstory für Chinas Wirtschaft. Von allen Ökonomien der Welt meisterte sie die Weltwirtschaftskrise am besten. Während bei fast allen kapitalistischen Industrieländern das BIP 2009 schrumpfte – Deutschland minus 5,7% -, wies die chinesische Wirtschaft für 2009 einen spektakulären Zuwachs von 9,1% auf. 2010 rückte China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Erde auf und verwies Japan auf Platz drei. Mehr noch. Die gigantischen Investitionen in Chinas Infrastruktur erforderten riesige Mengen an Rohstoffen und Energiestoffen und lösten damit einen Nachfrage-Boom nach Rohstoffen aus, der Schwellen- und Entwicklungsländer aus dem Krisensumpf zog und prosperierende Jahre bescherte.
In der Weltwirtschaft funktionierte in den Folgejahren ein innerer Zirkel bzw. Akkumulations-Regime, das sich grob so formulieren lässt: Deutschland exportierte: vor allem Maschinen, Ausrüstungen, Autos – China importierte Investitionsgüter + Autos, baute seine Industrie aus und produzierte für den Weltmarkt – die USA konsumierten, großteils auf Pump. Die Krisenbewältigung erfolgte damals weitgehend in Kooperation der ökonomischen Hauptmächte USA und China. Auch die USA legten ein gewaltiges Konjunkturprogramm – Umfang: 5% des BIP – auf; die Konjunkturpakete Japans und Deutschlands waren vergleichsweise bescheiden: jeweils 2% des BIP.
Es war der letzte Akt von „Chimerica“, einer Wortschöpfung des US-Historikers Niall Ferguson, die ein symbiotisches Verhältnis zwischen den Volkswirtschaften der USA und Chinas ausdrückte.
Auf politischer Ebene erklärte Präsident Obama China zum „wichtigsten Partner“ der USA. Kein bilaterales Verhältnis in der Welt sei so wichtig wie die Kooperation zwischen Washington und Peking. „Die Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und China wird das 21. Jahrhundert prägen“. Und: „Wir werden zusammen aufsteigen oder untergehen“.
Der marxistische Historiker Eric Hobsbawn warnte schon damals vor der Chimäre (Trugbild) „Chimerica“. In einem Stern-Interview sagte er 2009:
Jedenfalls hat China die weltweite Erholung nach der Finanz- und Wirtschaftskrise genutzt und ist zur ökonomischen Weltmacht aufgestiegen. 2009 hatte das chinesische BIP einen Anteil von gut einem Drittel (34%) am US-amerikanischen; zehn Jahre später, 2019, hat sich der Abstand wesentlich verringert: der chinesische Anteil beträgt 68%, mehr als zwei Drittel (14,18 Billionen Dollar zu 20,99 Bio.$). 2009 lagen die USA auch im BIP gemessen nach Kaufkraftparitäten vorne: Chinas Anteil betrug nur 61%; 2019 waren die Verhältnisse umgekehrt: China war beim BIP nach Kaufkraftparitäten zur ökonomischen Supermacht aufgestiegen: 26,82 Billionen Dollar; die USA brachten es nur auf 20,99 Billionen = ein Anteil von 78 Prozent. China war damit für die USA endgültig vom „Partner“ zum „strategischen Rivalen“ geworden.
Corona-Krise 2020: Gefahren und auch Chancen
Der Ausbruch der Corona-Krise, elf Jahre nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, trifft auf eine weitgehend veränderte politische und geopolitische Konstellation. Statt Kooperation der mächtigsten Staaten, dominiert Konfrontation. Statt Vertrauen herrscht Misstrauen in den internationalen Beziehungen. Die Gesundheits-Seuche verschlimmert sich durch das verseuchte politische und ökonomische Klima. US-Präsident Trump hat mit Beginn seiner Amtszeit einen Handels- und Wirtschaftskrieg vom Zaun gebrochen, der sich primär gegen China richtet. Er hat den Globus mit einem Netz von Sanktionen und Boykotten überzogen. Er hat völkerrechtlich verbindliche Abkommen wie das Iran-Atomabkommen gebrochen und ist aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen. Er hat das INF-Abkommen zerrissen und modernisiert mit zig-Milliarden Dollar die US-Atomwaffen. Auch die START-Abkommen (Strategic Arms Reduction Treaty) sind in Gefahr. Die USA verpulvern 38% der Welt-Rüstungsausgaben.
Das alles vergiftet die politische Atmosphäre und begünstigt damit die Ausbreitung des Coronavirus, weil kaum Informationen und Erfahrungen ausgetauscht werden, keine solidarischen Hilfestellungen stattfinden, usw.
Statt sino-amerikanischer Zusammenarbeit, wie bei der Finanzkrise, setzt Washington jetzt auf Schuldzuweisungen bezüglich des Ausbruchs der Pandemie, Angriffe auf die WHO und den finanziellen Boykott dieser UNO-Institution. Zu einem koordinierten globalen Krisenmanagement ist die Administration des mächtigsten Landes der Erde weder willens noch fähig.
China wurde als erstes großes Land von der vollen Wucht der Corona-Epidemie getroffen. Hier war das Virus als erstes aufgetreten. Das Land hatte – nach anfänglichem Zögern – konsequent und mit umfangreichen Maßnahmen reagiert: mit wochenlangen Lockdowns und Shutdowns insbesondere in den Krisenzentren, allen voran der Provinz Hubei. Das öffentliche und wirtschaftliche Leben war dadurch zum Teil zum Stillstand gekommen. Chinesische Wissenschaftler und Politiker rechtfertigten die rigorosen Maßnahmen: wäre die Eindämmung nicht gelungen, wäre es zu einer Katastrophe mit Hunderttausenden Toten in dem bevölkerungsreichsten Land der Erde gekommen. Gegen die Einforderung von Freiheitsrechten machen sie das Menschenrecht auf Leben und Gesundheit geltend.
Die Ausbreitung der Pandemie in den westlichen Ländern gibt ihnen Recht: Stand 28. April sind dreiviertel der weltweiten Infektionen sind in Nordamerika und Westeuropa registriert (USA eine Million = 1/3). Durch die anfängliche Leugnung der Gefahr durch US-Präsident Trump („nicht schlimmer als Grippe“), durch die verspäteten und laschen Quarantänemaßnahmen, konnte sich das Virus in den USA weitgehend ungehindert ausbreiten. Die Bilanz nach wenigen Wochen ist erschreckend: 58.000 Corona-Tote (Stand 28. April); so viel US-Tote wie im Vietnamkrieg.
In China sind 4.650 Menschen an Covid-19 gestorben (Stand 28. April). Pro 1 Million Einwohner sind das 3,3 Menschen; in den USA sind es bei 58.000 Todesfällen 177 pro eine Million Einwohner, also über 50mal so viel. Und das Sterben geht weiter. Täglich infizieren sich in den USA über 30.000 Bürger des Landes neu – in China nur noch 10 bis 15. Man stelle sich vor, China wäre genauso lasch gegen das Virus vorgegangen wie die USA. Bezogen auf die mehr als viermal so große Bevölkerung als in den USA, wären dann eine Viertel Million Tote zu beklagen. Ein hysterischer Aufschrei ginge durch die westlichen Medien.
So aber hat China infolge seiner Vorreiterrolle und sein konsequentes Eingrenzen des Virus der Welt wertvolle Zeit verschafft. Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité: China habe der Welt „sicher mehrere Wochen Zeit verschafft, und zwar durch seinen heroischen epidemiologischen Akt“. Zum gleichen Ergebnis kommt auch die „WHO-China Joint Mission“ mit 25 Experten – darunter auch zwei US-Amerikaner – , die vom 16. bis 24. Februar in China weilte und Feldstudien in Peking, den Provinzen Guangdong, Sichuan und Hubei durchführte. (Trump hatte Anfang April kritisiert, dass die WHO angeblich keine Delegation zur Untersuchung der Lage nach China geschickt habe. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass im Februar, auf dem Höhepunkt der Pandemie eben diese Mission sich in China vor Ort aufhielt).
Jetzt muss allerdings festgestellt werden: Der Westen hat die gewonnene Zeit nicht genutzt, um sich epidemiologisch gründlich vorzubereiten. Erst als sich das Virus in Westeuropa und dann in den USA seuchenhaft ausbreitete, wurden Maßnahmen ergriffen. Die chinesischen Erfahrungen beim Kampf gegen Corona wurden in den Wind geschlagen. Stattdessen wurden Sündenböcke gesucht. Aufschlussreich ist auch diese Zahl: Zieht man von den insgesamt Infizierten eines Landes die Zahl der Genesenen ab, erhält man die Zahl der aktuell Infizierten: in China sind das noch knapp tausend (985), in Deutschland 37.000, in den USA aber 804.000.
Daraus wird deutlich, dass China im Wesentlichen über dem Berg ist – die USA aber haben einen Berg von Infizierten noch vor sich. Aber auch in China ist Corona nicht überwunden, sondern nur eingedämmt. Diese Eindämmung war allerdings die Voraussetzung, dass Produktion und Wirtschaft ab Mitte März wieder angefahren werden konnten. Das bedeutet aber auch, dass es noch kein Alltagsleben wie vor der Krise gibt: Weiterhin Atemschutz, Abstandsregeln, Quarantäne für Einreisende und wo Fälle auftreten, Nachverfolgung der Ansteckungsketten (auch mit dem zu Recht umstrittenen handy-tracing und -ortung), Testen so oft wie möglich, und und und…
Der Preis des Shutdowns
Der Schaden des Shutdowns für die chinesische Wirtschaft ist gewaltig. Seit 1992 werden Quartalszahlen für das BIP und wichtiger ökonomischer Indikatoren veröffentlicht. Seither gab es kein einziges Quartal mit negativem BIP. Doch das erste Quartal 2020 verzeichnete einen Rückgang des BIP von 6,8 % gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum. Das Minus bedeutet einen Verlust von 203,4 Mrd. Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt der zentralchinesischen Provinz Hubei, die am härtesten von der Corona-Epidemie getroffen wurde, schrumpfte nach Angaben des Statistischen Amts der Provinz im ersten Quartal um 39,2 Prozent. Das verfügbare Einkommen der Stadtbewohner minderten sich im Vierteljahreszeitraum um 11,1%.
Die weiteren ökonomischen Parameter zeigen nicht minder deutlich, wie tief der Einbruch der chinesischen Ökonomie im ersten Quartal war:
- Industrie: Die industrielle Wertschöpfung schrumpfte um 8,4%. In den Monaten Januar/Februar betrug der Rückgang 13,8%. Im März ging es also bereits wieder aufwärts: + 9,9%.
- Dienstleistungen: Sie verzeichneten im ersten Quartal einen Rückgang um 5,2%. Betroffen war vor allem das Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, der Reise- und Verkehrsbereich.
- Investitionen: Die Anlageinvestitionen sind in den Monaten Januar/Februar um 25 Prozent zurückgegangen, zogen aber im März wieder stark an. Für das erste Quartal blieb aber immer noch ein Minus von 16,1%. Die Infrastrukturinvestitionen verzeichneten ein Minus von 19,7%.
- Außenhandel: Auch der Außenhandel erholte sich im März teilweise. Betrug der Rückgang für die ersten zwei Monate im Jahr 9,6%, so waren es für das erste Quartal „nur“ noch 6,4%. Die Exporte schrumpften um 11,4%, die Importe blieben fast gleich: – 0,7%. Während der Handel mit der EU um 10,4% zurückging (876 Mrd. Yuan), der mit den USA um 18,3% sank (auf 668 Mrd. Yuan), stieg der Handel mit den ASEAN-Staaten um 6,1%. Die Assoziation von zehn Staaten (Brunai, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam) wurde mit 991 Mrd. Yuan Chinas größter Handelspartner.
- Einkommen, Einzelhandelsumsätze: Chinas durchschnittliches individuelles verfügbares Einkommen ging im ersten Quartal um 3,9% zurück und war damit nach Angaben des Nationalen Statistikamtes (NBS) widerstandsfähiger als der Rückgang des BIP.
Die Einzelhandelsumsätze brachen im Jahresvergleich um 19 Prozent ein. Daraus – moderat gesunkene Einkommen und stark reduzierte Einzelhandelsumsätze – müsste ein erheblicher Nachfragstau resultieren, der evtl. im zweiten Quartal zur Geltung kommt. Die Pro-Kopf-Konsumausgaben gingen im ersten Quartal um 12,5% zurück. Die Automobilverkäufe verringerten sich um 30,3%.
- Beschäftigung, Arbeitslose: In den beiden ersten Monaten des Jahres lag die städtische Arbeitslosigkeit bei 6,2% (nach NBS) und war damit für chinesische Verhältnisse sehr hoch. Im Durchschnitt der letzten Jahre lag sie bei 4,0 bis 4,5%. Für das erste Quartal ging die Arbeitslosenquote auf 5,9% zurück, da im März eine Reihe von Klein- und Mittelunternehmen (KMU) wieder angefahren wurden. Probleme bereiten vor allem das Millionenheer der Wanderarbeiter und die Hochschulabsolventen. Von den 290 Millionen Wanderarbeitern in China verlassen mehr als 172 Millionen ihre Heimatdörfer und arbeiten in städtischen Gebieten. Laut NBS hatten davon bis Ende Februar erst 122,5 Millionen ihre Arbeit wieder aufgenommen.
Eine weitere Herausforderung sind die Hochschulabgänger. Mit 8,74 Millionen neuen Absolventen in diesem Jahr ist es die bislang höchste Zahl. Auch für sie müssen Arbeitsplätze geschaffen werden. Im ersten Quartal stiegen die Bewerbungen neuer Hochschulabsolventen um fast 70 Prozent, während die offenen Stellen um etwa 17 Prozent zurückgingen, heißt es im CIER-Bericht (China Institute for Employment Research). Die chinesische Regierung hatte sich in diesem Jahr zum Ziel gesetzt, 11 Millionen neue Jobs zu schaffen (im vergangenen Jahr wurden 13,52 Millionen Arbeitsplätze geschaffen). Trotz Corona-Krise und Shutdown entstanden im ersten Quartal 2,29 Millionen neue Arbeitsplätze.
Neustart der Produktion
„China ist dem Rest der Welt voraus, was die Auswirkungen des Coronavirus betrifft“, erklärte die IWF-Chefin Kristalina Georgieva. „Nachdem sie Eindämmungsmaßnahmen ergriffen haben, die das Wachstum im ersten Quartal stark gebremst haben, steigern sie nun die Produktion“. Der „Vorteil China!“ liegt nicht nur im zeitlichen Vorsprung, sondern auch in der Tatsache begründet, dass der chinesische Shutdown nicht mit konjunkturellen Problemen überlagert war. Die Fundamentaldaten der chinesischen Wirtschaft sind solide. Das letzte Quartal vor der Corona-Krise (IV/2019) hatte ein Wachstum von 6,1% aufgewiesen; für das Gesamtjahr 2020 waren 6 Prozent angepeilt. Anders die führenden kapitalistischen Industrieländer: Sie haben nicht nur mit den Auswirkungen der Corona-Krise zu kämpfen; sie werden zusätzlich erschüttert durch die Verwerfungen einer Triple-Krise: Corona, Rezession, Finanzkrise. „Das Virus war nicht die Ursache, sondern Auslöser und Verschärfer des Crashs“. In diesen Tagen wird deutlich, welch wuchtiges Krisenpotenzial sich in den vergangenen Monaten angestaut hat. Ein Wiederanfahren der Ökonomie dürfte in diesen Ländern mit erheblichen zusätzlichen Schwierigkeiten verbunden sein.
Dennoch reicht es auch bei der chinesischen Wirtschaft nicht aus, für den Neustart einfach den Schalter wieder umzulegen. Man kann ein Land nicht schließen und dann wieder aufsperren wie eine Fabrikhalle, zumal das Neuanfahren der Produktion mit zusätzlichen gesundheitspolitischen Bestimmungen und Vorgaben und Vorkehrungen verbunden ist. Stefan Sommer, VW-Vorstand Komponenten und Beschaffung: „China liefert die Blaupause für unseren Neustart. Wir haben teilweise gesundheitliche Schutzmaßnahmen übernommen, die in China erfolgreich waren.“
Ende Februar hatten rund 60 Prozent der großen Konzerne in China die Produktion wieder angeschoben, unter den kleinen und mittelgroßen Unternehmen (KMU) waren es erst 30 Prozent. Der Europäische Handelskammerpräsident in Beijing, Jörg Wuttke: „Der Neustart geht nach Plan, die Chinesen rollen ihr Programm aus“. Mitte März haben die meisten ausländischen Firmen ihre Tätigkeit wieder aufgenommen. Während VW am 17. März die meisten Werke in Europa schloss, wurden sie zum gleichen Zeitpunkt in China wieder hochgefahren. 31 von 33 VW-Fabriken in China produzierten wieder. Der VW-Absatz in China war in den Wochen davor um 80% eingebrochen, für April rechnet VW bereits mit 80% des Vorjahresniveaus. „China ist wahrscheinlich der Markt, der in der Krise das Leitmotiv ist“, sagt VW-Vertriebsvorstand Jürgen Stackmann.
Bis Mitte April haben 99 Prozent der chinesischen Unternehmen die Produktion wieder aufgenommen, 94 Prozent der Beschäftigten sind zur Arbeitsstelle zurückgekehrt.
Nach Ansicht von Professor Stephen Roach, Forscher an der Yale-Universität und ehemaliger Vorsitzender von Morgan Stanley Asia, wird die verheerende Viren-Krankheit die grundlegende Stärke der chinesischen Wirtschaft nicht beeinträchtigen.
Ein Hemmnis ist zweifelsohne die Zurückhaltung bei den Konsumausgaben. Durch den Schock der Epidemie haben die Verbraucher wieder mehr gespart. Die Provinzregierungen versuchen nun, durch Konsum-Gutscheine (Voucher) den Verbrauch zu stimulieren. Große Konjunktur- und Infrastrukturprogramme wurden bislang nicht aufgelegt, lediglich die Investitionen in die digitale Infrastruktur – 5G-Netze, KI, autonomes Fahren – sollen ausgeweitet und beschleunigt werden. Und Ausgaben in die medizinische Infrastruktur und Medizintechnik werden erhöht.
„Die Produktion wird sich in China im zweiten Quartal und für den Rest des Jahres deutlich erholen“, meint auch Jeffrey Sachs, Wirtschaftsprofessor an der Columbia-Universität und leitender Berater der UNO. „Die wirtschaftliche Erholung Chinas wird letztlich davon abhängen, ob es einem großen Teil der Welt gelingt, die Epidemie auf kohärente Weise zu überwinden“, sagt Sachs. Das aber ist genau das Problem. Denn die Zentren des Metropolen-Kapitalismus haben es nicht nur mit der Pandemie zu tun, sondern mit der größten Rezession seit der Weltwirtschaftskrise vor 110 Jahren, wie der IWF meint.
Corona-Krise und Rezession schaukeln sich gegenseitig auf, verstärken sich und werden noch überlagert von der Klima-Katastrophe, wie sie sich in dem milden Winter und der Dürre-Periode im Frühjahr offenbarte. Die Krisen und die damit verbundenen Arbeitsplatz- und Einkommensverluste werden die Kaufkraft der Menschen enorm schwächen – auch die Konkurse der vielen Klein- und Dienstleistungsbetriebe, die Gaststätten-, Reise- und Veranstaltungsbranche tragen dazu bei. Das hat sicherlich auch Auswirkungen auf das Wiederanfahren der chinesischen Wirtschaft. Nach dem Angebotsschock im ersten Quartal trifft das Land jetzt zusätzlich eine Erschütterung der Nachfrage aus dem kapitalistischen Ausland. Da nützt es wenig, die Lieferketten nach Europa wiederaufzubauen, wenn die Lieferungen nicht mehr in früherem Ausmaß gebraucht werden. Die Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) sind, China betreffend, dennoch optimistisch.
Die entwickelten Volkswirtschaften werden voraussichtlich um 6,1 Prozent schrumpfen, meint der IWF, die Schwellen- und Entwicklungsländer um ein Prozent. Die gesamte Weltwirtschaft wird demzufolge um drei Prozent zurückgehen. Für China prognostiziert der Währungsfonds ein positives Wachstum, zwischen 1,2 und zwei Prozent. Für 2021 sagt der IWF für China gar ein Wachstum von 9,2% vorher – resultierend aus Nachholeffekten. Das werde, so der IWF, nicht nur der chinesischen, sondern auch der Weltwirtschaft helfen. China werde dann über 40% des Weltwirtschaftswachstums generieren.
Neue Herausforderungen (Thesen)
Die globale Vierfach-Krise – Corona, Rezession, Finanz-Crash, Klima – stellt Herausforderungen in neuen Dimensionen. Möglicherweise ergeben sich tektonische Verschiebungen in der Weltwirtschaft und Weltpolitik. Hier seien nur einige Probleme im Hinblick auf unser Thema „Neustart Chinas“ in Thesen angerissen – auch als Anregung zur Diskussion.
1. Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft
Kommt es, wie der IWF erwartet, zu erheblichen Schocks und Schrumpfungen der westlichen Ökonomien, bei gleichzeitigem Wachstum der chinesischen Wirtschaft, dann hat das eine erhebliche Verschiebung der Gewichte in der Weltwirtschaft zur Folge. Aber nicht nur in ökonomischen Werten, sondern auch in ideologisch-systemischen Wertungen. Die Marktwirtschaft ist nicht „das Ende der Geschichte“, sondern gelangt zusehends an ihr geschichtliches Ende.
Es dürfte auch ein ähnlicher Effekt wie nach der Finanzkrise eintreten: Stagnation bei den kapitalistischen Industrieländern, spürbares Wachstum der chinesischen Wirtschaft. Nach Kaufkraftparitäten gemessen ist die chinesische Wirtschaft mit einem Anteil von 19% bereits heute die größte in der Welt. China wird zu der Wachstumslokomotive der Weltwirtschaft, vor allem im Hinblick auf die Schwellenländer.
Für Investoren – sowohl Direktinvestoren als auch Finanzinvestoren und für Exporteure bleibt China das gelobte Land mit lukrativen Anlage- und Verwertungsmöglichkeiten, zumal der chinesische Binnenmarkt weiterhin stark expandiert: durch neue städtische Mittelschichten, Beseitigung der Armut, Urbanisierung.
2. Globalisierung und De-Coupling
Ausgehend vom Corona-Schock wird es – zumindest in strategischen Bereichen – zu einer Modifizierung der Liefer- und Wertschöpfungsketten kommen: Einmal Diversifizierung und Risikoverteilung, zum anderen Regionalisierung; z.B. weitgehend bezogen auf den EU-Raum, südostasiatischen Wirtschaftsraum und nordamerikanische Region.
VW bezieht schon jetzt aus 8000 Produktionsstandorten in Europa Teile für seine Autos – insgesamt 600.000 Teilenummern. „Fehlt ein wichtiges Teil, kann man das Auto nicht fertigstellen“, sagt Komponenten-Vorstand Stefan Sommer. Das drängt auf Diversifizierung. Andererseits ist es durch den Stillstand in China zu keinen Problemen gekommen, da Schiffsladungen mit Teilen noch unterwegs waren. „Und jetzt, wo die Werke in China wieder produzieren, können wir Teile auch über Luftfracht oder über die neue Seidenstraße über die Schiene schneller bekommen“. China hat nach wie vor einen erheblichen Kostenvorteil. Eine komplette Fahrzeugfertigung „zu 100 Prozent pandemiesicher zu machen, kann ich mir nicht vorstellen“, sagt Stefan Sommer. „Das funktioniert nicht. Es gibt jetzt wegen der Corona-Situation Reflexe, es anders zu machen, aber das ist aus meiner Sicht nicht nachhaltig“.
Die USA betreiben schon seit einiger Zeit die Politik des „De-Coupling“ der Abkoppelung von anderen Wirtschaftsräumen, insbesondere von China und der Schaffung eines weitgehend autarken Wirtschaftsblocks. Die US-Konzerne werden von Trump aufgefordert, die Produktion in die USA zurückzuverlagern.
- Seidenstraße: China wird die „Globalisierung auf Chinesisch“ über die Neue Seidenstraße weiter vorantreiben, von Südostasien über Zentralasien bis nach Europa; zu Land mit zwei Hauptsträngen und die maritime Seidenstraße.
- ASEAN+3: Regionalisierung südostasiatischer Wirtschaftsraum: Wie bereits oben aufgezeigt, hat im ersten Quartal Chinas Außenhandel mit den ASEAN-Staaten trotz Krise zugenommen – während er mit dem Westen schrumpfte. Die Zehn-Staaten-Assoziation ist zum wichtigsten Handelspartner von China aufgerückt. Jeffrey Sachs empfiehlt China, „sehr eng mit den asiatischen Nachbarn zusammenzuarbeiten“, um eine Region zu schaffen, in der „Covid-19 fest unter Kontrolle ist und der Handel wieder aufgenommen wird“. Weiter betonte er: „Dies ist eine wichtige Zeit für ASEAN+3, um wirtschaftlich zu arbeiten, da alle Länder von ASEAN+3 die Chance haben, die Epidemie einzudämmen und die ostasiatische Wirtschaft am Laufen zu halten“. ASEAN+3 steht für die zehn Staaten der Assoziation, plus China, Japan und Südkorea: eine Bevölkerung von insgesamt 2,2 Milliarden. Allesamt haben sie sehr niedrige Covid-19-Infektionsraten, die nur einen Bruchteil derer von USA und Westeuropa ausmachen.
3. Verstärkte Binnenmarkt-Orientierung
China hat in Bälde den größten Binnenmarkt der Welt. Die Exportabhängigkeit ist seit der Finanzkrise stark gesunken: Wurden damals noch etwa 30 Prozent des BIP exportiert, sind es heute nur noch 18 Prozent. Und was die Binnenmarktorientierung erleichtert: China hat das vollständige System der verarbeitenden Industrie, und einige Industriezweige haben die zusätzlichen Vorteile ganzer Industrieketten. Einige wichtige Kettenglieder fehlen allerdings noch, insbesondere im Bereich der Mikroprozessoren, was US-Sanktionen nach wie vor sehr wirksam macht. Stephen Roach: „Der Konflikt mit den Vereinigten Staaten war ein offensichtlicher und wichtiger Weckruf für Chinas Ziele, sich eine selbsttragende Kultur der einheimischen Innovation aufzubauen“.
Die Vorteile geschlossener Industrieketten haben die weitgehend deindustrialisierten USA bei ihren Autarkiebestrebungen nicht. Ihre Technologie- und Spitzenkonzerne sind nach wie vor auf globale Wertschöpfungsketten angewiesen. Befeuert wird der chinesische Binnenmarkt durch die gewachsenen Konsumausgaben: Sie tragen inzwischen 57 bis 59% zum BIP-Wachstum bei. Hinzu kommen jetzt in der Krise zahlreiche staatliche Stimuli, wie z.B. Konsumgutscheine, steuerliche Erleichterungen und Ausbau des Systems der Sozialversicherung.
4. Vom Wirtschaftskrieg zum neuen Kalten Krieg
Schon vor der Corona-Krise erklärte Trump China den Handels- und Wirtschaftskrieg. Mit Strafzöllen und Sanktionen sollte der weitere Aufstieg Chinas zur Technologiemacht torpediert werden. Die Attacken zielten vor allem auf die chinesischen Technologiegiganten ZTE und Huawei – 5G-Technologie, Smartphones und andere Zukunftstechnologien. Es ist jedoch nicht nur ein Handelskrieg; „es geht hier um die Neujustierung der Weltordnung“, sagt Robert Daly, Direktor des Kissinger Institute on China and the United States im FAZ-Gespräch. Und es geht um Kampf und Sieg der Systeme. Mit einem totalen Wirtschaftskrieg wollen die USA China derart in die Knie zwingen, dass die chinesische Regierung letztlich bereit ist, ihr Wirtschaftsmodell zur Disposition zu stellen und umzukrempeln. Trump will China nicht nur einen regime change, sondern einen system-change, einen Wechsel des ökonomischen Systems aufzwingen. Robert Daly macht aus dieser Absicht keinen Hehl: „Ja, es geht nicht nur um Dinge, wie den Schutz des geistigen Eigentums. Wir verlangen Änderungen, bei denen es um das chinesische Wirtschaftssystem geht – und damit auch um das politische System“.
Es steht zu befürchten, dass die Trump-Administration nicht nur ihre handels- und wirtschaftskriegerische Strategie in und nach der Corona-Krise beibehält, sondern sie mit politischen und militärischen Elementen anreichert. Die Schuldzuweisungen und Vorwürfe an China bezüglich der Verursachung der Corona-Krise, verbunden mit etwaigen Schadensersatzansprüchen (z.B. der US-Staat Missouri klagt gegen China), könnten eine weitere Eskalationsspirale einleiten. Es tun sich zwei Gefahren auf: Erstens, dass die Provokationen und Reaktionen darauf eskalieren, sich vom handelspolitischen zum politischen Kalten Krieg oder gar Schießkrieg aufschaukeln. Zweitens: Was den Konflikt so gefährlich macht, ist der parteiübergreifende Rückenwind, den Trump für seinen Anti-China-Kurs in den USA erhält. Gerade demokratische Senatoren drängen ihn, „tough“ zu bleiben und „echte Änderungen zu erreichen“.
Es steht zu befürchten, dass sich Eric Hobsbawns düstere Prophezeiung von vor zehn Jahren erfüllt: