Zur geistigen Mobilmachung in Deutschland

Seit dem Krieg in der Ukraine im Februar 2022 ist in Deutschland eine sicherheitspolitische Zäsur eingetreten. Der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer "Zeitenwende“, hat im Eilverfahren milliardenschwere Aufrüstungsprogramme auf den Weg gebracht und hat damit eine grundlegende politische Neuausrichtung entwickelt: Deutschland soll "kriegstüchtig" werden, so die Wortwahl von Verteidigungsminister Boris Pistorius im Herbst 2023. Dieser Begriff markiert einen tiefen Einschnitt in der politischen Kultur der Bundesrepublik

Die Rückkehr des militärischen Denkens

"Kriegstüchtigkeit" ist ein Begriff mit schwerer historischer Last. Er stammt aus einer Zeit, in der Nationen ihre Existenzberechtigung in der Bereitschaft zum Krieg sahen. In der Bundesrepublik war dieser Ausdruck jahrzehntelang tabuisiert, ein Relikt aus autoritären, militaristischen Zeiten. Der Verteidigungsminister Pistorius spricht nun von Wehrhaftigkeit, Munitionsreserven Nato-Fähigkeit. Er wurde auch von den Nazis verwendet, als es darum ging die militärischen Restriktionen für Deutschland aus dem Versailler Vertrag zu umgehen.

Dabei hat diese semantische Verschiebung Folgen. Wer Begriffe wie "kriegstüchtig" in die politische Alltagssprache aufnimmt, verändert die politische Vorstellungswelt. Es entsteht ein neues Leitbild: Der Bürger als Teil einer kriegerischen Gemeinschaft, die im Ernstfall bereit sein muss, nicht nur zu zahlen, sondern zu kämpfen. In der „Frankfurter Allgemeinen“ ist die Rede von „der Pflicht, gegebenenfalls (das) Leben für das Gemeinwesen einzusetzen.“ Wissenschaftler der Bundeswehrhochschule in Hamburg empfehlen für eine militärische Auseinandersetzung „den abgestuften Einsatz von Nuklearwaffen auf dem Gefechtsfeld“ und propagieren damit nichts anderes als den atomaren Erstschlag. Die Bundeswehr wird nicht nur technisch aufgerüstet, sondern kulturpolitisch aufgewertet: Sie soll zur Herzkammer einer neuen „nationalen Verantwortung“ werden. Das ist ein zivilisatorischer Rückschritt.

Der Wandel des Diskurses

Diese Transformation ist nicht auf die Bundeswehr beschränkt. Sie betrifft den gesamten politischen und medialen Diskurs. Wer heute Waffenlieferungen an Kiew auch nur hinterfragt, sieht sich schnell unter Rechtfertigungsdruck. Friedensappelle, wie sie etwa von Alice Schwarzer oder Sahra Wagenknecht 2023 formuliert wurden, stießen auf üble Beschimpfungen. Die Demonstrationen gegen den Krieg werden pauschal als "Querfront" mit der extremen Rechten diskreditiert. Statt den Diskurs über Friedensoptionen zu führen, wird die Legitimität der Kritiker in Zweifel gezogen.

Auch in den Medien vollzieht sich ein Gleichschritt. In Leitkommentaren wird regelmäßig betont, es gebe keine Alternative zu den Waffenlieferungen an die Ukraine. Andere Stimmen werden als randständig oder wirklichkeitsfremd abgetan, sofern sie überhaupt erwähnt werden. Die alte Unterscheidung zwischen Pazifismus und Appeasement, zwischen Diplomatie und Naivität, wird durch eine Polarisierung ersetzt: Wer nicht für die militärische Linie ist, gilt als moralisch zweifelhaft oder diene der russischen Propaganda.

Militarisierung von Sprache und Bildung

Besorgniserregend ist auch die sprachliche Militarisierung. Begriffe wie "Frontstaat", "Abschreckung", "Kriegstüchtigkeit" oder "Wehrwille", wenn nicht gleich „Siegfähigkeit“ sind wieder salonfähig. Auch in der Bildungslandschaft mehren sich Stimmen, die eine Rückkehr zur Wehrkunde in den Schulen fordern. Die Debatte über die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht ist ein Ausdruck dieser neuen Denkweise. Schulen, Universitäten und kulturelle Einrichtungen geraten unter Druck, sich affirmativ zu dieser neuen Sicherheitslogik zu positionieren.

Gleichzeitig treten kritische Stimmen zurück. Intellektuelle, die früher als Mahner vor militärischer Eskalation galten, wirken verhalten oder schweigen. Habermas ist eine der wenigen Ausnahmen. Er hat sich mehrfach gegen die mentale und materielle Militarisierung gewandt. Die Friedensbewegung, einst ein bedeutender Teil der politischen Kultur in der Bundesrepublik, wurde an den Rand gedrängt. Der Pazifismus wird nicht mehr als moralische Haltung gewürdigt, sondern als feige Realitätsflucht abgewertet.

Der Blick in die Geschichte

Die gegenwärtige Mobilmachung hat historische Parallelen. Vor dem Ersten Weltkrieg herrschte in Europa eine ähnliche Mischung aus technokratischer Kriegsbereitschaft und patriotischer Selbsthypnose. Der Historiker Christopher Clark beschrieb die europäischen Eliten als "Schlafwandler" – gebildet, informiert, aber blind für Alternativen zum Krieg. Auch heute wird der politische Spielraum für Diplomatie, Deeskalation und strategische Zurückhaltung bewusst eingeengt. Wer ihn dennoch einfordert, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, naiv, illoyal oder gar ein Putin-Freund zu sein. Wie 1914 wird die Kriegshysterie auch im Deutschland unserer Tage von der sozialdemokratischen Partei kritiklos befördert – nur mit dem Unterschied, dass 2025 kein Karl Liebknecht und eine Rosa Luxemburg lautstark ihre Stimmen erheben. 

Historische Parallelen: Durchhalteparolen damals und heute

Der Autor dieses Beitrags, zur Generation der Kriegskinder gehörend, fühlt sich an die Durchhalteparolen des II. Weltkriegs erinnert. „Räder müssen rollen für den Sieg“ hieß es auf den Bahnhöfen des Reiches. Wir wissen heute, dass sie in die Katastrophe rollten. 

Wer mit mir einen Blick auf die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs wirft, erkennt, wie machtvoll politische Sprache als Instrument der Mobilisierung sein kann. Damals lauteten die Parolen: "Durchhalten! Der Endsieg ist nah!", "Wer kapituliert, verliert alles!" oder "Lieber tot als rot!". Selbst angesichts des sicheren Untergangs appellierte das NS-Regime an die totale Gefolgschaft. Heute ist die Situation unvergleichlich anders – und doch lohnt ein kritischer Blick auf rhetorische Muster:

  • Auf das damalige "Durchhalten! Der Endsieg ist nah!" folgt heute ein "Es gibt keine Alternative zur Waffenhilfe" – die Idee der Alternativlosigkeit bleibt.
  • "Wer kapituliert, verliert alles!" wandelt sich in: "Ein Waffenstillstand wäre ein Sieg für Putin."
  • "Lieber tot als rot!" lebt weiter in Formulierungen wie: "Wenn wir nicht helfen, stehen russische Panzer bald vor Berlin."
  • Da alte Diffamierungen wie "Verräter" oder „Fünfte Kolonne“ verbraucht sind finden sich Etiketten wie „Lumpenpazifist“ "Putinversteher" oder "nützlicher Idiot".

Nochmals: Es geht mir nicht um eine Gleichsetzung, wohl aber um das Erkennen von rhetorischen Mechanismen, die Kritik delegitimieren und politische Vielfalt einengen.

Was jetzt möglich ist

Es gibt ermutigende Signale, dass sich angesichts dieses bellizistischen Taumels in Deutschland neue Formationen der Friedensbewegung entwickeln, die sich mit den traditionellen Gruppen zusammenfinden. Sie sind bemüht, den kritischen Diskurs zu erhalten, der mehr kennt als nur militärische Logik. Sie wirken dafür, dass "Kriegstüchtigkeit" nicht das neue Staatsideal der Deutschen wird. Für den Herbst ist eine bundesweite Friedensdemonstration geplant. Eine Publikation, die die geistige Mobilmachung kritisch beleuchtet, befindet sich im Druck. 

Das alles bisherige übertreffende Rüstungsprojekt der Europäischen Kommission mit 800 Milliarden Euro ist mit der Initiative StopRearmEurope auf eine unerwartete Resonanz gestoßen. Dem Aufruf, dieser Politik mit einer gemeinsamen Kampagne entgegenzutreten ist ein knappes Hundert von größeren und kleineren europäischen Organisationen und Friedensinitiativen gefolgt, entschlossen, sich stattdessen für „soziale, ökologische und gemeinsame Sicherheit“ einzusetzen.