Am vergangenen Wochenende fand in Athen der 17. Kongress der World Association of Political Economy statt. 
Die WAPE ist eine von China geführte akademische Wirtschaftsorganisation, die sich weltweit mit marxistischen Ökonomen vernetzt.



"Auch wenn das wie eine Voreingenommenheit erscheinen mag, bieten die WAPE-Foren und -Zeitschriften ein wichtiges Forum, um alle Entwicklungen in der kapitalistischen Weltwirtschaft aus einer marxistischen Perspektive zu diskutieren.
Marxistische Ökonomen aus der ganzen Welt sind willkommen, dem WAPE beizutreten und an den WAPE-Foren teilzunehmen." (WAPE-Statement).

Anbei einige Anmerkungen zu den Referaten auf der WAPE 2024, auf die hier eingegangen werden soll, ohne dabei den Anspruch einer Vollständigkeit zu erheben. 
Es ist eher als eine Anregung zur Vertiefung der Auseinandersetzung um die marxistische Theorie gedacht. WAPE-Foren

Technologie

Mike Nolan vom Rochester Institute of Technology hielt einen Vortrag über Revolutionary Technology: The Political Economy of Left-Wing Digital Infrastructure" vor.  Nolan argumentiert, dass die "dezentralisierte Natur" des Internets und der sozialen Online-Medien dazu tendiert, die Klassenpolitik zu brechen und zu schwächen.  Nötig sei eine "einheitliche digitale Infrastruktur", damit "linke Organisationen die Kosten für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur teilen und gleichzeitig eine bessere Kontrolle über die Form dieser Infrastruktur ausüben können".  Klingt vernünftig, aber die Machbarkeit einer solchen "linken digitalen Infrastruktur" ist nicht klar.

João Romeiro Hermeto von der Freien Universität Berlin stellte sein Buch The Paradox of Intellectual Property in Capitalism vor, in dem er das Wesen des geistigen Eigentums unter der kapitalistischen Produktionsweise diskutiert.  Insbesondere versucht er zu erklären, was Wissen ist und wie es produziert wird.  Er betont, wie Wissen von Big Pharma und den Tech-Giganten in "geistiges Eigentum" verwandelt wird. Es geht um die Kontrolle über die Aneignung der gesellschaftlichen Mehrarbeit, die im Kapitalismus die spezifische Form des Mehrwerts annimmt.  Das ist zweifellos richtig, aber es blieb etwas unkeklärt, wohin uns das Buch dann führt.  Es bietet sich vielleicht an, Hermetos Analyse des Wissens in seinem Buch mit Guglielmo Carchedis Analyse des Wissens und der geistigen Arbeit mit dem Buch des Autors, Capitalism in the 21st Century, vergleichen (siehe Kapitel 5, S. 161-187) zu vergleichen.

Quantitative politische Ökonomie

Es gab einen sehr wichtigen Teil des WAPE-Programms, die quantitative politische Ökonomie.  Thanos Poulakis und Persefoni Tsaliki von der Universität Mazedonien stellten ihre scharfsinnige Analyse der Kaufkraftparität (KKP) vor, der wichtigsten Methode, mit der der IWF und die Weltbank das BIP in Volkswirtschaften messen.  Der Zweck des Kaufkraftparitäts-Wechselkurses besteht darin, die Landeswährung eines jeden Landes in eine gemeinsame Basiswährung - in der Regel den US-Dollar - umzurechnen. Auf diese Weise kann die Wirtschaftsleistung anhand einer einzigen gemeinsamen Währung verglichen werden und nicht anhand von Dutzenden von Landeswährungen, deren Marktwechselkurse sich schnell ändern können.

Poulakis und Tsaliki zeigen, dass die Wechselkurse tatsächlich durch die realen Arbeitskosten bestimmt werden, und wenn diese Stückkosten sorgfältig gemessen würden, könnte man genauere Schätzungen der KKP vornehmen und eine wirksamere Wechselkurspolitik entwickeln. Eine solche empirische Analyse ist nicht neu.  Siehe das Papier von Francisco Martinez. Poulakis und Tsaliki haben jedoch ihre früheren Arbeiten auf 163 Länder ausgeweitet.

Eine wichtige Schlussfolgerung daraus ist, dass Handelsüberschüsse und Handelsdefizite die direkte Folge der relativen Wettbewerbsposition der Länder in Bezug auf die realen Arbeitskosten sind. Wechselkursabwertungen haben also nur eine vorübergehende Wirkung auf die nationale Wettbewerbsfähigkeit, wenn die allgemeinen Produktionsbedingungen nicht verbessert werden.  Solange die am wenigsten wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften auf internationaler Ebene ihre allgemeinen technischen Produktionsbedingungen nicht verbessern können, werden ihre nationalen Industrien strukturell nicht wettbewerbsfähig sein, und infolgedessen würden diese Länder permanente Handelsdefizite aufweisen.

 

Terms of Trade[1]

Carlos Alberto Duque Garcia hielt einen Vortrag zum Thema "Terms of trade and the rate of profit: a suggested framework and evidence from Latin America".  Carlos Duque von der Autonomous Metropolitan University in Mexiko hat bereits eine hervorragende empirische Arbeit über Profitabilitätswellen in Kolumbien mit dem Titel Economic Cycles, Investment and Profits in Colombia, 1967-2019 vorgelegt.  In dieser Arbeit fand Duque Belege für die Marx'sche Hypothese, dass sowohl die Profitrate als auch die Masse der Profite die Investitionen bestimmen, während es im Gegenteil keine Belege dafür gab, dass die Investitionen entweder die Profitrate oder die Masse der Profite bestimmen.
Dies war eine weitere Bestätigung des Marx'schen Gesetzes der Rentabilität. 

 

 Messung der Profitrate

Dimitris Paitaridis und Lefteris Tsoulfidis gingen der Frage nach, ob eine genaue Messung des Bruttokapitalstocks für die Messung der Profitrate des Kapitals von Bedeutung ist.  Dies mag selbstverständlich erscheinen.  Aber es ist Gegenstand einer Debatte.  Einige argumentieren, dass der Kapitalstock nicht mit offiziellen Daten gemessen werden kann, weil er auf falschen neoklassischen Konzepten beruht.  Und es ist sicherlich richtig, dass die in offiziellen Datenbanken (z. B. AMECO der EU) verwendeten Kapitalstockmessungen fragwürdig sind.  Die Autoren haben jedoch eine Reihe hervorragender Arbeiten zur Messung des Kapitalstocks vorgelegt und belegen ausführlich den empirischen Zusammenhang zwischen einer zunehmenden organischen Zusammensetzung des Kapitals (der Kapitalstock wächst stärker als das variable Kapital) und einer sinkenden Gewinnrate auf den Kapitalstock.

Nikolaos Chatzarakis referierte ebenfalls über die Art der langen und kurzen Zyklen in der kapitalistischen Akkumulation.  Auch hier handelte es sich um eine weitere Arbeit über Zyklen, die der Autor und andere an der Universität von Mazedonien bereits durchgeführt haben. Ihr Zyklusmodell zeigte eine Periodizität, die durch die langfristige Entwicklung der Rentabilität und das dahinterstehende Wachstum der Mehrwertrate als regulierende Variable für die Zyklen bedingt ist. Der äußerst wertvolle Beitrag der marxistischen Wissenschaftler in Mazedonien und Griechenland insgesamt zur marxistischen Wirtschaftstheorie und zu empirischen Studien kann nicht unterschätzt werden.  Siehe meine Rezension des bahnbrechenden Buches von Tsoulfidis und Tsaliki. [2]

Apropos Theorie: Das Marx'sche Wertgesetz wurde in Fred Moseleys neuem Buch "Marx's Theory of Value in Chapter 1 of Capital: A Critique of Heinrich's Value Form Interpretation".[3]  Der Autor hat die Argumente in dem Buch im Anschluss an eine Debatte zwischen Moseley und dem deutschen Marxisten Michael Heinrich[4] auf der letztjährigen Konferenz zum Historischen Materialismus überprüft.

 

Fallende Profitrate

Christos Balomenos von der Nationalen und Kapodistrianischen Universität Athen stellte seine Doktorarbeit vor: "Eine theoretische und archivarische Untersuchung von Marx' Analyse des zinstragenden Kapitals und des Kredits im Manuskript von 1864-65 und dessen Bearbeitung durch Engels".  In dieser Arbeit untersuchte Balomenos Heinrichs Argumente für die Existenz einer entscheidenden theoretischen Verschiebung in Marx' Denken während der 1870er Jahre, die sich um seine angeblichen Zweifel an der Gültigkeit des Gesetzes der fallenden Profitrate drehte. In seiner Untersuchung kommt er zu dem Schluss, dass "die Manuskripte und Briefe, auf die sich Heinrich beruft, um seine Argumente zu stützen, weder eine Unsicherheit von Marx hinsichtlich der Gültigkeit des Gesetzes der fallenden Profitrate noch eine Veränderung seiner Meinung in den 1870er Jahren hin zu einer vorrangigen Rolle der kapitalistischen Zirkulation und insbesondere des Kredits bei der Erklärung der Wirtschaftskrise belegen."

Auf der WAPE 24 löste Fred Moseleys Interpretation der Marxschen Werttheorie jedoch einen kontroversen Disput aus.  Alan Freeman kritisierte Moseley für seine Behauptung, dass die Marktpreise um die langfristigen Produktionspreise oszillieren, die als Gravitationskraft wirken und die Preise mit den Arbeitswerten verbinden. Freeman argumentiert, dass die Outputpreise nicht mit den Inputpreisen übereinstimmen und sich ständig ändern, auch wenn sich die Produktivität nicht ändert.  Die Marktpreise oszillieren also nicht um die langfristigen Produktionspreise, die als Gravitationskraft wirken und die Preise an den Wert der Arbeit binden, wie Moseley argumentiert.
Freeman sieht darin eine Gleichgewichtstheorie des Mainstreams, die von Marx in seinem zeitlichen Ansatz abgelehnt wird.

 

Anmerkungen

[1] Terms of Trade (TOT) ist ein wirtschaftlicher Indikator, der das Verhältnis zwischen dem Preisniveau der Exporte und Importe eines Landes darstellt.

[2] Michael Roberts: Ricardo and/or Marx? A Review of Classical Political Economics and Modern Capitalism: Theories of Value, Competition and Trade by Lefteris Tsoulfidis and Persefoni Tsalik.
Er würdigt das Buch für seine überzeugende und solide theoretische Analyse des Kapitalismus. Er weist jedoch auf einen merkwürdigen Aspekt des Ansatzes der Autoren hin: Sie kategorisieren die Marxsche Ökonomie als einen Strang der klassischen politischen Ökonomie, anstatt sie als Kritik der klassischen Ökonomie anzuerkennen, wie es Marx selbst tat. Roberts findet die Entwicklung der Marxschen Theorie durch die Autoren besonders überzeugend, wenn man sie mit klassischen und neoklassischen Analysen vergleicht.

[3] Fred Moseley: "Marx's Theory of Value in Chapter 1 of Capital: A Critique of Heinrich's Value-Form Interpretation". Es handelt sich um eine  detaillierte Kritik  Michael Heinrichs Interpretation der Marx'schen Werttheorie, wie sie in Kapitel 1 des "Kapital" dargestellt wird. Moseley argumentiert gegen Heinrichs Wertforminterpretation, die die relationalen und sozialen Aspekte des Werts betont und suggeriert, dass der Austausch die Produktion bestimmt.
Stattdessen verteidigt Moseley ein produktionszentriertes Verständnis des Wertes und behauptet, dass der Wert durch die Produktion bestimmt wird und dass der Tausch daraus folgt.

[4] Michael Heinrichs Interpretation von Marx' Werk unterscheidet sich in mehreren wesentlichen Punkten von anderen Ansätzen:

  1. Kritik des Weltanschauungsmarxismus: Heinrich kritisiert den sogenannten "Weltanschauungsmarxismus", der durch einen simplen Materialismus und deterministischen Geschichtsverständnis geprägt ist. Er lehnt die Vorstellung ab, dass der Kapitalismus und die proletarische Revolution als naturgesetzliche Notwendigkeiten betrachtet werden können
  2. Fokus auf Fetischismus: Heinrich betont Marx' Rolle als Kritiker der durch den Wert vermittelten, fetischisierten Vergesellschaftung. Er sieht den Fetischismus als einen Verblendungszusammenhang, dem sowohl Kapitalisten als auch Arbeiter unterliegen, und lehnt die Vorstellung einer privilegierten Erkenntnisposition der Arbeiterklasse ab.
  3. Unvollständigkeit von Marx' Werk: Heinrich hebt hervor, dass Marx' Werk kein abgeschlossenes System darstellt, sondern aus vielen Fragmenten besteht. Er betont, dass die MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) zeigt, dass Marx' Kritik der politischen Ökonomie nicht vollständig fertiggestellt war, sondern dass es sich um ein gigantisches Forschungsprojekt handelt, von dem nur Fragmente realisiert wurden.

  4. Materialistische Betrachtung: Heinrich verfolgt einen materialistischen Ansatz, der nicht nur die theoretischen Inhalte von Marx' Texten untersucht, sondern auch die materiellen Bedingungen ihrer Entstehung. Er sieht Marx' Texte als politische Interventionen, die in spezifische Debatten und Konflikte eingreifen.
  5. Kritik an der monetären Werttheorie: Heinrich wird von Vertretern der Neuen Marx-Lektüre dafür kritisiert, dass er eine Zweiteilung der Ökonomie postuliert, die nicht über Marx hinausgeht, sondern hinter ihn zurückfällt.

Quellen dazu:
Marx, Leben und Werk, Z, Zeitschrift marxistische Erneuerung, 2017;

Michael Heinrich: Wie das Marxsche Kapital lesen? Hinweise zur Lektüre und Kommentar zum Anfang von »Das Kapital«, Stuttgart 2008.