Die Zunahme von Konflikt und Krieg im Zuge der Umbrüche im internationalen System hat dazu geführt, dass Vergleiche der machtpolitischen Kräfteverhältnisse in der Welt eine wachsende Rolle spielen. Wichtige Indikatoren solcher Vergleiche sind die wirtschaftliche Stärke, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), und natürlich die militärischen Kräfteverhältnisse. Der verbreitetste Indikator für Letzteres sind die Militärausgaben.

Solche Vergleiche sind keine unpolitischen statistischen Übungen. Vielmehr werden sie auch politisch eingesetzt, um die Position eines Landes in der Hierarchie des internationalen Systems zu markieren, und/oder um die öffentliche Meinung und politische Entscheidungen zu beeinflussen, meist um einen angeblichen Nachholbedarf bei der Rüstung zu rechtfertigen. Ein typisches Beispiel ist die Diskussion um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, d. h. die Forderung, dass alle NATO-Mitglieder mindestens 2% ihres BIP für militärische Zwecke ausgeben sollen, wie jüngst auf dem NATO-Gipfel in Vilnius bekräftigt. Wer darunter liegt, wie bisher Deutschland, wird sowohl von Partnerstaaten als auch von innenpolitischen Lobbygruppen unter Druck gesetzt, die Zielmarke zu erfüllen – im Falle der Bundesregierung mit Erfolg, wie der Sonderhaushalt von 100 Milliarden für die Bundeswehr und die Steigerungsraten im ordentlichen Verteidigungshaushalt zeigen. Vor diesem Hintergrund ist es allerdings notwendig, die Aussagekraft der Indikatoren etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Internationale Vergleiche von Militärausgaben

Für den innenpolitischen Gebrauch eines Landes werden Rüstungsausgaben sinnvollerweise in der jeweiligen Landeswährung dargestellt. Für internationale Vergleiche ist das jedoch nicht brauchbar. Denn während wir uns unter den deutschen Verteidigungsausgaben von 53 Milliarden Euro vielleicht noch halbwegs etwas vorstellen können, ist das beim iranischen Etat über 1.850.575.250.000.000 Rial (1,85 Billiarden) oder bei Russland mit 6.032.900.000.000 Rubel (6 Billionen) nicht mehr möglich. (1) Deshalb müssen die Landeswährungen in die internationale Leitwährung, den US- Dollar, umgerechnet werden.

Als weltweit autoritative Quelle für solche Vergleiche anerkannt ist das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Daneben gibt es noch Statistiken der UNO, einzelner Geheimdienste, vorneweg der CIA, sowie von diversen Thinktanks. Der bedeutendste davon ist das International Institute for Strategic Studies (IISS) in London. Die Zahlen, die die verschiedenen Stellen herausgeben, differieren immer mal wieder, aber nicht substantiell. Die Proportionen zwischen den Ländern sind grosso modo überall die gleichen.

Das SIPRI gibt jedes Jahr einen Report heraus, der jüngste erschien im April 2023. (2) Tabelle 1 zeigt das Ranking der zehn Länder mit den höchsten Militär-Ausgaben. Auch die kritische Friedens- und Konfliktforschung bedient sich der SIPRI-Statistiken, ebenso wie die Friedensbewegung. In grobe Kräfteverhältnisse umgesetzt bedeutet die SIPRI-Statistik unter anderem, dass allein auf die USA 39% aller globalen Militärausgaben entfallen. Im Vergleich zu China gibt Washington drei Mal so viel aus und gegenüber Russland sogar zehn Mal so viel. Allein Frankreich und Deutschland zusammen überflügeln mit ihren 108 Milliarden USD demnach Russland um 26 Milliarden, und die NATO-Staaten insgesamt kommen auf 1,2 Billionen USD.

Verzerrungen durch Umrechnungsmethode zwischen Währungen

Allerdings enthält dieses Bild beträchtliche Verzerrungen der realen Kräfteverhältnisse. Grund dafür ist aber keineswegs eine Manipulation oder gar Fälschung der Statistiken. Das SIPRI ist integer und die Zahlen sind korrekt. Aber die Umrechnungsmethode enthält ein großes Problem, das in der Volkswirtschaftslehre unter dem Namen Balassa-Samuelsen-Effekt bekannt ist. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, gibt es ein volkstümliches, aber die Sache treffendes Beispiel, den Big-Mac-Index.

Und der geht so: Die berühmte Frikadelle ist in allen Filialen des Fastfood-Multis weltweit gleich. Sie besteht überall aus den gleichen Zutaten, sieht überall gleich aus, wiegt überall gleich viel und schmeckt überall gleich. Aber: Während sie in New York 4,20 USD kostet, müssen in Neu-Dehli – die Rupie in Dollar dargestellt – nur 1,80 USD bezahlt werden. In Oslo sind es dagegen 7,50 USD (die norwegische Krone in Dollar ausgedrückt) und in Shanghai ist eine Summe in Yuan zu bezahlen, die 2,75 USD entspricht. Wieso hat das absolut gleiche Produkt beim Vergleich in US-Dollar diese unterschiedlichen Preise?

Die Antwort liegt auf der Hand: Die Preise der Vorprodukte des Big Mac sind in Indien viel niedriger als in den USA, umgekehrt dagegen im Hochpreisland Norwegen viel höher. Das gilt auch für die Löhne der Viehzüchter, die das Fleisch erzeugen, und Gewürzbauern, die die Zutaten liefern, sowie für die Metzger, Transportunternehmer, Mieten, Energie- und Benzinpreise und die anderen Dienstleister bis hin zu den Arbeitskräften in der Filiale des Konzerns.

Das Beispiel steht hier für das generelle Problem internationaler Vergleichbarkeit der Größe bzw. Stärke von Volkswirtschaften. Denn das, was für die Frikadelle gilt, gilt auch für alle anderen Waren und Dienstleistungen, die nicht importiert werden und deren Herstellung daher mit der jeweiligen Landeswährung bezahlt wird. Und damit gilt dies auch für die Berechnung des BIP insgesamt.
Als weiterer Nachteil der konventionellen, wechselkursbasierten Berechnung des BIP kommt die Schwankungsintensität der Wechselkurse hinzu. So kann eine Währung über Nacht auf- oder abwerten. Dafür sind kurzfristig wirkende Marktfaktoren verantwortlich, z. B. eine Begrenzung der Ölfördermenge durch die OPEC, eine Erhöhung des Leitzinses in den USA, unterschiedliche Inflationsraten, oder die im Finanzkapitalismus endemische Währungsspekulation. So sank z. B. der Rubelkurs kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Danach »erholte er sich aber und stieg im vergangenen Sommer auf den höchsten Stand seit Jahren« (Handelsblatt, 7./8./9 Juli 2023; S. 16). Niemand kann daraus ernsthaft schlussfolgern, dass die russische Wirtschaft im Sommer 2022 stark war »wie seit Jahren nicht mehr«. Oder dass die Wirtschaft der EU seit Juli 20Karen 08, als es 1,50 USD für einen Euro gab, mit dem Absinken des Kurses auf 1:1 im Juli 2022 um die Hälfte schwächer als die der USA geworden wäre.

Um die Defizite der konventionellen Berechnung des BIP auszugleichen, setzt sich in seriösen Vergleichen des ökonomischen Potentials eine zweite Methode durch, die nicht mehr den Wechselkurs zum Dollar zur Grundlage hat, sondern die Kaufkraft der Landeswährung: die sog. Kaufkraftparität (Abk.: KKP; engl.: purchasing power parity–ppp). Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank veröffentlichen seit einigen Jahren in ihren Statistiken das BIP – und seine Unterkategorien wie das BIP pro-Kopf – in zweifacher Form – einmal zum laufenden Wechselkurs des Dollars, (3) und zum anderen nach Kaufkraftparitäten. Bei der KKP-Methode wird das, was wir oben für den Big Mac gezeigt haben, für einen repräsentativen Warenkorb berechnet, also wieviel Geld nach jeweils inländischer Währung notwendig ist, um den gleichen Warenkorb wie in den USA zu erstehen.

Nach dieser Methode sehen die ökonomischen Kräfteverhältnisse in der Welt plötzlich ziemlich anders aus (s. Tabelle 2). Demnach ist China schon jetzt Nummer eins vor den USA. Russland, das nach konventioneller Berechnung auf Platz 11 hinter allen G7 Staaten und Südkorea liegt, belegt jetzt Rang 6, während UK und Frankreich auf den Plätzen 9 und 10 hinter Indonesien und Brasilien landen.

Das hat natürlich Konsequenzen dafür, wie man die Welt wahrnimmt, wenn Russland jetzt ökonomisch nicht mehr abgeschlagen hinter Italien, sondern direkt hinter Deutschland liegt. Auch an der in linken Milieus verbreiteten Sichtweise von Russland als peripherem Kapitalismus tun sich Fragezeichen auf. Außerdem wird in der BIP-Berechnung nach KKP das neue Gewicht des Globalen Südens sichtbar. Mit anderen Worten, sie spiegelt viel realistischer die epochalen Verschiebungen im inter nationalen System wider.

Und es erklärt zu einem Gutteil, warum die Berechnung des BIP nach KKP in den staatstragenden Medien kaum zu finden ist. Sie ist nämlich eine schwere narzistische Kränkung für all jene, die immer noch nicht gemerkt haben – oder nicht wahrhaben wollen – dass die 500-jährige Epoche der Dominanz Europas und seines nord- amerikanischen Ablegers über den Rest der Welt zu Ende geht. Oder auch für solche, wie die deutsche Außenministerin, die glauben, die russische Wirtschaft ruinieren zu können. Das betrifft selbst Leute, von denen man erwartet hätte, dass sie es wissen, wie z. B. den Leiter des Brüsseler Büros des Handelsblatts, als er jüngst in einer typischen Mischung aus Dünkelhaftigkeit und Ignoranz meinte, »die ökonomische Machtbasis Russlands auf dem Niveau von Spanien« ansiedeln zu müssen (10.7.2023, S. 12), oder das Redaktionsnetzwerk Deutschland, das kurz vor dem Ukrainekrieg schrieb: »Russland, das größte Flächenland der Erde, steht im Ranking der größten Volkswirtschaften der Welt aktuell nur auf Platz zwölf – Kopf an Kopf mit Brasilien.« (4)

Kaufkraftparität und Militärausgaben

Aber trifft das, was für den zivilen Warenkorb gilt, auch für Militärgüter zu?

Eine mit einem US-Produkt vergleichbare Kanone, ein Panzer oder Kampfflugzeug sind im Geltungsbereich des Rubels zu großen Teilen billiger herzustellen als in den USA oder der Euro-Zone. Das gilt auch für alle anderen Mittel- und Niedrigeinkommensländer. Zudem gibt es Unterschiede im technologischen Niveau, insbesondere im Hightech- Bereich, Verfügbarkeit von modernen Halbleitern, Zugang zur militärischen Weltraumtechnik u.ä. Auch die Kosten für das Militärpersonal (incl. dessen Renten) sowie für Güter und Dienstleistungen liegen z. T. beträchtlich unter dem Niveau eines Hocheinkommenslandes. Das bedeutet, dass die russischen und die chinesischen Rüstungsausgaben nach Wechselkursparität insgesamt die dahinterstehende militärische Realität unterbewerten, bzw. die der Hocheinkommensländer überbewerten.

Wenn man nun am Beispiel Russland die Differenz zwischen Wechselkurs- und Kaufkraftparität im zivilen Bereich auf die Militärausgaben extrapoliert, beläuft sie sich auf über 150% (s. Tabellen 4 und 5); D. h. die SIPRI-Angaben von 86 Mrd. USD für Russland betrügen nach KKP ca. 215 Mrd. USD. (5) Das ist immer noch weniger als ein Viertel des US-Budgets, aber was anderes als nur ein Zehntel.

Die Schlussfolgerungen daraus können je nach politischem Standpunkt unterschiedlich gezogen werden. Wer Angst vor Russland hat, den werden sie beunruhigen, andere mag es beruhigen, weil die Überlegenheit der NATO zwar nicht verschwindet, aber doch geringer ausfällt, als die SIPRI-Zahlen nahelegen. Und es kann natürlich zur Rechtfertigung für die Erhöhung der Militärausgaben im Westen benutzt werden.

Für China ergeben sich im gleichen Verfahren gut 50% höhere Militärausgaben, also 438 Mrd. USD, was etwa auf die Hälfte der US-Ausgaben hinausläuft. Allerdings hat dieses Übertragungsverfahren den Haken, dass ein militärischer Warenkorb sehr verschieden zu einem zivilen und auch viel schwieriger zu erstellen ist. So unterliegen viele Einzelheiten der militärischen Geheimhaltung und können nur geschätzt werden. Auch der Mix aus importierten Komponenten und einheimischer Produktion u. a. Parameter wären zu berücksichtigen. Mit diesen Schwierigkeiten begründet SIPRI, warum es an der Berechnungsmethode nach Wechselkursen festhält. (6) Es geht deshalb auch nicht darum, die SIPRI-Zahlen generell zu verwerfen, sondern ihre Vor- und Nachteile zu Kenntnis zu nehmen.

Aus Sicht von NATO-Strategen hätte man allerdings doch gern genauere Kenntnisse über die Feindlage. Hinzu kommt für sie das politische Imageproblem, das durch die SIPRI-Zahlen entsteht. Deshalb organisierte das oben erwähnte IISS im Dezember 2022 eine Konferenz, auf der die Probleme erörtert wurden. (7) Dort legte der australische Militärökonom Robertson ein Papier vor, in dem er die Militärausgaben nach KKP für einige ausgewählte Länder vorstellt (Tabelle 3).(8) Demnach wären die russischen Militärausgaben noch einmal um 10% höher als in unserer obigen Rechnung, in der wir vom zivilen Warenkorb aus extrapoliert haben, also 236 Mrd. USD. Für China kommt Robertson auf einen Aufschlag von 20%. Für Brasilien, Kolumbien, Indonesien u. a. (darunter die Ukraine) auf 50% bis 70%.

Sicher enthalten seine Berechnung Unsicherheiten. Wie aber die Angaben für die Ukraine zeigen, scheint er keine politisch motivierte Verzerrung vorzunehmen. Denn seinen Zahlen zufolge gab Kiew bereits vor dem Krieg vier Mal so viel fürs Militär aus, als die Rechnung nach Wechselkursparität zeigt. Nach Wechselkursparität beträgt das Kräfteverhältnis Ukraine Russland 1:12, nach KKP aber nur 1:7.

Mehr Sachkompetenz für die Friedenbewegung

Wie wir gesehen haben, sind die herkömmlichen Vergleiche von Militärausgaben von begrenzter Aussagekraft. Nicht nur wegen der hier geschilderten methodischen Probleme in internationalen Vergleichen. Vergleiche müssen auch dahingehend präzisiert werden, dass nicht nur die militärischen Gesamtausgaben, sondern pro-Kopf-Ausgaben, der Anteil der Militärausgaben am BIP und an den Staatsausgaben verglichen werden.

Allerdings ist auch festzuhalten, dass Unterschiede in der materiellen Struktur des Militärsektors, die Qualifikation des Personals oder technologisches Niveau der Waffen- systeme, die zusammengenommen letztlich so etwas wie die Kampfkraft repräsentieren, durch Finanzindikatoren kaum darstellbar sind.

Ohnehin ändern all diese Differenzierungen nichts an den großen Proportionen in den Kräfteverhältnissen. Die USA sind derzeit noch immer mit großem Abstand die stärkste Militärmacht. Zusammen mit ihrem Anhang in der NATO und im Fernen Osten ziehen sie alle Register, um ihre Hegemonie zu erhalten und verschärfen permanent die Spannungen. Die Weigerung, sich in eine multipolare, demokratischere Weltordnung einzufügen, ist heute das größte Kriegsrisiko.

Aber gerade, weil vor uns eine neue Ära der Spannungen und Konfrontation liegt, müssen kritische Theorie und Praxis für den Frieden stärker werden. Dazu gehört auch, präzise zu argumentieren, wenn die notwendige Wirksamkeit gegen den neuen Bellizismus erreicht werden soll. Seit der letzten friedenspolitischen Massenbewegung in den 1980- er Jahren ist sehr viel Wissen und Erfahrung verloren gegangen. Es ist an der Zeit, die Defizite auszugleichen.

 

 

1) Alle Zahlenangaben auf dieser Seite von SIPRI Database für 2022: https://www.sipri.org/databases/

(2) https://www.sipri.org/media/press-release/2023/world-military-expenditure-reaches-new-re- cord-high-european-spending-surges

(3) Außerdem rechnen IWF, Weltbank (und SIPRI für Militärausgaben) auch zu fixen Wechselkursen, d.h. es wird der Dollarkurs für ein Basisjahr genommen und von diesem ausgehend werden die Prei- se für die folgenden Jahre verglichen. Diese Methode dient dazu, die Preisentwicklung über einen bestimmten Zeitraum zu erkennen, in unserem Kontext also das Wachstum oder Schrumpfen von Militärausgaben.

(4) https://www.rnd.de/wirtschaft/russland-militaerische-grossmacht-ist-wirtschaftlich-nur-mittel-klasse-V3X4OK453BDCXJ2452T7ZG7USY.html,

(5) Dass die SIPRI-Zahlen in Tabelle 1 sich auf 2022 und die des IWF in den Tabellen 2 und 3 auf 2021 beziehen, kann hier vernachlässigt werden, da die Unterschiede zwischen den Jahrgängen marginal

(6) https://www.sipri.org/databases/milex/frequently-asked-questions#PPP.

(7) The International Institute for Strategic Studies. Military Expenditure: Transparency, Defence Inflation and Purchasing Power London. Dec. 2022

(8) Robertson, Peter, Debating defence budgets: Why military purchasing power parity 9 Oct 2021.

Erstveröffentlichung : Z, Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 135, September 2023