China steht vor gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen, die die innere Stabilität gefährden können.
Zudem ist China mit einem Kreuzzug des Westens unter Führung der Supermacht USA konfrontiert.
Welche Schwerpunkte setzt die chinesische Regierung in dieser Lage?
Konflikt mit dem Westen, um von den eigenen Problemen abzulenken?
Oder weiterer Aufbau des Landes?

Aus den Verlautbarungen der KPCh und der Regierung – ob vom Parteitag im Herbst 2022 oder von der Tagung des Volkskongresses, des chinesischen Parlaments, im Frühjahr 2023 – lassen sich keine Hinweise auf eine zunehmend aggressive internationale Politik ablesen. Dass Taiwan ein Teil Chinas ist, hat die chinesische Regierung seit der Gründung der Volksrepublik 1949 immer betont. Bis vor zehn Jahren war die Wiedervereinigung auch das Credo jeder taiwanesischen Regierung. Aber trotz aller Spekulationen in den USA und im Westen über baldige militärische Aktionen Chinas gegenüber Taiwan, trotz der Aufrüstung der USA und ihrer Verbündeten im Pazifik: Im Zentrum der chinesischen Politik steht unverändert die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes.

Denn das hat für die Chinesen und für die Regierung oberste Priorität. Trotz der enormen Erfolge bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ist es noch ein langer Weg, bis China aufgeholt hat und auch bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf mit den reichen Industrieländern mithalten kann. Nach Kaufkraftparitäten gerechnet ist China heute zwar schon die weltgrößte Wirtschaftsmacht und wird die USA demnächst auch bei der Wirtschaftsleistung in Währungsrelationen überholen. Aber das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nur ein Viertel des Pro-Kopf-Einkommens der USA. 2035 will China bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung so weit sein, wo heute Spanien steht. Aber Spaniens Wirtschaftsleistung wird dann weiter ewachsen sein. Zudem zeigen die aktuellen Probleme in China, dass der weitere Entwicklungsweg kompliziert und alles andere als krisenfrei ist.

Zwei Ereignisse der letzten Monate illustrieren schlaglichtartig die vielen Probleme, denen sich die chinesische Gesellschaft gegenübersieht: Die soziale Spaltung ist hoch, und besonders die Lage der Wanderarbeiter hat sich nicht wesentlich verbessert. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte sind massiv, der Anteil des Binnenkonsums an der Wirtschaftsleistung ist zu gering, die Immobilienkrise nicht gelöst.

Zum chinesischen Frühlingsfest, das 2023 nach dem chinesischen Kalender am 20. Januar begann, gab es wie jedes Jahr eine riesige Völkerwanderung. Die Eisenbahn rechnete mit über 2 Milliarden Bahnfahrten. Darunter hunderte Millionen Arbeitsmigranten, die in Chinas Industriezentren und Metropolen arbeiten und zu den Feiertagen in ihre Heimat auf dem Land gefahren sind, um ihre Eltern und auch die eigenen Kinder, falls die bei den Großeltern in den Dörfern leben, wieder zu sehen. Wegen der Corona-Pandemie und der Lockdown-Politik hatte es in den letzten Jahren wenig Gelegenheit dazu gegeben. Viele Arbeitsmigranten kommen nur einmal im Jahr zu ihren Familien, üblicherweise zum Frühlingsfest. Umso wichtiger ist für die Arbeitsmigranten das ersparte Geld, das sie in den Metropolen verdient haben und zum Fest ihren Familien mitbringen. Außerdem suchen sehr viele Arbeitsmigranten nach den Feiertagen einen neuen Job. Ein deutscher Autozulieferer in der Nähe von Shanghai zahlte vor Jahren jedem Arbeiter eine Prämie von mehreren (!) Monatslöhnen, wenn er/sie nach den Feiertagen an den Arbeitsplatz zurückkehrte.

Wahrscheinlich Millionen Arbeitsmigranten hatten aber in den Wochen vor dem diesjährigen Frühlingsfest Probleme mit ausstehenden Löhnen. In ganz China kam es deswegen zu Arbeiterprotesten. Viele Arbeitgeber standen selber unter Druck oder waren insolvent aufgrund der wirtschaftlichen Misere, die die harsche Lockdown-Politik und die seit Jahren andauernde Immobilienkrise verursacht haben. Nach Angaben der Financial Times (25.01.2023) protestierten Arbeiter in zahlreichen Städten, um ihre ausstehenden Löhne einzufordern. Die Lokalbehörden reagierten heftig und drohten den Protestierenden mit Strafen, weil sie „extremistische Proteste“ wie Verkehrsblockaden oder vor Kundgebungen vor Regierungsgebäuden organisiert hatten.

Es gibt viele Berichte, dass Arbeitgeber den Arbeitern ihre Löhne teilweise nicht zahlen. Darunter sind überschuldete Bau- und Immobilienkonzerne, die viele Millionen Arbeitsmigranten beschäftigen. Aber auch Betreiber von Covid-Testzentren, die ihre Ausgaben bislang nicht von den klammen Lokalbehörden erstattet bekommen haben. Verschärft werden die Probleme durch die schlechte Umsetzung der Arbeitsgesetze. Das macht es für die Beschäftigten schwer, auf legalem Wege an ihr Geld zu kommen.

Chinas Lokalbehörden erklären zwar immer wieder, dass sie Chinas Arbeitsgesetze respektieren. Aber offenbar haben sie sich diesmal entschieden, die Arbeitgeber als größte Steuerzahler zu unterstützen. Denn solange die Unternehmen knapp bei Kasse sind, können die Lokalbehörden sich selbst nicht finanzieren. U.a. durch die von der Zentralregierung angeordneten und von den Lokalbehörden organisierten Covid-Massentests sind die Kassen der Städte und Kreise leer, und auch die Betreiber der Testzentren können deshalb die Löhne nicht zahlen. Die chinesische Zentralregierung wiederum warnte, sie werde die klammen Lokalregierungen nicht sanieren.

In Chongqing gab es im Januar Zusammenstöße zwischen hunderten Arbeitern und der Polizei, als ein Unternehmen für die Produktion von Covid-Tests verlangte, die Mitarbeiter sollten unbezahlten Urlaub nehmen. Die Beschäftigten erklärten, sie hätten auf friedlichem Wege alles versucht, ihre Löhne einzufordern, aber es funktioniere nicht. In einem Kreis der Provinz Guangdong drohte das Personal- und Sozialbüro protestierenden Arbeitern mit Strafanzeigen, sollten sie Regierungsbeamte unverhältnismäßig kritisieren oder sollten sie drohen, sich selbst zu verletzen. Man müsse angemessene Mittel wählen, um seine Interessen durchzusetzen. Bösartige Methoden seien strengstens verboten. Die Polizei im Kreis Linyi  in der ostchinesischen Provinz Shandong verhaftete fünf Arbeiter, die sich wegen ausstehender Lohnzahlungen bei oberen Ebenen der Kreis- bzw. Provinzregierung beschwert hatten. Es sei absolut unakzeptabel, sich mit Beschwerden an übergeordnete Regierungsebenen zu wenden. Das störe die soziale Ordnung.

Aber manche Arbeiter ließen sich davon nicht abschrecken. In Zhengzhou, der Hauptstadt der zentralchinesischen Provinz Henan, kampierte ein Bauarbeiter tagelang im Ausstellungsraum des Immobilienentwicklers. Er weigerte sich, den Ausstellungraum zu verlassen, bis er den ausstehenden Lohn für drei Monate bekommen hatte. Die Polizei drohte ihm mit Verhaftung. Aber er erklärte: „Mir macht es nichts,Tage und Wochen hinter Gittern zu verbringen, wenn ich kostenloses Essen und freie Unterkunft bekomme.“

Es gibt keine Berichte darüber, dass die chinesischen Staatsgewerkschaften bei diesen Protesten und bei der Unterstützung der Arbeiter eine nützliche Rolle spielten. Zwar ist deren Politik weniger auf die Durchsetzung von Kollektivrechten (z.B. Tarifverträge) als auf Hilfe bei der Durchsetzung persönlicher Ansprüche – dazu gehören auch ausstehende Lohnzahlungen – ausgerichtet. Aber vermutlich haben sie sich den Lokalbehörden untergeordnet.

Anfang Februar demonstrierten in der Millionenstadt Wuhan in Zentralchina tausende Rentner vor dem Sitz der Stadtregierung am Yangtse-Fluss. Sie forderten die Rücknahme der von der Stadtregierung beschlossenen Kürzungen der Erstattung für medizinische Leistungen. Die Polizei hatte das Bürogebäude abgeriegelt. „Normale Leute wie uns abzocken? Warum fangt ihr Beamten nicht zuerst bei Euch selbst an und halbiert Eure Vergünstigungen?“ (Financial Times, 9.2.2023) Andere Demonstranten umzingelten Polizeifahrzeuge und sangen die Internationale. Einige wurden auch verhaftet. Die meisten Demonstranten waren ehemalige Mitarbeiter des Staatskonzerns Wuhan Iron and Steel (WISCO, inzwischen mit dem Staatskonzern Baosteel verschmolzen) und anderer Staatskonzerne. Sie protestierten gegen eine erhebliche Kürzung der Erstattungen für Gesundheitsleistungen im Zuge einer Reform der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Stadtregierung von Wuhan hatte angekündigt, die Erstattung von Gesundheitskosten von bisher 260 RMB pro Monat auf 88 bzw. 82 RMB zu reduzieren. Der maximale Erstattungsbetrag sollte von 4.000 RMB auf 1.300 RMB fallen.

Die Rentner kündigten weitere Demonstrationen an, sollten die Kürzungen nicht zurückgenommen werden. Nach Berichten ist die Reform inzwischen gestoppt. Ein Kommentar auf Sina Weibo, einer chinesischen Social Media-Plattform, lautete: „Rentner sind normalerweise eine furchtsame Gruppe, die ein ruhiges Leben wollen. Wenn selbst Rentner aus Verzweiflung demonstrieren, muss man die Politik überprüfen.“ Ein anderer kommentierte: „Wenn ich an meine künftige Rente denke, schreckt diese Reform mich ab, weiter in die Sozialversicherung einzuzahlen.“

Einbruch bei der Beschäftigung und beim privaten Konsum

Die Nachrichten vom chinesischen Arbeitsmarkt sind nicht sehr erbaulich: Die Arbeitslosigkeit unter städtischen Jugendlichen zwischen 16 und 24 war im Juli 2022 auf 19,9% gestiegen; im Vorjahr hatte sie im Durchschnitt noch bei 14% gelegen (Caixin, 16.8.22). Also jeder fünfte Jugendliche, der als Einwohner z.B. von Shanghai (und damit nicht als Wanderarbeiter) registriert war, war arbeitslos. Die Arbeitslosenquote aller Stadtbewohner von Shanghai lag bei 12% (Caixin, 21.7.22). Der damalige Ministerpräsident Li Keqiang beschrieb die Beschäftigungslage in China als „komplex und grimmig“.

Besonders hoch ist die Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen. Fast 11 Millionen, 18% mehr als im Vorjahr, drängten 2022 auf den Arbeitsmarkt. Weniger als die Hälfte hatte im April schon ein Jobangebot. Zum gleichen Zeitpunkt 2021 hatten schon 60% der Hochschulabsolventen ein Jobangebot. Die Einstiegsgehälter sind deutlich niedriger, bei 6.500 RMB oder umgerechnet 970 US-$ gegenüber 7.400 RMB im letzten Jahr (Economist, 28.5.22). Die Einstiegslöhne in der Industrie in Chinas „Fabrik der Welt“ im Perlflussdelta mit den Metropolen Shenzhen und Guangzhou sind auf 9 bis 10 RMB pro Stunde gefallen (Caixin, 7.7.22). Die finanziell strapazierten öffentlichen Arbeitgeber haben den Beschäftigten Boni gestrichen, die einen erheblichen Teil der Gehälter ausmachen.

Während es deutlich mehr Arbeitssuchende gibt – noch verstärkt durch die Rückkehr von ca. 1 Mio. chinesischen Studenten aus dem Ausland u.a. aufgrund der Corona-Pandemie im Westen -, ist Chinas Wirtschaft eingebrochen: Durch die zahlreichen Lockdowns, die gerade Chinas Wirtschaftsmetropolen getroffen haben, wuchs die Volkswirtschaft 2022 insgesamt nur noch um 3% im Vergleich zum Vorjahr, auch wenn Industrieproduktion und die Exporte weiter zulegten. Das für 2022 anvisierte Wachstumsziel von etwa 5% hat die Regierung kassiert. Chinas Dienstleistungssektor, in dem die meisten Hochschulabsolventen unterkommen, kontrahierte gegenüber dem Vorjahr. Die zunehmende staatliche Regulierung des Technologiesektors (vergl. Sozialismus 11/20) – z.B. eine 9-Monats-Sperre für neue Lizenzen für Computerspiele – führte in der Branche zu vielen tausend Entlassungen. Außerdem hat Xi Jinpings im Grundsatz richtige bildungspolitische Ansage der „zwei Reduzierungen“ – weniger Hausaufgaben an den Schulen für Chinas chronisch überlastete Schüler und gleichzeitig die Beschneidung der Geschäfte der aufgeblähten privaten Nachhilfe-Industrie, die die Schüler für teures Geld für die Zulassungsprüfungen der besten Universitäten fit machen sollen – ein wichtiges Jobventil für Hochschulabsolventen geschlossen. Denn über 6 Millionen – meist junge Hochschulabsolventen – arbeiteten 2021 als Tutoren in Chinas Nachhilfeindustrie. Im Sommer 2022 hatten sich über 11 Mio. Kandidaten zu den Aufnahmeprüfungen für das Lehramt an staatlichen Schulen angemeldet, ein neuer Rekord. Viele Jahre machten chinesische Hochschulabsolventen um den Öffentlichen Dienst und speziell um die Schulen einen großen Bogen, weil Unternehmen und besonders die Privatwirtschaft besser zahlten.

Die Jobmisere der Hochschulabsolventen verdeckt ein anderes, größeres Problem, das angesichts der vielen lobenden Berichte im Westen über den Lerneifer von Chinas Schülern und Studenten meist vergessen wird. Nach Daten der OECD und des National Bureau of Statistics hatten nach der Volkszählung von 2020 nur 36,6% der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (zwischen 25 und 64) eine Oberschule (High School) oder eine vergleichbare Berufsschule abgeschlossen oder hatten einen akademischen Abschluss. Die meisten Arbeitnehmer haben nur neun Pflicht-Schuljahre absolviert, ältere Arbeiter sogar noch weniger. Das sind 20% weniger als im Durchschnitt der G20-Länder, weit unter den Zahlen für Brasilien, Mexiko, Südafrika oder die Türkei. Auch wenn internationale Vergleiche von Bildungsstandards mit Problemen behaftet sind, lässt sich festhalten, dass China ein Produktivitätsproblem bekommen wird, weil die meisten Arbeitskräfte im arbeitsfähigen Alter über keine solide Berufsausbildung verfügen. Deshalb setzt der bildungspolitische Kurswechsel der chinesischen Regierung auch auf verstärkte (berufs-) praktische Ausbildung.

Von der Zero-Covid-Politik der chinesischen Regierung war weniger die Industrieproduktion, sondern vor allem der private Verbrauch betroffen. Die Zuversicht der chinesischen Konsumenten lag im Sommer 2022 auf dem niedrigsten Wert seit Beginn der Aufzeichnungen in China (Economist, 18.8.2022). Der Konsum der privaten Haushalte, der nach den Zielen der Regierung immer mehr den Export als Treiber der Volkswirtschaft ersetzen soll, ist 2022 inflationsbereinigt gefallen.

Fernes Ziel des „gemeinsamen Wohlstands“

Im Januar 2021 erklärte Xi Jinping, Parteichef und Staatspräsident: „Wir können es nicht zulassen, dass die Kluft zwischen Reich und Arm weiter wächst … Wir können es nicht zulassen, dass die Einkommensunterschiede unüberbrückbar werden“. „Common Prosperity“, „gemeinsamer Wohlstand“ ist das offiziell erklärte Ziel der KPCh und der chinesischen Regierung. In seinem Bericht an den 20. Parteitag im Oktober 2022 erklärte Xi Jinping: „Wir müssen uns bemühen, den Anteil des Bevölkerungseinkommens am Nationaleinkommen zu erhöhen und den Anteil der Löhne und Gehälter an der Primärverteilung zu vergrößern … Es gilt, die Chancengleichheit zu fördern, die Einkommen von Geringverdienern zu erhöhen und die Gruppe der Durchschnittsverdienenden zu vergrößern.“ [1]

Den klaren Botschaften sind bislang wenig Taten gefolgt. Die bis Ende 2022 verfolgte Zero-Covid-Politik der Regierung hat die Lage der ärmeren Chinesen eher weiter verschlechtert. Damit steht aber einer der Säulen der Legitimität der KPCh in Frage: nämlich das Versprechen eines Lebensstandards für alle Chinesen, der mindestens die Grundbedürfnisse sichert. Nach der Interpretation vieler westlicher China-Wissenschaftler gibt es einen impliziten Gesellschaftsvertrag der KPCh mit den 1,4 Milliarden Menschen in China. Dieser gesellschaftliche Konsens besteht darin, dass die Partei für Arbeitsplätze, Wohnen, Essen und Sicherheit sorgt. Dafür wird gleichzeitig die Herrschaft der Partei und die Einschränkung politischer Rechte akzeptiert.  

Die bessere soziale Integration der Wanderarbeiter oder Arbeitsmigranten ist ein Dauerthema der chinesischen Politik. Aber die realen Zahlen sind bedrückend: Mehr als ein Viertel der über 280 Mio. Wanderarbeiter in China hat keine eigene Toilette. 80 Mio. Wanderarbeiter sind inzwischen über 50 und haben keine längerfristige Job- und vor allem keine Rentenperspektive. Chinas Sozialversicherungssystem ist regional organisiert und bevorzugt die festangestellten Beschäftigten (mit Registrierung als Stadtbewohner). Nach einer Studie von 2016 leiden zwischen 16 und 27% der Schüler in Teilen des ländlichen China unter Anämie, weil ihnen Vitamine und Eisen fehlen. Gleichzeitig hatte China 2021 nach einer Zählung des US-Wirtschaftsmagazins Forbes 698 Milliardäre, nur ein paar weniger als die USA mit 724. Nach Schätzungen wird sich bis 2025 die Zahl der Superreichen in China nochmals verdoppeln.

Die chinesische Regierung hat auch ihre eigenen Ziele bei der Verbesserung der Lage der Wanderarbeiter bislang nicht erreicht: In ihren Plänen von 2014 für eine bessere Urbanisierung gab sie das Ziel vor, bis zum Ende der Dekade – also 2020 – den Prozentsatz der Stadtbewohner mit Hukou um 2% zu steigern. Zum besseren Verständnis: Absolut hätten davon ca. 30 Mio. Wanderarbeiter profitiert. Damit sollte die Kluft zwischen „richtigen“ Stadtbürgern (2014 waren es 35% von Chinas Gesamtbevölkerung) und Einwohnern der Städte (damals 53,7% der Gesamtbevölkerung) reduziert werden. Die Schere ist bis 2020 aber nochmals um 1% auseinander gegangen (Economist, 24.9.22).

Chinas offiziell gemessener Gini-Koeffizient, ein international akzeptierter Maßstab für die Berechnung gesellschaftlicher Ungleichheit, liegt bei 46,5%, höher als in den USA oder anderen entwickelten Volkswirtschaften. Ein Gini-Koeffizient von Null bedeutet vollkommene Gleichverteilung. Bei einem Gini-Koeffizienten von Eins kassiert eine/r das gesamte Einkommen oder Vermögen. Nach Daten der Weltbank liegt Chinas Gini-Koeffizient zwar niedriger, weil die Weltbank in ihre Berechnungen die niedrigeren Preise in Chinas Landgebieten einkalkuliert. Die Forscher um Thomas Piketty kommen dagegen für China zu einem noch höheren Gini-Koeffizienten als die offiziellen Daten (Economist, 2.10.21).

Zwar ist der offizielle Gini-Koeffizient seit 2008 gesunken, aber an der gesellschaftlichen Erfahrung, dass China eine extrem ungleiche Gesellschaft ist, hat sich nichts geändert. Das kann an der persönlichen Erfahrung liegen, dass der soziale Aufstieg in China immer weniger funktioniert, ein Trend, der sich in der Pandemie noch verstärkt hat. Zwar haben sich die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land relativ verringert. Aber zunächst fallen die Einkommensunterschiede in der eigenen Lebensumgebung ins Auge – z.B. innerhalb der Stadt oder in einem Stadtviertel. Außerdem rechnet jede/r in realem Geld und nicht in Gini-Prozenten: Zwar hatte 2014 das oberste Fünftel der chinesischen Haushalte ein fast 11mal so hohes Pro-Kopf-Einkommen wie das unterste Fünftel der Haushalte. Diese Relation ist bis 2019 zwar leicht gefallen, aber in hartem Geld betrug die Differenz pro Kopf 69.000 RMB im Jahr 2019 gegenüber 46.000 RMB 2014.

Covid-Politik hat soziale Ungleichheit verschärft

Die bis Ende 2022 verfolgte Zero-Covid-Politik der chinesischen Regierung hat es für hart arbeitende arme Chines*innen noch schwerer gemacht, voranzu ommen. Die Wege in die Mittelschicht sind immer mehr versperrt. Ein Beispiel: Im Januar 2022 veröffentlichten die Behörden der Stadt Peking zum Zweck der Kontaktverfolgung die Daten von zwei Corona-Infizierten. Ein 44jähriger Wanderarbeiter namens Yue arbeitete als Tagelöhner innerhalb von 18 Tagen auf 30 (!) verschiedenen Baustellen. Er musste eine große Familie ernähren. Dagegen verbrachte eine ebenfalls infizierte junge Büroangestellte mit dem Familiennamen Li die ersten Januarwochen mit Skifahren und mit Einkäufen u.a. bei Dior. Die Veröffentlichung dieser Daten sorgte für eine lebhafte Debatte in den sozialen Medien. (Economist, 7.9.2022) Besondere Probleme gibt es in Chinas Plattform-Ökonomie, wo die Profite (oder zumindest die Umsätze) der Start-Ups etc. auf der schlecht bezahlten Arbeit der formal selbständigen Lieferanten, in der Regel Wanderarbeiter, basieren. Es gibt immer wieder Proteste und Streiks. Im Herbst 2022 wurden die Büros des Lieferdienstes MissFresh von unbezahlten Lieferanten belagert.

Die meisten Arbeitsmigranten arbeiten im Dienstleistungssektor, etwa in Restaurants, Hotels oder Wäschereien. Mit den Lockdowns verloren viele ihre Jobs und mussten Gelegenheitsjobs mit deutlich schlechterer Bezahlung annehmen. Nach Untersuchungen chinesischer Sozialwissenschaftler sind seit Beginn der Pandemie die Rücklagen der Haushalte mit niedrigen Einkommen von Quartal zu Quartal weiter gefallen, während die Vermögen der Haushalte mit höheren Einkommen weiter stiegen. Mit einer Registrierung (hukou) als Landbewohner haben Arbeitsmigranten kaum Anspruch auf Sozialleistungen. Sie sind die letzten, die von den städtischen Behörden Unterstützung bekommen. Bei dem langen Lockdown in Shanghai mussten viele auf den Straßen leben, weil sie sich keine Miete leisten konnten. Gleichzeitig ist für sie der Weg zurück aufs Dorf auch keine Alternative. Denn sie befürchteten, wegen Lockdowns, Quarantäne etc. nicht zurück zur Arbeit in die städtischen Zentren zu kommen.

Für hunderte Millionen Chinesen haben die Pandemie und die jahrelange Lockdown-Politik der Regierung die fragile Balance zwischen der Arbeit und dem Geldverdienen in der Stadt und ihrer Familie auf dem Land zerstört. Betroffen sind ärmere Familien und ganz besonders deren Kinder, die meist in den Dörfern bei den Großeltern leben. Nach UN-Angaben waren schon 2020 – im ersten Corona-Jahr – weltweit 1,5 Milliarden Schulkinder von Schulschließungen betroffen; ein Drittel der Schüler hatte keinen Zugang zu Online-Unterricht. Aber die Probleme von den ca. 290 Millionen Schulkindern in China sind besonders gravierend, weil die Schulschließungen über drei Jahre gingen. In den Jahren vor 2020 hatte China immerhin Fortschritte zu verzeichnen: Das Bildungsgefälle zwischen den eher wohlhabenden Chinesen in den Städten und den ärmeren Chinesen auf dem Land wurde geringer – durch hohe staatliche Investitionen in die Schulen in Landgebieten und durch die Finanzierung der Lehrergehälter durch die Zentralregierung statt durch finanziell klamme Kommunen.     

Nach dem Ende der Corona-Politik ist es klar, dass diese Kinder aus ärmeren Haushalten und in Chinas Dörfern langfristig die Hauptleidtragenden der Corona-Politik sind. Die gesellschaftliche Ungleichheit wird sich damit weiter verstärken. Die in ärmeren Haushalten aufgewachsenen Jugendlichen werden auch besonders unter der Rekord-Jugendarbeitslosigkeit leiden.

Genauso wie in anderen Ländern und durch viele Studien belegt, sind auch in China gerade Kinder aus ärmeren Familien mit dem Online-Unterricht zurückgefallen. Nur dass in China die Restriktionen über mehrere Jahre gingen. In wohlhabenden Familien konnten die Eltern die Defizite durch persönliche Betreuung ausgleichen. Dagegen leben die „left-behind“-Kinder der Arbeitsmigranten viele Monate von den Eltern getrennt. Ihre Ausbildung, der einzige Weg zum sozialen Aufstieg, ist versperrt. Schon nach dem ersten Lockdown 2020 hatten Forscher der Jinan University in Ostchina festgestellt, dass sich das Lerngefälle zwischen Schülern, deren Eltern eine Universitätsausbildung hatten, und den Schülern, deren Eltern nur einen Hauptschulabschluss hatten, deutlich vergrößert hatte. Das ist auch die empirische Evidenz von chinesischen Lehrern nach fast drei Jahren von Online-Unterricht (Financial Times, 3.1.2023).

Mit Infrastruktur-Stimulus gegen die Wirtschaftskrise

Mit großen Infrastrukturprogrammen will die chinesische Regierung die aktuelle Wirtschaftskrise überwinden. Schon im Mai 2022 erklärte Ministerpräsident Li Keqiang in einer Videoschalte mit tausenden regionalen Funktionären, dass Investitionen im Transportsektor, für die Konservierung von Wasser und für die Renovierung alter Wohnquartiere einen starken Anschub für die Wirtschaft und für die Beschäftigung der Arbeitsmigranten geben sollten. Dazu gehören auch 102 Schlüsselprojekte, die im aktuellen Fünf-Jahr-Plan aufgeführt sind, darunter Flutkontrollen, neue Ultra-Hochspannungslinien und Hochgeschwindigkeits-Bahntrassen und vierspurige Schnellstraßen, darunter eine zur berühmten Stadt Shangri-La in der südwestchinesischen Provinz Yunnan.

Ob China diese Infrastruktur-Investitionen noch braucht oder ob da mit viel Beton „weiße Elefanten“ ins Land gestellt werden, ist eine andere Frage. Nach einer von der Weltbank 2020 veröffentlichten Analyse[2] wuchs Chinas Bestand an Infrastruktur und öffentlichen Kapital von 64% der Wirtschaftsleistung im Jahr 2007 auf 107% im Jahr 2016. Dieser starke Anstieg von Infrastruktur und Wohnungen könnte die Verlangsamung des Wachstums der Produktivität im letzten Jahrzehnt erklären. Der Vergleich der Infrastruktur einer Volkswirtschaft mit der Wirtschaftsleistung des Landes macht Sinn: Eine größere Volkswirtschaft braucht eine größere Infrastruktur als Basis. Nach diesem Modell ist die Infrastruktur ein Input entsprechend der Leistung der Volkswirtschaft.

Aber nach dieser Logik haben ärmere Länder eine schlechtere Infrastruktur, weil die Wirtschaftsleistung geringer ist. Dagegen ist das Verhältnis von Infrastruktur zur Bevölkerungszahl ein besseres Kriterium. Nach dieser Logik ist Chinas oft sehr moderne Infrastruktur weniger eindrucksvoll: China hat 120 km Autobahnen pro 1 Mio. Eiinwohner, Frankreich 179 km und die USA 326 km. China hat 106 km Eisenbahn pro 1 Mio. Einwohner, Deutschland dagegen 400 km. Chinas Metronetze sind insgesamt 20mal so lang wie die in Frankreich, aber mehr als 20mal so viel Menschen leben in China in Städten mit über 500.000 Einwohnern als in Frankreich. Nach Schätzungen hat China nur 4,4 Intensivbetten (ICU) pro 100.000 Einwohner gegenüber 14 in den USA – eine katastrophale Knappheit, die die drastischen politischen Reaktionen auf die Covid-Ausbrüche erklärt. 

Das bedeutet: Ohne die Ausgabenprogramme der chinesischen Regierung wäre die Nachfrage in China nicht ausreichend, um die Arbeitskräfte und das Kapital produktiv zu beschäftigen. Eine Rezession wäre schlimmer.

Zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise geht die Zentralregierung auch gegen andere etablierte Interessen vor: Im April 2022 veröffentlichen das ZK der KPCh und der Staatsrat, das Kabinett der Regierung, ein gemeinsames Dokument mit der Forderung nach einem einheitlichen nationalen Markt. Angesichts der erfolgreichen Abkehr der chinesischen Volkswirtschaft von der einseitigen Orientierung auf den Export – Chinas Exporte als Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung fielen auf 14% 2020 – ist die Umsetzung eines einheitlichen inneren Marktes besonders wichtig. Das längerfristige Problem sind die Partikularinteressen der lokalen Kader (Economist 23.7.22)

Chinas wohl größter Vorteil ist jedoch der immer noch weitgehend geschlossene Kapitalmarkt: Privates Kapital kann nur in sehr begrenztem Maße abgezogen werden und dadurch das Finanzsystem destabilisieren. In fast allen Finanzkrisen der Schwellenländer war Kapitalflucht eines der größten Probleme […] In China ist das anders, weil dort die Kreditvergabe nahezu vollständig durch einheimische Finanzinstitutionen erfolgt. Außerdem werden die Kredite fast ausschließlich in einheimischer Währung vergeben.«

Immobilienblase und Hypothekenstreiks

Je nach Berechnung hat Chinas Bau- und Immobiliensektor mitsamt Baufirmen und Zulieferern aus der Stahl- und Zementindustrie und der Möbelindustrie, den Herstellern von Baumaschinen etc. bislang zwischen 23 und 29 Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung des Landes beigetragen. Dieser Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung – egal ob 23 oder 29% - ist im internationalen Vergleich riesig und alles andere als nachhaltig. Zwar hatte (und hat) China einen enormen Nachholbedarf an Wohnungen, verstärkt durch die rasche Urbanisierung, sowie an gebauter Infrastruktur. Aber die Privatisierung des Immobiliensektors verbunden mit dem Finanzierungsbedarf der Kommunen, deren Haupteinnahmequelle der Verkauf (auf Zeit) von kommunalem Land an Immobilienkonzerne ist, und dem Interesse der Privathaushalte an einer guten Geldanlage haben viele Jahre lang einen Motor angetrieben, der das ganze Land mit Hochhaussiedlungen überzogen hat. Etwa 70% der privaten Ersparnisse stecken inzwischen in Immobilien, deren Preise bislang nur eine Richtung kannten: nach oben! Viele Haushalte haben zwei und mehr Immobilien. Natürlich haben auch Chinas staatliche Banken an dem großen Rad mitgedreht.       

Jetzt ist seit Jahren Krise auf dem Immobiliensektor: Die Wohnungspreise fallen, im Juli 2022 um 28% gegenüber dem Vorjahr, große Immobilienentwickler sind insolvent. Die hoch verschuldeten Immobilienkonzerne haben die Bauarbeiten oder den Start von Projekten, die längst verkauft sind, gestoppt. Im Gegenzug haben in ganz China frustrierte Wohnungskäufer begonnen, ihre Hypotheken nicht mehr zu bedienen, solange nicht gebaut wird. Nach im Internet veröffentlichten Dokumenten betrifft der Stopp der Hypothekenzahlungen inzwischen 319 Projekte in 93 Städten (Economist, 23.7.22). Nach Daten der Deutschen Bank sind von dem Boykott bislang ca. 5% der insgesamt verausgabten Hypotheken betroffen. Sollte sich der Boykott weiter ausbreiten, könnten speziell kleinere Regionalbanken in Schwierigkeiten geraten.

Die Anzahlungen der Käufer waren für Chinas Immobilienkonzerne bislang eine der wichtigsten Liquiditätsquellen. 2021 wurden 90% aller Immobilien vor Baubeginn verkauft, 2005 waren es nur 58%. Es war eine Art Schneeballsystem: Mit dem Geld der Käufer konnten die Immobilienentwickler von den Kommunen weitere Grundstücke erwerben und gleichzeitig bei den Banken die Finanzierung für die Fertigstellung der Projekte sichern.  

Angesichts der riesigen Bedeutung des Immobiliensektors scheint ein Finanzcrash aber unwahrscheinlich. Viele lokale Behörden, deren Finanzlage von den Landverkäufen an die Entwickler abhängt, haben ihrerseits begonnen, auf die Fertigstellung der bereits bezahlten und begonnenen Projekte zu dringen, und die Vermögenswerte der insolventen Entwickler zu restrukturieren. Der Parteichef der zentralchinesischen Provinz Hunan versuchte, den Kauf von Wohnungen zu stimulieren mit der erstaunlichen Ansage, man könne auch mehr als zwei oder drei Wohnungen besitzen. Xi Jinping hatte dagegen wiederholt verkündet, Immobilien seien zum Wohnen da, aber nicht zur Spekulation.

Denn die Zentralregierung setzt auf eine allmähliche Korrektur des überhitzten Immobilienmarkts, die Normalisierung des Anteils des Sektors an der chinesischen Volkswirtschaft und um die schrittweise Abwicklung der meist hoch verschuldeten Immobilienkonzerne. Es geht um die Fertigstellung bereits begonnener Projekte, was einen Aufwand von insgesamt etwa 2 bis 4% der Wirtschaftsleistung erfordern würde. Nicht um eine Garantie, dass alle auf dem Papier gekauften Immobilien auch gebaut werden. Das wäre ein Blankoscheck für die Immobilienkonzerne.  

Außerdem muss die Zentralregierung sehr vorsichtig bei der Lösung der Immobilienkrise sein, weil die Landverkäufe der Kommunen an Immobilienkonzerne bislang einen Großteil der Kommunalfinanzierung ausgemacht haben. Chinas Kommunen finanzieren über 30% ihrer Haushalte über Landverkäufe. (Economist, 4.9.2021) Der Boden ist seit der Gründung der Volksrepublik 1949 gesellschaftliches Eigentum, es gibt keinen privaten Landbesitz. Seit den Wirtschaftsreformen der 1980er-Jahre praktizieren die chinesischen Behörden das Modell der Erbpacht: Für maximal 70 Jahre können Private und Unternehmen einen Titel an einem Stück Land erwerben und mit dem Land nach Gusto verfahren. Üblich sind Auktionen, in denen die Landstücke an die Meistbietenden versteigert werden.

Aber 2021 sind die Einnahmen der meisten chinesischen Kommunen aus Landverkäufen erstmals gefallen. In 13 der 31 chinesischen Provinzen fielen die Einnahmen aus dem Verkauf von Landnutzungsrechten sogar um über 20%, darunter in Xinjiang in Nordwestchina und in den von Schwerindustrie geprägten nordostchinesischen Provinzen Heilongjiang, Jilin und Liaoning (Caixin, 29.12.2021). Dabei hatten die Kommunen die Regeln für die Landauktionen schon erleichtert, um auch private Immobilienentwickler mit knapper Liquidität anzulocken. Im Schlussquartal 2021 lagen die durchschnittlichen Landpreise in 300 großen und mittleren Städten nur um 3% höher als die Mindestgebote. Noch sechs Monate vorher hatte der durchschnittliche Preisaufschlag über die Mindestgebote bei 17% gelegen.

Chinas kleinere Städte (immer noch sehr groß nach unseren Maßstäben) sind besonders von dem Preisverfall auf dem Immobilienmarkt getroffen. Zur Ankurbelung der Verkäufe haben sie die Grunderwerbssteuer abgesenkt oder bezuschussen direkt die Wohnungskäufe. In einigen Regionen werden auch Landbewohner ermuntert, Immobilien in der Stadt zu kaufen, obwohl sie kein Zertifikat als Stadtbewohner, das sogenannte Hukou, haben (Caixin, 25.12.2021).

Chinas Wohnungsfrage: Wohnungen als Ware und als Geldanlage

Mit den marktwirtschaftlichen Reformen nach dem Ende der Kulturrevolution ging die KPCh auch die Wohnungsfrage mit den Instrumenten des Marktes an – mit der Folge, dass die Volksrepublik weltweit einer der höchsten Wohneigentumsquoten ausweist, andererseits nach 40 Jahren mit massiven volkswirtschaftlichen Verzerrungen und sozialen Verwerfungen zu tun hat. KP-Chef und Staatspräsident Xi Jinping sah sich seit 2016 wiederholt zu der Aussage genötigt: »Wohnungen sind zum Leben und nicht zur Spekulation.«

1980 lebten noch fast 80% der Chinesen auf dem Land. Die landwirtschaftlichen Kollektive – die später aufgelösten Volkskommunen – sorgten für die Wohnungen der Bauern. Eine Binnenwanderung und damit der Zuzug von Landbewohnern in die Städte war praktisch unmöglich. In den Städten stellten die Staatsbetriebe und die Behörden den Wohnraum für ihre Beschäftigten und deren Familien zur Verfügung. Die Wohnungen waren meist sehr klein. Familien wohnten äußerst beengt in einem Zimmer, aber Wohnen kostete praktisch nichts. Junge Alleinstehende lebten in Wohnheimen.

Ein persönliches Erlebnis illustriert die damalige Wohnungsnot in Chinas Städten: Im Sommer 1979, als Wandzeitungen als Instrumente für öffentliche Diskussion und Beschwerden noch erlaubt waren, hing vor dem Sitz des Zentralkomitees der KPC in Peking eine Wandzeitung. Sie war an Wang Dongxing adressiert, damals einer der mächtigsten Männer der KPC. Darauf hielt der Autor um die Hand der Tochter des Parteiführers an. Denn die wohnte mit ihrem Vater in einer Villa hinter den Mauern auf dem Gelände der Parteizentrale. Er werde die Tochter des Parteiführers niemals belästigen, er wolle nur ein kleines Zimmer in der Villa. Denn er selbst müsse mit seinen Eltern und zwei kleinen Geschwistern in einer Ein-Zimmer-Wohnung leben und könne nicht mal eine Freundin mit nach Hause bringen.

Zu den von Deng Xiaoping angestoßenen Reformen gehörte auch die Entwicklung eines Wohnungsmarktes – zusammen mit der zeitlich auf 70 Jahre befristeten Verpachtung des Bodens und damit der Privatisierung der Bodennutzung. Grund und Boden blieben aber weiter gesellschaftliches Eigentum. Der erste Schritt zur Entwicklung des Wohnungsmarktes war in den Städten und industriellen Zentren die Privatisierung des Wohnungsbestandes der Staatsorgane und Unternehmen in den 1980er und 90er-Jahren. Die sollten von der Bürde der Verwaltung und der kostspieligen Pflege des Wohnungsbestandes befreit werden und sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren – so die offizielle Lesart. Damals konnten Staatsangestellte und Beschäftigte der Staatsbetriebe die von ihnen bewohnten Apartments zu sensationell günstigen Preisen kaufen – z.B. ein 50-qm-Apartment in der Pekinger Innenstadt für umgerechnet wenige Tausend Euro, das heute mehrere Millionen Euro kostet.

Die etwa zeitgleich begonnenen Landreformen – die schrittweise Auflösung der Volkskommunen und die Privatisierung der Bodennutzung – sorgten nicht nur für einen Produktivitätsschub in der Landwirtschaft. Sie setzten gleichzeitig die latente ländliche Überbevölkerung frei. Binnen weniger Jahrzehnte verließen mehrere hundert Millionen Chinesen ihre Dörfer und zogen in die städtischen Metropolen und die riesigen Industriegebiete und Exportzonen z.B. an den Mündungen von Yangtse oder Perlfluss. Aber die Arbeitsmigranten behielten gleichzeitig ihre Landtitel und ihre Häuser in den Dörfern. Denn offiziell sind die meisten immer noch Landbewohner, auch wenn sie viele Jahre etwa in Peking oder Shanghai gelebt und gearbeitet haben.

Der Urbanisierungsschub sorgte für eine enorme Nachfrage nach neuen Wohnungen. Hinzu kam der Bedarf der Stadtbevölkerung nach mehr Wohnraum mit höheren Standards, was die Nachfrage nach Wohnraum weiter steigerte. Zudem war vorher, in den Jahren der Kulturrevolution, kaum gebaut worden.

Die Privatisierung des Wohnungsbestandes in den Städten war die Blaupause für die Entwicklung des Immobilienmarktes in China. Private Immobilienentwickler schossen aus dem Boden. Auf Grundstücken, die sie von den Kommunen auf Zeit ersteigert hatten, errichteten sie Hochhauskomplexe mit jeweils vielen tausend Eigentumswohnungen, die ihnen aus den Händen gerissen wurden. Zeitweilig dominierten Immobilienspekulanten die Listen von Chinas Superreichen. Private Industrieunternehmen und auch Staatskonzerne, die gerade erst ihre Personalwohnungen privatisiert hatten, legten sich Immobilientöchter zu, um von den exorbitanten Gewinnchancen zu profitieren.

Das Geschäft von Chinas Immobilienentwicklern besteht im Wesentlichen darin, große Grundstücke in urbanen Zentren zu kaufen. Dort werden dann sofort Immobilien entwickelt, gewöhnlich Hochhauskomplexe mit vielen Etagen. Die Wohnungen werden an Interessenten verkauft. Oft sind schon alle Wohnungen vor dem ersten Spatenstich verkauft. Mit dem eingenommenen Geld werden neue Grundstücke gekauft und weitere Projekte entwickelt. Diese Art Schneeballsystem kann so lange funktionieren, solange die Immobilienpreise stabil sind oder steigen und solange Wohnungen als Geldanlage und zur Spekulation genutzt werden.

Die Verwandlung von Wohnraum in eine Ware war die Basis, auf der das Gemisch aus dem jahrzehntelang wachsenden realen Bedarf an Wohnraum, aus günstiger Finanzierung und aus dem Interesse der immer größeren chinesischen Mittelschicht an Immobilien mangels anderer attraktiver Anlagemöglichkeiten zum Turbo für die Wirtschaft wurde. Wenn die Konjunktur mal schwächelte, gab es staatliche Infrastrukturprogramme für den Bausektor. Das alles förderte den Anstieg der Immobilienpreise, die nur eine Richtung kannten: nach oben. Die Wohnungspreise liegen heute in den Städten zwischen dem 5-fachen und dem 13-fachen eines durchschnittlichen Jahreseinkommens. Bauwirtschaft und Immobiliensektor tragen fast 30% zu Chinas Wirtschaftsleistung bei. In entwickelten Volkswirtschaften beträgt der Anteil in der Regel gerade die Hälfte.

Die allermeisten Haushalte haben Wohneigentum, aber viele Millionen wohnen zur Miete. Die Wohneigentumsquote in China liegt bei mehr als 90% der Haushalte, in den USA sind es rund 65%, in Deutschland unter 50%. Mehr als 20% der Hausbesitzer in China besitzen sogar mehr als eine Immobilie. Hinzu kommt: Der Anteil des Immobilienbesitzes an den Haushaltsvermögen ist in China mit 70% überdurchschnittlich hoch, weit mehr als in westlichen Volkswirtschaften. Wohneigentum ist nicht nur ein Dach über dem Kopf, es dient als Sicherheit und als Notgroschen. Wohneigentum ist auch ein spekulatives Investment, ist der Brautpreis oder das Ticket für eine gute Schule.

Dass 90% der Haushalte in China Wohneigentum haben, bedeutet aber nicht, dass die meisten in den eigenen vier Wänden wohnen. Denn mitgezählt sind auch die Häuser in den Heimatdörfern der hunderte Millionen Arbeitsmigranten, die in Chinas Metropolen leben und arbeiten. Dort wohnen sie in der Regel unter beengten Verhältnissen zur Miete. In vielen großen Städten war es Landbewohnern bislang sogar unmöglich, Wohneigentum zu erwerben, auch wenn sie das nötige Geld dafür hatten, weil sie etwa als gut bezahlte IT-Spezialisten arbeiteten. Aber auch angesichts der vielen leerstehenden Immobilien sind in den letzten Jahren diese Beschränkungen vielfach gefallen.

In den städtischen Zentren sind Mietverhältnisse an der Tagesordnung, 70% der Zuzügler leben in Mietwohnungen. Das kann auch gar nicht anders sein angesichts der Dynamik der chinesischen Gesellschaft mit der riesigen Binnenwanderung und mit einem Arbeitsmarkt, in dem ständig neue Jobs entstehen – ob für Spezialisten etwa von Internet-Firmen oder als Billigjobs bei den Lieferdiensten. Zudem drängen jährlich ca. 11 Mio. Hochschulabsolventen auf den Arbeitsmarkt, die nicht das nötige Geld für eine Eigentumswohnung haben.

Die chinesische Regierung hat begriffen, dass die Wohnungsfrage nicht allein durch Förderung des Wohneigentums gelöst werden kann, sondern dass der Markt für Mietwohnungen reguliert werden muss. Im September 2021 deckelte die Regierung den jährlichen Mietanstieg in den Städten auf maximal 5%. Schon vorher hatten viele Städte und Provinzen entsprechende Vorschriften erlassen. Außerdem setzt die Regierung in den Städten verstärkt auf öffentlich geförderten Wohnraum: Es sollen mehr günstige Mietwohnungen entstehen.

Immobilien waren in China bisher eine Art Sparbuch für viele Menschen, nicht nur in gut bezahlten Jobs. Schon 2010 erzählte ein Busfahrer in Chengdu in der Provinz Sichuan, er habe inzwischen drei Immobilien. Denn jedes Jahr sind die Immobilienpreise gestiegen, innerhalb von zwei Jahrzehnten sogar um ein Vielfaches. Jahrzehntelang war die Bevölkerung von der Illusion geblendet, dass Immobilien immer weiter an Wert gewinnen.

Neben einem Mangel an sicheren Anlagemöglichkeiten war dies der Hauptgrund, warum die Chinesen trotz der bereits absurd teuren Marktpreise ihr Erspartes weiterhin in den Immobiliensektor trugen. Die Tatsache, dass ein großer Anteil der privaten Ersparnisse in Immobilien steckt, zwingt zu einer behutsamen Restrukturierung des Immobiliensektors. Peking muss vorsichtig vorgehen, will es nicht noch mehr Proteste von Sparern auslösen. Nach einer Studie der chinesischen Zentralbank rechnen jetzt über die Hälfte der Chinesen nur noch mit gleichbleibenden Häuserpreisen. Das ist für China ein Novum.

Schwacher privater Konsum und mangelhaftes soziales Netz

Wie die oben erwähnten Demonstrationen der Rentner in Wuhan gezeigt haben, sind Chinas Systeme der sozialen Sicherung bislang eine Großbaustelle. Das Gesundheitssystem ist im internationalen Vergleich mangelhaft. Trotz gesetzlicher Krankenversicherung sind die privaten Zuzahlungen für Operationen, Behandlungen und Medikamente hoch. Es gibt zwar eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung, aber deren Leistungen sind gering und reichen für Niedrigverdiener und prekär Beschäftigte – meistens Arbeitsmigranten – hinten und vorne nicht zum Leben. Viele Selbständige verloren während der Lockdowns ihre Verdienstquellen, aber die gesetzliche Sozialhilfe ist im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten minimal. Bei der Altersversorgung gibt es krasse Unterschiede: Bauern bekommen nur eine karge Rente; sie haben ja noch ihr Land. Für die abhängig Beschäftigten in der Privatwirtschaft führen die Arbeitgeber die Rentenbeiträge ab (was nicht immer geschieht). Zudem sind die Rentenkassen auf Provinzebene organisiert, was früher dazu führte, dass Arbeitsmigranten etwa beim Jobwechsel in eine andere Provinz ihre Rentenansprüche verloren. Dagegen ist die Altersversorgung der Staatsangestellten und der Beschäftigten in den Staatsbetrieben vergleichsweise gut. Das offizielle Renteneintrittsalter liegt bislang bei 55 Jahren für Frauen und bei 60 für Männer.[3]

Chinas mangelhaft ausgebaute Sozialsysteme erklären zu einem guten Teil die im internationalen Vergleich sehr hohe Sparquote der privaten Haushalte, die 2021 bei über 36% lag. Das ist ein massives volkswirtschaftliches Problem: Denn die hohe Ersparnisbildung reduziert die Binnennachfrage, den privaten Konsum. Der private Konsum liegt mit einem Anteil von unter 40 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Chinas weit unter den Werten von anderen Ländern auf vergleichbarem Entwicklungsstand – etwa die Türkei oder Mexiko. Dagegen ist Chinas Investitionsquote – der Anteil an der Wirtschaftsleistung, der investiert wird – seit vielen Jahren extrem hoch. Als Ostasiens sogenannte „Tigerstaaten“ wie Südkorea oder Taiwan vor Jahrzehnten ihre wirtschaftliche Aufholjagd starteten und die Löhne und damit den privaten Konsum bewusst niedrig hielten, um die Investitionen zu fördern, war das Missverhältnis zwischen Konsum und Investitionen nicht so extrem wie heute noch in China.

Diese schon mehrere Jahrzehnte existierenden Verzerrungen und die Frage, wie die Binnennachfrage in China deutlich gesteigert werden kann, standen im Dezember 2022 ganz oben auf der Agenda der Zentralen Wirtschaftskonferenz der KPCh. Bei der Konferenz ging es um ein Programm zur Stimulierung der chinesischen Wirtschaft. Schon im Oktober 2022 hatte Xi Jiinping auf dem Parteitag erklärt, China müsse sich bemühen, den Anteil der Einkommen der privaten Haushalte am Nationaleinkommen zu erhöhen und den Anteil der Löhne und Gehälter an der Primärverteilung zu vergrößern.

Der in China bekannte Sozialwissenschaftler Sun Liping hat in seinem Blog das Thema der Binnennachfrage diskutiert: [4] „Ob sich der private Verbrauch in China nach dem Ende der Pandemie wieder erholt, macht vielen in der Geschäftswelt große Sorgen. Nach meiner Einschätzung wird sich die Nachfrage nach lebensnotwendigen Dingen schrittweise wieder normalisieren. Auch die Nachfrage nach spontanen Ausgaben wird sich erholen, aber das wird nicht lange andauern. Dagegen geht die Nachfrage für langlebige Gebrauchsgüter in einen langfristigen Abwärtstrend über. Deswegen ist nach meiner Einschätzung das Problem der privaten Nachfrage sehr ernst. Solange das Problem der Binnennachfrage nicht gelöst ist, ist es egal, wie viel wir investieren oder produzieren. Woran liegt das?“

Die zentralen Thesen von Sun sind einfach: Erstens müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen zuversichtlich in die Zukunft blicken. Wir müssen ihre realen Einkommen erhöhen. Wir müssen den Wohlstand, die Ersparnisse der Menschen bewahren und erhalten. Zweitens hat China gar nicht die nötige Binnennachfrage, um seine produktiven Kapazitäten auszunutzen. Das ist ein riesiges langfristiges Problem angesichts der zunehmenden internationalen Tendenzen zur Abkopplung und der Absichten, die Globalisierung rückgängig zu machen.

Dabei räumt der Sozialwissenschaftler Sun Liping mit dem Urteil auf, dass die Chinesen besonders sparsam sind. Er betont, dass das Problem der mangelnden Binnennachfrage in China schon alt ist:

„Ende der 90er sagten wir, dass die Chinesen die Angewohnheit haben zu sparen. Später sagten wir, das sei bei den Älteren so, aber die Jüngeren seien glückliche Konsumenten. Ich meine, das ist kein zentraler Faktor für die mangelnde Binnennachfrage. Ein Beispiel vom Ende der 90er Jahre: Damals begannen die Haushalte in Peking, sich Telefonanschlüsse anzuschaffen. Damals kostete ein Telefonanschluss umgerechnet zwischen 750 und 900 US-$. In kleineren Städten kostete ein Telefonanschluss zwischen 300 und 750 US-$. Aber zur gleichen Zeit verdienten die Leute nur ein paar hundert RMB (100 RMB damals ca. 12 $) im Monat. Wenn die Leute fast ein Jahresgehalt für einen Telefonanschluss ausgeben, kann man dann wirklich sagen, dass sie Sparen besser finden als Geld auszugeben? Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verbreitete sich das Auto. Am Beispiel eines VW Santana bedeutete das, dass man vier bis fünf Jahresgehälter für das Auto hinlegen und gleichzeitig auf Essen und Trinken verzichten musste. Können wir da ernsthaft sagen, dass die Chinesen nicht konsumieren wollen, sondern lieber sparen wollen? Bei den privaten Wohnungskäufen ist das Bild noch deutlicher.

Wir können also nicht sagen, dass die Chinesen zu bescheiden, zu sparsam und zu geizig sind. Das stimmt nicht, auch wenn wir nur über die ältere Generation sprechen. Die Tatsache ist, dass die Leute wie verrückt Geld ausgeben. Es reicht aber immer noch nicht für die nötige Binnennachfrage …

Aber wo liegen die Wurzeln des Problems? Ein erheblicher Teil der Haushaltsausgaben ist in den letzten drei Jahren zur Kontrolle und zur Vorbeugung der Pandemie verwandt worden. Das war teuer. Auch die Regierung hat sehr viel Geld für Testzentren, Quarantäne-Einrichtungen, Impfstoffe und den Aufbau von Kontrollteams ausgegeben. Aber viele übersehen, wie viel die privaten Haushalte dafür bezahlt und teilweise auch nutzlos ausgegeben haben. Die Haushalte haben Vorräte an Lebensmitteln und Medizin angelegt, Dinge, die normalerweise nicht notwendig gewesen wären. Deswegen sind Aussagen, die Pandemie habe die private Nachfrage gedämpft, nicht korrekt. Viele Familien geben nicht weniger aus, sondern für andere Dinge und nicht für normale Ausgaben. Die Haushaltsausgaben wurden nicht weniger.

Gleichzeitig sind die Einkommen eines erheblichen Teils der Bevölkerung gefallen. Unter dem Einfluss der Pandemie und aufgrund anderer Faktoren ist in den letzten Jahren die Zahl der Arbeitslosen dramatisch angestiegen, nach manchen Zahlen sogar auf über 70 Millionen. Wenn man noch die Hochschulabsolventen dazu rechnet, könnte die Zahl der Arbeitslosen bei ca. 80 Millionen liegen. Ein erheblicher Teil kleiner und mittlerer Unternehmen und viele Selbstständige sind von der Epidemie hart getroffen worden. Viele von ihnen sind bankrott gegangen und haben ihre Unternehmen geschlossen. Manche müssen nach wie vor ihre Hypotheken bedienen und die Kredite für den Wagen. Für sie ist es nicht die Frage, ob sie Geld ausgeben wollen, aber sie können nicht konsumieren … Die zur Bank gehen und Geld anlegen wollen, sind meistens Ältere. Tun sie das, weil ihre Einkommen höher geworden sind? Sicher nicht. Der Grund ist, dass ihre Zukunftserwartungen düster sind und dass sie deswegen mehr Geld zur Seite legen.

Um das Problem der Binnennachfrage wirklich zu lösen, brauchen die Leute Sicherheit und Zuversicht für die Zukunft. Wir müssen die realen Einkommen erhöhen. Und wir müssen ernsthaft den bescheidenen Wohlstand der Leute schützen, damit ein positiver, sich selbst verstärkender Zyklus zwischen dem Wirtschaftswachstum und dem Lebensstandard der Menschen entsteht.“

Bemerkenswert klar spricht Sun ein – auch in China – umstrittenes Thema an, das nicht nur die chinesische Politik weiter beschäftigen wird, sondern das wegen seiner geopolitischen Auswirkungen auch weltweit auf der Tagesordnung steht. Es geht darum, dass das Land  in den letzten 30 Jahren zur „Fabrik der Welt“ geworden ist. In den Hochzeiten der Globalisierung sind in China Kapazitäten für viele Grundstoffe und Endprodukte entstanden, die weit über den langfristigen Bedarf des großen Landes hinaus gehen und die in den meisten industriellen Segmenten mindestens die Hälfte (Stahl, Zement …) bis zu 80-90% (Solarmodule, Elektronik …) der Weltproduktion abdecken. Das ist langfristig weder wünschenswert noch nachhaltig.

„Chinas Produktionskapazitäten können nicht allein von der Binnennachfrage absorbiert werden. Chinas Produktionskapazitäten als die „Fabrik der Welt“ in der Ära der Globalisierung übersteigen bei weitem unsere normale Binnennachfrage. Das bedeutet, dass die Produktionskapazitäten niemals allein von der Nachfrage im Lande absorbiert werden können. Jetzt wird die Globalisierung zurückgedreht, jetzt werden Lieferketten umgebaut. Zwar sind unsere Lieferketten die komplexesten und vollständigsten und die Qualität unserer Industriearbeiter ist sehr hoch. Aber was sollen wir mit all den Produkten tun, die unsere riesigen Kapazitäten ausstoßen?

Man kann das an Produkten demonstrieren, die direkt mit dem täglichen Leben der Menschen zu tun haben. Weltweit werden Jährlich 15 Milliarden Paar Schuhe produziert. Davon produziert China über 10 Milliarden Paar, also fast zwei Drittel. Aber China verbraucht nur 2,4 Milliarden Paar Schuhe pro Jahr. China produziert also 8 Milliarden Paar Schuhe für den Weltmarkt. Bei Haushaltsgeräten ist es ähnlich: Bei Kühlschränken, Klimaanlagen und Waschmaschinen hat China einen Anteil von 50% oder mehr an der Gesamtproduktion auf der Welt. China hat aber nur 17% der Weltbevölkerung.

Wir müssen die Binnennachfrage stärken. Das ist nötig. Wir müssen aber auch realisieren, dass der Binnenmarkt niemals unsere existierenden Produktionskapazitäten absorbieren kann, auch wenn die Binnennachfrage sich normalisiert und steigt. Es gibt nur zwei mögliche Lösungen: Die eine ist, wir stellen unsere Wirtschaftsstruktur komplett um. Die andere ist, dass wir die Reform- und Öffnungspolitik fortsetzen und uns voll in den Weltmarkt integrieren.“

Vermutlich wird die chinesische Regierung beides tun – die Wirtschaftsstruktur des Landes langfristig transformieren UND an der Globalisierung im Sinne einer weltweiten Verflechtung der Volkswirtschaften festhalten.
Das neue Wirtschaftsmodell der zwei Kreisläufe – ein innerer Kreislauf von Wirtschaftswachstum und erweiterter Konsumption, daneben ein Handelsaustausch mit der Welt – verweist auf die Absicht, den Binnenmarkt auszubauen und die einseitige Exportorientierung abzubauen und gleichzeitig Partner in der Weltwirtschaft zu sein.

Gleichwohl nutzt die Regierung weiter monetäre und finanzpolitische Hebel. Chinas Zentralbank hat die Zinsen gesenkt, auch wenn die chinesische Währung damit erstmals seit langem unter die Marke von 7 RMB für einen US-Dollar gefallen ist. Steuererleichterungen für Privatunternehmen sollen die industrielle Produktion fördern und Arbeitsplätze sichern. Außerdem hat die Regierung einen Plan für die Transportinfrastruktur vorgelegt, nach dem das zentrale Autobahnnetz bis 2027 um weitere 11% auf 130.000 km ausgebaut werden soll. Zum Vergleich: Das Interstate-Highway-Netz in den USA hat eine Länge von etwa 98.000 km. Chinas Schnellbahnnetz, das von der China State Railway Group betrieben wird, war Ende 2022 42.000 km lang und soll bis 2027 sogar auf 53.000 km ausgebaut werden. Der zuständige Minister erklärte, diese Pläne würden kurzfristig die Wirtschaft ankurbeln und für mehr Arbeitsplätze sorgen (Nikkei Asia, 31.5.23). Aber kein Wort über die Rentabilität dieser Investitionen und über den längerfristigen Unterhalt dieser im internationalen Vergleich phantastischen Infrastruktur.

Für viele Ökonomen sind solche Programme, gefördert durch lockere Geld- und Kreditpolitik, zwar ein Investitions-Turbo. Sie verstärken aber gleichzeitig die Fehlsteuerungen in Chinas Volkswirtschaft und treiben den Anteil fauler Kredite weiter in die Höhe. Ein Direktor des Forschungsinstituts der National Development and Reform Commission NDRC, die Chinas Staatsplanung und Industriepolitik entwirft und steuert, bezeichnete die ungenügende private Nachfrage als Hauptproblem der chinesischen Volkswirtschaft. Dieses Problem könne aber nicht durch kurzfristige politische Maßnahmen korrigiert werden. Es brauche tiefgreifende institutionelle Reformen. Er benannte erhebliche Probleme in der Wohnungspolitik, der Arbeitslosenversicherung, im Rentensystem und in der Krankenversicherung besonders für die mittleren und niedrigen Einkommensgruppen, darunter die Arbeitsmigranten in den Städten. Diese Probleme anzugehen, würde nicht nur die Lebensbedingungen dieser Gruppen verbessern und mehr soziale Gleichheit schaffen. Das würde auch den privaten Verbrauch steigern (Caixin, 7.6.23).

Weniger Wachstum, aber mehr Arbeitsplätze

Es bleibt abzuwarten, ob und wieweit dieses eher sozialdemokratische Programm auch praktisch umgesetzt wird. Immerhin hat sich die KP Chinas seit 2017 die Förderung des „gemeinsamen Wohlstands“ auf die Fahnen geschrieben. Ein „Weiter so!“ wird nicht funktionieren. Das geht auch aus einem Artikel von Zhang Jun hervor, dem Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Fudan-Universität in Shanghai.[5] Er diskutiert die Änderungen in Chinas Wachstumszielen in den letzten 30 Jahren:

„In den letzten drei Jahrzehnten sind die Wachstumsziele in gewissem Maße zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Von 1993 bis 2013 wurden diese Ziele der chinesischen Zentralregierung praktisch als Hinweis auf deren Hoffnungen verstanden. Deshalb lag die tatsächliche Wachstumsrate weit über den Zielen der Regierung. Ja, in dieser Zeit wirkten strukturelle Kräfte zum Vorteil Chinas. Die lokalen Regierungen sahen sich politischen Anreizen gegenüber, ihre Wachstumsstrategien – darunter Investitionen in Anlagevermögen und Industrieplanung — so umzusetzen, dass sie den Prioritäten und Erwartungen der Zentralregierung entsprachen.

Die Verlangsamung des chinesischen BIP-Wachstums in den letzten zehn Jahren ist nicht auf verfehlte Politik, sondern auf einen neuen politischen Ansatz zurückzuführen. Von 1993 bis etwa 2013 war BIP-Wachstum das vorrangige Ziel der Zentralregierung und bestimmte den Politik-Ansatz im Bereich makroökonomischer Steuerung. Dieses Ziel — mit dessen Verwirklichung die lokalen Regierungen beauftragt wurden — führte zu einer beschleunigten öffentlichen Kapitalbildung, einer Verbesserung des Investitionsumfelds, zu Crowding-in von privatem Kapital sowie zur Schaffung von mehr Produktionskapazitäten.

Allerdings stößt dieser Ansatz an seine Grenzen, die sich aus rasch steigenden Grenzkosten ergeben. Obwohl produktive Investitionen Wachstum und Entwicklung vorantreiben, führen übermäßige Investitionen zu sinkenden Erträgen und steigenden Schulden. Der Grundsatz, Wachstum zur obersten Priorität zu erheben, hat in China auch zu erheblichen Umweltschäden wie Luft- und Gewässerverschmutzung geführt.“

Die mit diesem Ansatz verbundenen unmittelbaren sozialen Kosten veranlassten die chinesische Regierung schließlich, eine neue, auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und makroökonomische Stabilität ausgerichtete Strategie zu verfolgen. Im Bereich Beschäftigung hat China bereits beachtliche Erfolge erzielt. In den letzten zehn Jahren wurden in städtischen Gebieten jährlich etwa zwölf Millionen Jobs geschaffen. Damit wurde das Ziel von elf Millionen – das deutlich verbindlicher war als das BIP-Ziel — bei weitem übertroffen. 

Diese Zuwächse verdankt China vor allem den rasanten Fortschritten in Hightech-Sektoren wie der Plattformökonomie und Elektrofahrzeugen. Neue digitale Technologien haben das rasche Wachstum des Dienstleistungssektors begünstigt und die Widerstandsfähigkeit des Arbeitsmarktes im Allgemeinen gestärkt.

Kann die Wirtschaft ausreichend Arbeitsplätze schaffen, ist ein immer schnelleres BIP-Wachstum einfach nicht notwendig. Selbst als das BIP-Wachstum in den Jahren 2002 bis 2012 auf etwa die Hälfte des Jahresdurchschnitts (10,2 Prozent) gesunken ist, gab es in China keine nennenswerten sozialen Unruhen. Ebenso wenig kam es trotz des pandemiebedingten Abschwungs zu einer Finanzkrise oder einer wirtschaftlichen Kontraktion, die die bisherigen Fortschritte beim Lebensstandard zunichtegemacht hätten.

China wird auch in Zukunft von der veränderten Schwerpunktsetzung seiner Politik — nämlich weg von der Wachstumsorientierung hin zur Fokussierung auf Arbeitsplätze — profitieren. Dieser Ansatz ist der Umsetzung von Strukturreformen zuträglicher, derer es bedarf, um Überinvestitionen zu beschränken und den Schuldenabbau voranzutreiben. Außerdem dürfte diese Strategie auch die Einführung neuer Technologien vorantreiben und so einen positiven Kreislauf aus Arbeitsplatzschaffung und Produktivitätswachstum in Gang setzen. 

Ein ungünstiges außenwirtschaftliches Umfeld ist für China ein weiterer Grund, seinen Blick über das Wachstum hinaus zu richten. Die gesamte Weltwirtschaft hat mit rückläufigem Produktivitätswachstum und sinkender Nachfrage zu kämpfen — Trends, die sich in absehbarer Zeit nicht umkehren werden … Allgemeiner gesprochen führen geopolitisch motivierte wirtschaftspolitische Maßnahmen — nicht zuletzt die von den Vereinigten Staaten verhängten Beschränkungen für den Handel mit China — zu erheblicher Unsicherheit in den globalen Lieferketten und auf Finanzmärkten.

In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist das Zeitalter des hohen Wachstums und der niedrigen Inflation vorbei und wird von der „säkularen Stagnation“ abgelöst, vor der der ehemalige US-Finanzminister Lawrence H. Summers lange warnte. In diesem Zusammenhang ist es für Schwellenländer wie China richtig, sich von der Illusion zu verabschieden, das hohe Wachstum könne unbegrenzt aufrechterhalten werden. Das wahrscheinlichere Szenario ist wohl eine lange – vielleicht ein Jahrzehnt dauernde – Phase langsameren Wachstums …“


Quellen

[1] Bericht von Xi Jinping auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (16. Oktober 2022), zitiert nach der inoffiziellen Veröffentlichung in deutscher Sprache  

[2] Richard Herd: Estimating Capital Formation and Capital Stock by Economic Sector in China : The Implications for Productivity Growth, World Bank Working Paper No. 9317, Washington 2020, unter: https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/34126

[3] Eine kurze Übersicht über Chinas Sozialsysteme findet sich in meinem Aufsatz: China, der Coronavirus und die Weltwirtschaft, in: Sozialismus 4/2020

[4] Sun Liping: Three Views of the Domestic Demand Question, veröffentlicht auf dem WeChat-Blog von Sun Liping am 12.12.2022; Übersetzung ins Englische von David Ownby und veröffentlicht in seinem Newsletter „Reading the China Dream“

[5] Die deutsche Übersetzung des Aufsatzes „China´s Abandoned Illusion of High Growth“ von Zhang Jun ist dem Newsletter China.Table #606 vom 20.6.23 entnommen.