Am Freitag hat der Bundestag die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro brutto pro Stunde beschlossen. Dies wäre ein Meilenstein im Kampf gegen die Armut, gäbe es nicht gewichtige Einwände. Olaf Scholz hatte die Erhöhung des Mindestlohns auf diesen Betrag bereits unmittelbar nach der für die SPD desaströsen Bundestagswahl im September 2017 gefordert. Seinerzeit lag der Mindestlohn noch bei 8,84 Euro. Berücksichtigt man die Preissteigerungen während der vergangenen fünf Jahre, sind zwölf Euro im Oktober 2022 erheblich weniger wert als damals. Auch ist der Sprung auf zwölf Euro nicht so gewaltig, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn ab 1. Juli gelten nicht mehr 9,82 Euro wie heute, sondern 10,45 Euro. Zudem existieren die Ausnahmen – Jugendliche ohne Berufsausbildung und Kurzzeitpraktikanten erhalten den Mindestlohn nicht, Erwerbslose erst nach einem halben Jahr – fort. Noch problematischer ist aus Sicht der Beschäftigten, dass der Mindestlohn bald wieder hinter der Preisentwicklung herhinken dürfte, weil seine größte Schwachstelle bestehen bleibt: Er wird auch weiterhin nicht politisch, sondern aufgrund des Votums einer mit je drei Vertretern von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, einem "neutralen" Vorsitzenden und zwei nicht stimmberechtigten Wissenschaftlern besetzten Kommission festgelegt, die sich im wesentlichen nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientiert. Dabei ist eine gesetzliche Lohnuntergrenze gerade deshalb nötig, weil die Gewerkschaften in zahlreichen Branchen inzwischen zu schwach sind, um nennenswerte Tariflohnsteigerungen zu erkämpfen. Zwar werden mehrere Millionen abhängig Beschäftigte von der Anhebung des Mindestlohns profitieren, man überschätzt seine Wirkung jedoch, wenn sie mit dem Ende des Niedriglohnsektors gleichgesetzt wird. Vor allem die Armut im Alter lässt sich damit nicht beseitigen, weil ein zu zwölf Euro Stundenlohn arbeitender Mensch selbst nach 45 Jahren Vollzeittätigkeit am Ende seines Berufslebens wegen einer zu geringen Rente ergänzend auf die staatliche Grundsicherung angewiesen ist. Dass die Entgeltgrenze bei den Minijobs von 450 auf 520 Euro angehoben wird und auch in Zukunft weiter steigen soll, dürfte trotz eines sich im selben Maß erhöhenden Mindestlohns, der gerade bei einer geringfügigen Beschäftigung häufig gar nicht gezahlt wird, mehr Frauen in die Armutsfalle locken und den Niedriglohnsektor verbreitern. Folglich ist mehr Altersarmut programmiert, obwohl die Ampelkoalition das Rentenniveau nicht weiter senken und das gesetzliche Renteneintrittsalter nicht erhöhen will. Angesichts der gegenwärtigen Teuerungswelle, die Geringverdiener besonders hart trifft, ist der höhere Mindestlohn nur ein soziales Trostpflaster. Nötig wäre längst ein Betrag von deutlich mehr als 13 Euro.