„In Kriegszeiten hinterfragt man seine Regierung nicht.“ Diesen Spruch bekam meine U.S.-amerikanische Schwiegermutter im Jahr 2003 zu hören. Damals marschierten die USA gerade in den Irak ein und suchten nach Massenvernichtungswaffen, die es nicht gab. Auf einem Treffen von Kongressabgeordneten in Chicago fragte meine Schwiegermutter, wie diese die Invasion unterstützen könnten. Der Frage folgte Stille, dann kam der Spruch. Bis heute ist meine Schwiegermutter schockiert. Sollte man seine Regierung nicht gerade in Kriegszeiten hinterfragen? Irgendwie schon, damals wie heute, egal in welchem Land. Dem Einmarsch der USA folgten weltweite Proteste. Die Medien waren voll von Bildern. Laut wissenschaftlichen Studien demonstrierten von Januar bis April 2003 insgesamt 36 Millionen Menschen gegen den Krieg. Das waren fast 3000 Proteste. Eine Kundgebung in Rom schaffte es mit drei Millionen Teilnehmenden sogar in das Guinness-Buch der Rekorde. Bis heute gilt sie als größte Antikriegsdemo aller Zeiten. Die Welt wäre eine bessere ohne solche Rekorde. Krieg gab es trotzdem und er wurde schnell zum „Krieg der Informationen“. „Es ist keine militärische Aktion bekannt, die in ähnlich hohem Maße detailliert und zeitnah der Weltöffentlichkeit vermittelt wurde wie der dritte Golfkrieg“, hieß es 2003 beim Bundesamt für politische Bildung. Vor allem U.S.-amerikanische Medien beeinflussten die öffentliche Meinung. Heute lädt US-Präsident Biden führende TikTok-Influencer:innen ins Weiße Haus und holt sich Hilfe zu sozialen Medien. Denn ohne die geht im aktuellen „Informationskrieg“ nichts. Auch dank sozialer Medien verfolgen wir Putins propagierten „Entnazifizierungskrieg“ im Liveticker-Format. Die Informationen kommen im Sekundentakt. Auch Putin weiß um die mögliche Macht sozialer Medien – er hat sie komplett verbannt. Unterhaltungssendungen mussten ebenfalls dran glauben. Im russischen Fernsehen laufen derzeit nur Informations- und Nachrichtenformate, und ein wenig Sport. Gleichschaltung lässt grüßen. Aber auch in Deutschland muss man nach differenzierter Berichterstattung suchen. Trotz Informationsflut fehlt es häufig an der nötigen Komplexität. Sie nimmt teilweise eigenartige Züge an. Folgt man beispielsweise dem Spiegel, ist „Konsumieren gegen Krieg“ derzeit der neueste Trend. „Die Macht von uns Konsumenten zeigt sich jetzt“, titelte die Zeitschrift erst zum Weltverbrauchertag. Was Satire scheint, ist voller Ernst. Kriegspolitisches Handeln wird auf den Konsumenten ausgelagert. Damit steht der Spiegel nicht allein. Laut dem Katapult-Magazin findet der Krieg im eigenen Wohnzimmer statt. „Denkt immer dran, wenn ihr auf [Heizungsstufe] 5 dreht, Putin kauft sich davon einen ganzen Panzer. Einen ganzen!“, jeder Einzelne könne jetzt durch seine Heizung politisch Einfluss nehmen. Heizungsstufe 5 heißt also pro Putin. Das macht meine Heizung zum Kriegstreiber. Immerhin fahre ich kein Auto, meine Benzin-Bilanz ist also bestens, das dürfte den Spiegel freuen. Andere Kriege des 21. Jahrhunderts gingen im Vergleich fast völlig unter. Die Bürgerkriege in Jemen, Tschad oder Libyen beispielsweise. Auch hier flohen Menschen, aber deren Leid blieb unsichtbar. Ein Grund für dieses mediale Loch scheint die Annahme, dass Ukrainner:innen „richtige Flüchtlinge“ seien – das ist der Grundtenor vieler aktueller Kommentare. Es stellt sich die Frage: Welche flüchtenden Menschen sind denn „nicht richtig“? Niemand flüchtet aus Freude! Aber Medienbilder dunkelhäutiger Menschen in entlegenen Kriegsgebieten scheinen gewohnter als die weißer Menschen, die wir sein könnten. Das sind die Rassismen des Krieges. Ihnen folgt auch die Kriegsberichterstattung, und diese zu hinterfragen, scheint heute wichtiger denn je.
Erstveröffentlichung Berliner Zeitung, 15.03.2022