Die nahezu grenzenlose Variationsvielfalt in der Propagandaschlacht der Mainstream-Presse über einen ewig drohenden russischen Angriff auf die Ukraine und Spekulationen über Moskaus angeblichem Ziel, Europa durch die Unterbrechung der Gaslieferungen einzufrieren, wirft die Frage auf, wer außer den Rüstungskonzernen die Profiteure der Ukraine-Krise sein könnten: Die multinationalen Gas- und Ölkonzerne stehen bereit, “Hilfe“ zu leisten, wenn die Energiesicherheit Europas und insbesondere Deutschlands durch eine angebliche russische Aggression gefährdet ist. Unternehmen wie EQT, Cabot Oil & Gas, BP, ExxonMobil und Hunderte von Bohr- und Schifffahrtsunternehmen, die mit ihnen zusammenarbeiten, wollen ihre Exporte in ein Europa massiv steigern. Doch die bestehenden Gas-Liefer-Verträge zwischen Russland und europäischen Staaten stehen ihnen im Weg. Derzeit entfallen über 30 % aller Einfuhren in die Europäische Union auf russisches Erdgas. Deutschland bezieht über die Hälfte seines Erdgasbedarfs aus Russland, während einige andere Länder, wie die Tschechische Republik und Rumänien, ausschließlich russisches Gas verwenden. Erdgasbezugsquellen Deutschlands, 2020
Quelle: Statista, 2022
Die Weltmarktpreise für Erdgas sind in den letzten Monaten in die Höhe geschnellt, was auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist. Eine ausführliche Erläuterung der Entwicklung der Gaswirtschaft ist dem isw-Artikel "Die Gaswirtschaft im Nachfrageboom und in der politischen Auseinandersetzung. Weltweiter Nachfrageboom" zu entnehmen. Ergänzend hierzu zeigt eine Grafik von Statista, dass der Erdgaspreis innerhalb eines Jahres in Europa um 549 Prozent angestiegen ist. Erdgaspreisentwicklung innerhalb eines Jahres
Quelle: statista
Die USA sind der größte Gasproduzent der Welt und steigern kontinuierlich ihre Fördermenge. Die US-Produzenten wollen von der Goldgrube profitieren, vor allem in Europa. US- Erdgas Jahresproduktion (1940 – 2020)
Quelle: eia, US Energy Information Administration, 2022
Spätestens nach 2005 haben die USA die Vorschriften für das umweltgefährdende Fracking-Gas gelockert bzw. aufgehoben, so dass damit einer boomartigen Förderung der Unmengen an verfügbarem US-Gas politisch entsprochen wurde. Die US-Produzenten wenden sich zunehmend an Europa als Kunden., wobei sowohl die jetzige als auch die vormals republikanische US-Regierung eifrig als Verkäuferin fungier(t) en. Dank eines 2018 zwischen der Trump-Administration und der EU geschlossenen Abkommens sind die US-Gasverkäufe an Europa von 16 % im Jahr 2019 auf 28 % Ende 2021 gestiegen. Allerdings ist anzumerken, dass Hydraulisches Fracking die Produktionskosten erheblich in die Höhe treibt. Hinzu kommt, dass US-Gas für den Export an internationale Kunden verflüssigt und an teuren Spezialterminals auf Tankschiffe verladen werden muss. Die Umwandlung von Schiefergas in Flüssigerdgas (LNG) kann die Kosten für amerikanische Unternehmen mehr als verdoppeln, wodurch sie gegenüber dem billigen russischen Gas, das über Pipelines transportiert wird, benachteiligt sind. Im Zuge der bedrohlichen Ukraine-Krise wittern die US-Öl und Gas-Multis ihre Marktchance. Sie wollen von der Goldgrube, vor allem in Europa, profitieren. Um die Konkurrenz zu verdrängen und Marktanteile zu erobern, müssen sie die Gasströme aus dem Osten bremsen. Und wenn es um Machtmittel geht, halten die Energieriesen ihre wirtschaftspolitisches Maßnahmenpaket, einschließlich der finanziellen Mittel und politischen Einflüsse, auf Abruf bereit. Das internationale Pipeline-Projekt Nord Stream 2 stellt eine besonders bedrohliche Einschränkung für den Absatz von Fracking-Gas der USA dar. Die von Deutschland und Russland gemeinsam unter der Ostsee errichtete Pipeline würde der EU einen einfachen und erschwinglichen Zugang zu Gas ermöglichen. Für Russland ist die Gas-Pipeline, umrüstbar auf Wasserstoff, ein garantierter Zugang zu seinen größten Abnehmern. Sowohl für die EU als auch für Russland stellt Nord Stream 2 eine Möglichkeit dar, die zusätzlichen Kosten des Zwischenhändlers Ukraine zu umgehen, durch dessen Gebiet die derzeitigen Pipelines verlaufen. Zeitlich fallen Fertigstellung der Nordstream 2 Pipeline und die eskalierenden Spannungen zwischen den USA und ihrem ukrainischen Verbündeten auf der einen und Russland auf der anderen Seite in ein nahezu identisches Zeitfenster. Zu erwähnen ist zudem, dass nach kritischen Medienberichten in den USA die rechtsgerichtete ukrainische Regierung seit Mitte letzten Jahres in Washington mehrfach vorstellig wurde, um Sanktionen gegen Nord Stream 2 und die dahinterstehenden deutschen und russischen Unternehmen zu erwirken. Die Biden-Administration dürfte trotz ihres erklärten hegemonialen Zieles, die bestimmende Nummer 1 des weltpolitischen Geschehens wieder zu werden bzw. bleiben, realistisch genug sein, um zu wissen, dass es wahrscheinlich zu spät ist, Nord Stream 2 vollständig zu stoppen. Sie spielt auch deshalb die Rolle des aggressiven Kriegstreibers gegen Russland, die lange vor dem Beginn des Fracking-Booms die Eindämmung eines selbstbewußter auftretenden Gegners im Osten einsetzte. Je länger das Pipeline-Projekt hinausgezögert werden kann und je mehr die Angst vor einem russischen Würgegriff wächst, desto mehr Zeit haben die US-Gasproduzenten, um aus der Situation Profit zu generieren. Ein Indiz dafür mag die Aussage von Frank J. Macchiarola, Leiter des American Petroleum Institute, Anfang Februar im Wallstreet Journal sein, dass die US-amerikanischen Öl- und Erdgasproduzenten helfen können, die Kriegsgefahr zu entschärfen. Macchiarola, der oberste Lobbyist der Industrie in Washington, betont, dass "Amerika in der Lage ist, bei jeder Energieunterbrechung für Stabilität zu sorgen". Die Zahlen zeigen, dass seine Kunden diesem Ruf folgen. Angespornt durch die Ukraine-Krise und den verstärkten Verkauf an Europa wurden die USA im Januar zum ersten Mal zum weltweit größten Exporteur von Flüssiggas. Die US- Wirtschaftspresse war schnell dabei, die Botschaft zu verbreiten, dass noch mehr US-Gas nach Europa geliefert werden müsse, um sich vor "russischer Energieerpressung" zu schützen - und das, obwohl Gazprom die mit seinen europäischen Kunden vereinbarten Exportmengen eingehalten hat. Der starke Preisanstieg für Erdgas hat dazu beigetragen, dass das teure US-Gas aus Fracking-Anlagen auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger geworden ist. Und die Kriegsdrohungen haben Europa dazu veranlasst, höhere Importe von US-LNG zu akzeptieren, selbst zu überteuerten Preisen. Einen sofortigen Rückzug aus dem Krisenherd Ukraine wird es trotz der verstärkten Bemühungen um eine Deeskalation vermutlich nicht geben. Die Ukraine wird Washington nach wie vor um mehr diplomatische und wirtschaftliche Unterstützung bitten, wenn sie die Einnahmen aus ihrer eigenen Pipeline-Cashcow verliert. Innenpolitisch wird Biden weiterhin von den Republikanern unter Druck gesetzt werden, drastische Sanktionsmaßnahmen zu ergreifen, um Nord Stream 2 lahmzulegen. Und der militärisch-industrielle Komplex, der die Außenpolitik der USA beherrscht, wird sein Profitstreben und seine dreiste Expansion der Fracking-Gasverkäufe nach Europa nicht aufgeben.