Bei der Regierungsbildung schnappt sich die FDP das Verkehrsministerium: Nachfolger vom CSU-Minister Scheuer wird der Jurist und vormalige Wirtschaftsminister aus Rheinland-Pfalz, Dr. Volker Wissing. Da wundert es nicht, dass der Begriff „Verkehrswende“ im Koalitionsvertrag kein einziges Mal vorkommt. Das vernichtendste Urteil zu den Plänen der neuen Bundesregierung im Bereich Verkehr kommt vom bisherigen CSU-Amigo Andy Scheuer: „Schön, dass die Ampel meine Arbeit der letzten Jahre fortsetzt“.  Auszüge aus dem Koalitionsvertrag will ich hier zitieren, um deutlich und sichtbar zu machen, was die Koalition vorhat – bis zur Umsetzung ist ohnehin alles unter Finanzierungsvorbehalt gestellt:

Wir wollen die 2020er Jahre zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik nutzen und eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente, innovative und für alle bezahlbare Mobilität ermöglichen. … Mobilität ist für uns ein zentraler Baustein der Daseinsvorsorge, Voraussetzung für gleichwertige Lebensverhältnisse und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Logistikstandorts Deutschland mit zukunftsfesten Arbeitsplätzen. Dafür werden wir Infrastruktur ausbauen und modernisieren sowie Rahmenbedingungen für vielfältige Mobilitätsangebote in Stadt und Land weiterentwickeln. Die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur müssen weiter erhöht und langfristig abgesichert werden. Dabei wollen wir erheblich mehr in die Schiene als in die Straße investieren ... Wir werden den Masterplan Schienenverkehr weiterentwickeln und zügiger umsetzen, den Schienengüter-Verkehr bis 2030 auf 25 Prozent steigern und die Verkehrsleistung im Personenverkehr verdoppeln. Den Zielfahrplan eines Deutschlandtaktes und die Infrastrukturkapazität werden wir auf diese Ziele ausrichten. Sofern haushalterisch machbar, soll die Nutzung der Schiene günstiger werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der Bahnen zu stärken. … 75 Prozent des Schienennetzes elektrifizieren … das Streckennetz erweitern, Strecken reaktivieren … Die Einführung der Digitalen Automatischen Kupplung wollen wir beschleunigen, den Einzelwagenverkehr stärken und Investitionsanreize für Gleisanschlüsse setzen. Die Eisenbahnverkehrsunternehmen werden markt- und gewinnorientiert im Wettbewerb weitergeführt. Wir werden den Transformationsprozess der deutschen Automobilindustrie vor dem Hintergrund von Digitalisierung und Dekarbonisierung unterstützen. Rahmenbedingungen und Fördermaßnahmen werden wir darauf ausrichten, dass Deutschland Leitmarkt für Elektromobilität mit mindestens 15 Millionen Elektro-Pkw im Jahr 2030 ist. … Führerschein ab 16 Jahren … Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben.

Ein doppeltes Fiasko

Es wundert nicht wirklich, dass die Grünen einen solchen Affront gegen ihre Wahlversprechen akzeptieren, wenngleich ein Tempolimit sofort eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um ca. 10 % bedeuten würde. Mit diesem Koalitionsvertrag, mit der daraus abgeleiteten Politik sind weder das 1,5°-Klimaziel im Verkehrssektor zu erreichen, noch ist die Beschäftigung dort gesichert. Für die Vorhaben im Bahnbereich sind Investitionen in zweistelligem Milliardenbereich pro Jahr nötig. Im Bahnbetrieb wird weiter auf Konkurrenz zwischen öffentlichen und privaten Betreibern gesetzt. Dennoch ist die Bahn, der Ausbau der Bahnindustrie ein Schlüsselfaktor für die Verkehrswende, für den sozialen und ökologischen Umbau der Mobilität in unserem Land. Für die Ökologie liegt das auf der Hand – Bahnfahren ist nach Fuß- und Radverkehr die ökologischste Form der Fortbewegung. Aber auch für notwendige soziale Garantien, für alternative Arbeitsplätze bietet der öffentliche Verkehr sehr viele Möglichkeiten. Hindernisse auf diesem Weg sind weniger die Bürokratie, weniger die Regeln für Umwelt- und Arbeitsschutz. Hindernisse sind vor allem die Profitorientierung, dass völlig falsche Dogma, dass „sich alles rechnen muss“. Aus Thüringen wird gerade berichtet, dass ein lang versprochener und geplanter, zweispuriger Ausbau und die Elektrifizierung der Mitte-Deutschland-Verbindung (MDV) zwischen Weimar, Gera und Gößnitz aus Rentabilitätsgründen in Frage gestellt wird. Der Geraer Baudezernent sagt dazu: "Seit der Wende ist die Stadt Gera damit beschäftigt, die Deutschlandverbindung zu stärken. Die Elektrifizierung ist im Bundesverkehrswegeplan beschlossen. Was weiterhin natürlich ein großes Manko ist, dass nicht parallel der zweigleisige Ausbau dieser Strecke mit angedacht ist." Das sehe man auch am Verkehr, der auf der A4 unterwegs ist, denn die Autobahn sei die zentrale Trasse in Thüringen. Thüringens Ministerpräsident Ramelow teilt dazu auf Facebook: „Es gibt Tage, da machen mich Informationen echt fassungslos. Das Land Thüringen wollte nun den zweigleisigen Ausbau gemeinsam mit der DB voranbringen und die Antwort heißt "es geht nicht, weil der Fahrdraht in Frage steht". So zerstört man Vertrauen! Die MDV ist eine offene Wunde und Symbol der Deutschen Einheit. Als Reparation abgebaut und nach der Einheit 30 Jahre versprochen. Mittlerweile vertraglich zugesichert und nun so was! Unglaublich!“ In einer konservativen Rechnung kommt eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zu interessanten Ergebnissen. Der gesamtwirtschaftliche Beschäftigungseffekt ist annähernd ausgeglichen, wenn die Autoproduktion und der Straßenverkehr deutlich reduziert und der schienengebundene Verkehr deutlich erhöht werden. „Der größte direkte Effekt ergibt sich im Bereich Bau von Straßen und Bahnverkehrsstrecken (+165.300 VZÄ, Vollzeitäquivalent). Das MM35 Szenario setzte auf eine starke Rolle des schienengebundenen Verkehrs, die unterstellten umfassenden Investitionen in den Infrastrukturausbau führen zu einem großen zusätzlichen Arbeitskräftebedarf.“  Für den Betrieb von Bahn und ÖPNV werden gut 65.000 zusätzliche Arbeitsplätze, für neue Formen von CarSharing und Fahrservices gut 170.000 Arbeitsplätze errechnet. Bei all dem gibt es regionale Disparitäten. Monostrukturierte Regionen (Autocluster) wie der Raum Stuttgart oder Süd-Ost-Niedersachsen sind in anderer Weise betroffen als infrastrukturarme oder vielseitig strukturierte Regionen. Es besteht insgesamt keine Gefahr der Deindustrialisierung oder von Innovationsschwäche, denn der Erneuerungsbedarf, die Antriebstechnologie (Elektrifizierung und Wasserstoffzüge) und die Digitalisierung auf höchstem Niveau bleiben eine Aufgabe sowohl für den Schienenverkehr, den ÖPNV wie für den Rest des Straßenverkehrs. Als Beispiel sei hier die automatische Kupplung von Eisenbahnwaggons genannt – bisher personalintensive, zeitraubende und gefährliche Tätigkeiten von hunderten Rangierbegleitern, deren Ersatz seit langem auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG fordert. Auf dem Weg zur Verkehrswende ist die Automatische Kupplung ein entscheidender Faktor. In vielen Ländern sind automatische Kupplungen im Schienengüterverkehr längst Gang und Gäbe. Während in den USA, Russland und China selbstverständlich automatisch gekuppelt wird, ist in Deutschland immer noch schwere Handarbeit angesagt. Die Einführung der digitalen automatischen Kupplung bedeutet für den Güterverkehr auf der Schiene allerdings eine Revolution. Die Industrie in Deutschland könnte sich also mit der Einführung von weit hinten nach ganz vorne katapultieren. In den Betrieben der Auto- und Zulieferindustrie, in denen Kupplungen für Autos mit Verbrennungsmotor nicht mehr gebaut werden, könnten ohne große Veränderungen eben auch automatische Kupplungen für die Bahn produziert werden; und niemand würde verdrängt, weil es solche Produktion hierzulande bisher nicht gibt. Das alles wäre ein Teil der Offensive für den Abbau der Unterschiede zwischen urbanen Zentren und ländlichen Regionen, für die Verlagerung von Güterverkehr auf die Schiene, für die Attraktivität eines guten ÖPNV als Teil der Daseinsvorsorge: Einfach einsteigen, frei fahren – ohne den Zwang, ein Auto zu besitzen oder fahren zu müssen. 

Mobilitätsindustrie: Umbau, nicht Abbau!

Im jüngst im VSA-Verlag erschienen Buch „Spurwechsel“[1] schreibt der Mobilitäts- und Bahnexperte Bernhard Knierim unter anderem: „Die Bahnindustrie in Deutschland ist eine starke Branche – auch wenn sie deutlich weniger Aufmerksamkeit erfährt als viele andere technische Branchen, insbesondere weniger als die Automobilindustrie.“ Damit ist das Hauptproblem schon benannt: Die Autokonzerne mit ihrer starken Lobby beeinflussen Bundes- und Landesregierungen viel intensiver als die wenigen verbliebenen Unternehmen der Bahnindustrie auf dem deutschen Markt: der französische Alstom-Konzern, das schweizerische Unternehmen Stadler und Siemens-Mobility. Der kanadische Konzern Bombardier-Transportation wurde mit Auflagen durch das Kartellamt von Alstom übernommen. Zur Produktion schreibt Knierim: „Somit lässt sich festhalten, dass die Bahnindustrie in Deutschland in etwa im selben Umfang produziert wie die inländische Nachfrage. Bei einer Ausweitung der Nachfrage kann also in erster Näherung davon ausgegangen werden, dass die inländische Produktion der Bahnindustrie in gleichem Maße wachsen wird wie die Nachfrage nach ihren Produkten.“ In der deutschen Bahnindustrie sind gegenwärtig gut 200.000 Menschen beschäftigt. Die Beschäftigten, die Betriebsräte und die zuständige IG Metall sorgen sich schon lange um die Arbeitsplätze. Vor der Übernahme von Bombardier durch Alstom im Herbst 2017 wurden gewerkschaftliche Aktionen in allen Betrieben durchgeführt: „System Schiene stärken – Arbeitsplätze sichern“ stand auf den Plakaten vor den Werkstoren in Salzgitter, Henningsdorf und Krefeld, mit denen die Beschäftigten verstärkte Investitionen in ihre Branche einfordern. Die IG Metall schreibt dazu: „Der Handlungsbedarf ist gewaltig, die Herausforderungen sind es auch: Die Bahnindustrie befindet sich in einem Wandel, spätestens nach der Fusion der beiden größten chinesischen Zughersteller zum Giganten CRRC hat sich der Druck nochmals massiv verschärft. Hersteller und Zulieferer entlang der gesamten Wertschöpfungsketten sind vom schärfer werdenden Wettbewerb betroffen. Das aber hat Auswirkungen auf die deutsche Bahnindustrie.“ Autogipfel im Kanzleramt gab es viele, in der „Konzertierten Aktion Mobilität“ geht es auch nur um die Autoindustrie. Die Gewerkschaft fordert jedoch auch einen Branchendialog für Eisenbahn und Bahnindustrie mit Politik, Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Forschung, der Transparenz schafft und gemeinsame Strategien klärt. Ergänzend und um Dynamik in die Debatte und die Umsetzung zu bekommen, müssten Umweltverbände und Verkehrsinitiativen in einen solchen Dialog einbezogen werden. Um Arbeitsplätze in der Branche langfristig zu sichern, so die IG Metall, braucht es zukunftsweisende Konzepte, neue Produkte und Investitionen. Vor allem mangelt es an Investitionen, wie Betriebsräte der Unternehmen kritisieren. Es wird nicht investiert, die Kapazitäten werden nicht erweitert, weil es keine längerfristige Planungssicherheit und keine kontinuierlichen Auftragseingänge gibt. Das hängt unmittelbar mit der Finanzknappheit und den nicht vorhandenen personellen Kapazitäten der Auftraggeber, in der Regel Bundesländer und Kommunen, zusammen. Ob sich das unter den Bedingungen der Schuldengrenze, einem Finanzminister Lindner und einem Verkehrsminister Wissing, beide von der FDP, ändern wird, ist fragwürdig. In einer gemeinsamen Erklärung der Gewerkschaft mit den Betriebsräten der Bahnindustrie wird u.a. gefordert: Faire Auftragsvergaben der öffentlichen Hand und der Deutschen Bahn, um die industriellen Wertschöpfungsketten in Deutschland und Europa zu sichern sowie Investitionen in die bestehende und künftige Schieneninfrastruktur, die lange sträflich vernachlässigt worden sind. Die gesellschaftlichen Kräfte, die die Verkehrswende vorantreiben wollen, müssten noch mehr als bisher sichtbar machen, dass es ohne Ausbau der Bahnindustrie und der Bahninfrastruktur zu einer ökologischen und sozialen Transformation nicht kommen kann. Regionale Transformationsräte, in denen alle beteiligten Gruppen einschließlich der Umwelt-, Klima- und Verkehrsbewegung gleichberechtigt zusammenarbeiten, könnten die Orte sein, an denen die sozial-ökologische Transformation ganz konkret wird. Hier könnten die Milliarden Euro sinnvoll verplant werden, die durch eine Umleitung der Subventionen aus der Autoindustrie und dem Straßenbau in die Bahninfrastruktur, Bahnindustrie und den ÖPNV zur Verfügung stehen. Für die Gewerkschaft ergibt sich die Möglichkeit, die aktuellen Verluste an Mitgliedern und Organisationsmacht aus der Autoindustrie in der wachsenden Bahnindustrie zu kompensieren – abgesehen von dem großen Gewinn an Ansehen, zu dem es durch ein offensives Herangehen an eine solche Verkehrswende kommen würde.


[1]Mario Candeias / Stephan Krull (Hrsg.) - Studien zu Mobilitätsindustrien, Beschäftigungspotenzialen und alternativer Produktion, VSA 2021