Der 20.1. war von den Medien als dringende Reinigung des Allerheiligsten der US-Demokratie, des Kapitols in Washington, von der Schändung durch Horden aggressiver Trumpisten angekündigt. Die waren vierzehn Tage zuvor unter dem Ruf „Hang Mike Pence“ auf der Jagd nach dem Vizepräsidenten der USA und anderen Politikern aus Senat und Repräsentantenhaus durch die Gänge gezogen und schlugen in Abgeordnetenzimmern alles kurz und klein. Das sich selbst als Mutterland der Demokratie feiernde Land war vor aller Welt bis auf die Knochen blamiert. Das sollte das „Heim der Freien“ sein, wo der Mob sich fast ungehindert im Parlament randalierend breit machen konnte? Diesmal blieb der Triumph des Mob aus. Die Stadt wirkte wie leergefegt, Zivilisten waren kaum zu sehen, dafür umso mehr Militär. 25.000 Nationalgardisten patrouillierten durch Straßen und U-Bahnhöfe, durch Gassen und Hinterhöfe. Weit mehr Militär als die USA in Afghanistan und im Nahen Osten aufbieten. Die Nationalgarde zeigte, sie kann, wenn sie will. Warum hat sie am 6. Januar nicht gewollt? Damals war nur ein kleiner Teil der 2.300 Mann starken Capitol Police im Dienst, Bitten um Einsatz der Nationalgarde wurden abgeschlagen. Das Ministerium für Homeland Security und die 17 Geheimdienste kriegten nicht mit, was in allen sozialen Medien seit Wochen kursierte – der Aufruf zum Sturm auf das Kapitol, wo am 6.1. die Niederlage Trumps besiegelt werden sollte? Trump, der an diesem 6. Januar in die selbstgestellte Falle tappte und sich als Möchtegern-Diktator für den Politikbetrieb disqualifizierte, steht Stunden vor der Zeremonie am Kapitol draußen am Militärflughafen Andrews vor ein paar Hundert unentwegter Trumpisten. Der scheidende Präsident weist auf seine großartigen Leistungen hin, der erste Präsident, der das Land nicht in einen Krieg geführt hat und der so prächtige Fundamente gelegt habe, dass der Nachfolger es nicht schwer habe, erfolgreich zu sein. Zum Abschluss dann noch: „Wir werden in irgendeiner Form zurück sein. Habt ein gutes Leben, wir werden uns sehen.“
Biden – der „Trauerbegleiter der Nation“
Derweil sammeln sich auf den Stufen des Kapitals 2000 geladene Gäste, im Grunde die ganze von Trump und der Hälfte der US-Bürger so gehasste alte Elite. Im ehrfürchtigen Gemurmel der Feiergemeinde bewegt sich auch der vor zwei Wochen an derselben Stelle mit dem Erhängen bedrohte Mike Pence, der sich hier lieber vom neuen Präsidenten ernst und fürsorglich begrüßen lässt als sich vom alten auf Andrews als „Verräter“ beschimpfen zu lassen. Auch Ted Cruz, Trumps Büchsenspanner bis Schlag 12, ist da, Bernie Sanders kommt zu Ehren des Mannes, der ihm die Kandidatur für die Demokratische Partei streitig gemacht hatte. Den Millionen an den Fernsehgeräten hämmern die Kommentatoren intensiv wie Sportreporter ein, sie sähen hier „die Widerstandskraft der Demokratie“. Der NCC-Mann versteigt sich zu der Einschätzung, hier sehe man das Geheimnis Amerikas, dass Personen, die sich politisch heftig bekriegen, ansonsten Freunde seien – leicht erschrocken hält er inne: „oder zumindest Partner“. Biden wird dann zum „Trauerbegleiter der Nation“ ausgerufen, grief councelor of the nation, der die Spaltung der USA in zwei sich als Feinde gegenüberstehende Blöcke überwinden würde. Biden versucht, dem Anlass mit der verbliebenen Wucht eines 78-Jährigen und mit möglichst wenigen Versprechern gerecht zu werden. Die Performance ist dann in der Tat weit besser als der dürftige Inhalt. Sein erster Kernsatz lautet: „Wir haben gelernt, die Demokratie ist kostbar und sie ist zerbrechlich. Heute feiern wir, die Demokratie hat die Oberhand behalten.“ Wer hat die Oberhand behalten? Die Demokratie oder die Nationalgarde, die vor zwei Wochen so absichtsvoll gefehlt hatte? Bidens zweite Hauptbotschaft: „Meine ganze Seele ist darin, Amerika zusammenzubringen, unser Volk zu einen.“ „Einheit“ ist Bidens Medizin für alles: Wenn alle zusammenstehen, kann das Virus besiegt werden. Werden Arbeitsplätze für gute Jobs geschaffen, die Mittelklasse „wiederaufgebaut“, kommt ein Gesundheitswesen für alle, wird die rassistische Ungleichheit überwunden, „und wird Amerika wieder zur führenden Kraft für immer in der Welt“. Die gewaltige soziale Ungleichheit, die sich in den absurden Unterschieden in Einkommen und Vermögen ausdrückt, erwähnt er gar nicht. Das oberste 1% der US-Bevölkerung hat doppelt so viel Vermögen wie die unteren 80%. Und das ist nicht das Ergebnis eines Virus-Befalls, sondern der Klassenherrschaft der Super-Reichen und ihrer Agenturen in Wirtschaft und Finanzsystem. „Einheit“ ist das Codewort, das dieser Klassenherrschaft wieder ein stabiles politisches Gerüst in Washington verleihen soll. Die großen Konzerne haben Trump fallen lassen, wie der Führer der Republikanischen Partei, Mitch McDonnell, in einem Gespräch mit den größten Spendengebern der Partei Anfang 2021 mitgeteilt bekam. AP meldete am 13.1.2021, dass die Konzernvertreter dem Republikaner klarmachten, dass Trump eine rote Linie überschritten habe, worauf McConnell einschätzte, „das Impeachment-Verfahren der Demokratischen Partei sei willkommener Moment für die GOP (Grand Old Party, Republikaner), sich vom tumultuösen und spalterischen bisherigen Präsidenten zu distanzieren“. Die Konzerne, die McConnell da auf die Sprünge halfen, waren u.a. Amazon, American Express, Blue Cross Blue Shield, BP, BlackRock, Dow Chemical, Goldman Sachs, also die eigentliche Regierung der USA. Und das von den Konzernen verfügte und von Biden dramatisierte Einheitsgebot zeigte auch bei der Linken in der Demokratischen Partei seine Wirkung. Selbst der Squad, die vier linken Abgeordneten, die mit gewaltigen Vorsprüngen ihre Sitze verteidigen konnten, stimmten für Nancy Pelosi als Führerin im Abgeordnetenhaus, ohne dass Pelosi oder auch der neue Präsident in ihren Reden die Kernforderung der Linken in der Pandemie, eine öffentliche Gesundheitsversorgung für alle, auch nur erwähnten. Biden sprach davon, das Gesundheitssystem „sicher für alle“ zu machen. Das entspricht der Forderung im Wahlprogramm der Demokraten, neben die privaten Versicherungen auch eine öffentliche einzurichten, was zu einem Zweiklassen-Gesundheitssystem führen würde, dessen Unterschiede in dem teuersten Gesundheitssystem der Welt für einen Mitteleuropäer nur schwer vorstellbar wären. Nicht Einheit mit der Rechten sollte die Devise der Stunde sein, sondern entschlossener Kampf gegen die herrschende Minderheit der Konzerne und Super-Reichen, deren Instrument Trump war. Das Biden-Harris-Team hat nicht vor, diesen Kampf aufzunehmen.
Das Biden-Harris-Team: Obama-Veteranen mit einem kräftigen Schuss von WallStreet und Silicon Valley
Der Präsident selbst ist pures Obama-Gewächs. Er war acht Jahre dessen Vize und zuvor fast vierzig Jahre Senator für Delaware. Er ist gelernter Jurist, hat aber nie etwas anderes getan, als im Kongress politische Deals auszuhandeln. Er stand stets stramm im rechten Lager der Demokraten, oft in Kooperation mit den Republikanern. „Middleclass Joe“ genannt, die personifizierte Klasseneinheit, abhold jeder linken Neigung. In Sachen Rassismus stand er den Anhängern einer „weißen Vorherrschaft“ manchmal näher als den Progressiven seiner Partei. So stimmte er auch gegen das „Busing“, das Fahren schwarzer Kinder in entferntere Schulen, um der Ungleichheit der Lebenschancen in den verschiedenen Vierteln zu entgehen. Diesen Vorhalt machte Kamala Harris, die selbst vom Busing profitiert hatte, ihrem Konkurrenten bei der Auswahl des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers, dem es daraufhin die salbungsvolle Sprache verschlug. Kamala Harris ist die Lieblingsschwarze des weißen Establishments in ihrer Partei. Als Staatsanwältin in Kalifornien hat sie unter Beweis gestellt, dass sie mit aller Härte gegen die schwarze Bevölkerung vorgehen kann, von denen als unterqualifizierte, prekär angesiedelte Menschen „naturgemäß“ – was heißt: den sozialen Bedingungen entsprechend - mehr Straftäter zu finden sind als in behüteten und begüterten Vierteln. Harris ist der Empathie für solche Schichten unverdächtig. Ihre Vizepräsidentschaft ist ein Probelauf für die Präsidentschaft 2024. Bei Wohlgefallen wird sie die Unterstützung der Konzerne finden. Ansonsten ist das Team auf fast absurde Weise identisch mit der Mannschaft Obamas. Außenminister Tony Blinken war damals stellvertretender Außenminister mit dem Schwerpunkt China. Finanzministerin Yellen war Chefin der Notenbank. Avril Haines, heute die Chefin der Geheimdienste, war stellvertretende CIA-Chefin. Besonders kräftig ist die Nabelschnur Obama-Biden beim Thema China. Nicht nur der neue Außenminister bearbeitete schon damals den Schwerpunkt, dies gilt auch für drei seiner wichtigsten Kombattanten: Kurt Campbell, bei Obama stellvertretender Außenminister für Asien- und Pazifik-Angelegenheiten, bearbeitet nun dasselbe Aufgabengebiet; auch Laura Rosenberger hat heute wieder ihren selben Posten wie damals: beim Nationalen Sicherheitsrat (NSC) Direktor für China und Korea; Rush Doshi war bei Hillary Clinton Mitglied der Asia Policy Working Group, und betreut nun im NSC den Bereich China. So unverblümt wie bei Biden war der Einfluss von WallStreet/Silicon Valley nie zuvor: Michael Pyle, der bisherige Chefstratege von BlackRock, ist der ökonomische Chefberater von Harris; Brian Deese, bei BlackRock „global head of sustainable investing“, wird der „national economic director“ von Präsident Biden; Wally Adeyemo, bisher Stabschef von BlackRock-Chef Larry Fink, wird Stellvertreterin von Finanzministerin Yellen. Enger geht der Zusammenschluss von großem Geld und großer Politik kaum.
Bidens neue China-Doktrin: Der neue „Kampf der Systeme“
Am ersten Tag feuerte Biden eine ganze Batterie von Dekreten ab, die ihn ausweisen sollen als Politiker, der sein Land wieder in die internationale Ordnung einfügt (wieder Mitarbeit beim Pariser Klimaabkommen und in der WHO); der mit der Migration anders umgehen will (Stopp des Baus der Mauer zu Mexiko, der Einreisestopp für Muslime wird aufgehoben), der mit dem Abrüsten der fossilen Energien Ernst machen will (Stop der Pipeline Keystone XL, die Ölgebiete in Kanada mit denen in Nebraska verbinden soll); der der Ideologie der “weißen Überlegenheit“ entgegentritt (Auflösung der Kommission „1776“, die im Auftrag Trumps die rassistische Unterdrückung in den USA beschönigen sollte) und vor allem: Kampf gegen die Pandemie (u.a. Tragen von Masken in der Öffentlichkeit für 100 Tage verbindlich vorgeschrieben). Außenpolitisch hat sich der Präsident noch nicht näher erklärt, außer der Verheißung in seiner Inaugurationsrede, dass er dafür sorgen werde, Amerika werde die führende Kraft in der Welt für immer (for good) sein . Genaueres zu Europa und zu China war bisher nicht zu vernehmen. Aber der große Stab von China-Spezialisten in seiner Regierung hat bereits Pflöcke eingeschlagen. Außenminister Blinken erklärte in seiner Anhörung vor dem Senatskomitee, dass Trump „richtig lag, als er einen härten Zugang auf China einschlug“. Ausdrücklich stimmte er Pompeos Erklärung zu, dass Chinas Vorgehen in Xinjiang einen „Völkermord“ darstelle. Er fügte hinzu: „Es kann kein Zweifel bestehen, dass China unter allen Nationen die größte Bedrohung für die USA darstellt“. Das lässt zwar Raum für die Erkenntnis, dass Covid 19 und der Klimawandel auch fundamentale Bedrohungen für die USA sind – bei Trump war China zuletzt die einzige einzelne Bedrohung für die USA – aber China wird gesehen als die einzige Kraft unter den Nationen, die über die Potenz und den Willen verfügt, die USA vom Thron der dominanten globalen Macht zu stoßen. Nach Blinken erleben wir derzeit „eine wachsende Spaltung zwischen Techno-Demokratien und Techno-Autokratien. Ob die Techno-Demokratien oder die Techno-Autokratien diejenigen sind, die definieren, wie die Technik gebraucht wird…das wird einen langen Weg währen, der die nächsten Jahrzehnte formt.“ Blinken sieht ein Auseinanderbrechen der Weltordnung in zwei Blöcke, deren einer – die Techno-Demokratien – von den USA angeführt und zum Sieg geführt werden soll. Wir stehen kurz vor der Verkündung einer entsprechenden Biden-Doktrin, die den Kampf der Systeme zur Richtschnur der US-Politik ausruft.