Ein Beitrag, gehalten auf der isw-Konferenz „Der Aufstieg Chinas und die Krise des neoliberalen Kapitalismus“, 11./12.Okt. 2019

Einzeluntersuchungen zum drohenden Kollaps der natürlichen Umwelt zu den Flüchtlings- und Migrationsbewegungen, zur weltweit ungleichen Verteilung der Lebenschancen, zum Wettrüsten etc. gibt es viele. Rar sind Versuche, einen systemischen Zusammenhang zwischen diesen Erscheinungen zu zeigen und sie als Aspekte einer globalen Krise des Kapitalismus zu analysieren. Noch seltener ist, dass die Formen und die Subjekte eines alternativen Entwicklungsweges genannt werden.

Auf den weltweiten Charakter der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche im heutigen Kapitalismus werden zwei Antworten gegeben, eine kosmopolitische und eine nationalistische. Bejaht man oder lehnt man ab, dass sich die Menschheit zu einer Gemeinschaft entwickelt, die ihre sozialen Verhältnisse und ihre Beziehung zur natürlichen Umwelt gemeinschaftlich und verantwortlich regelt. Letzteres, so wissen wir, lässt sich nicht in einem Aufwaschen erreichen, sondern erfordert, einen langen historischen Entwicklungsweg zurückzulegen.

Selbst in den privilegierten Zonen des Kapitalismus verbreitet sich die Einsicht, vielfach noch als dumpfe Vorahnung, dass die Verhältnisse sich in absehbarer Zeit ändern werden. Nicht zuletzt ist es die Beobachtung des rasanten Aufstiegs der Volksrepublik China, der zur Verbreitung dieses Bewusstseins beigetragen hat. Auf die Verunsicherung, die entsteht, antworten nationalistische, neofaschistische und fundamentalistische Bewegungen, indem sie dem neoliberalen Individualismus einen durch Religion oder Nation definierten Kollektivismus entgegensetzen, von dem sie Schutz versprechen. Im Getöse des Zusammenpralls von Neoliberalen und Rechtsradikalen gerät ihre gemeinsame gesellschaftstheoretische Basis aus dem Blick: Beide betrachten die Globalisierung abstrakt, als Heilbringerin die einen, als Bedrohung die anderen; jedenfalls aber losgelöst von den Eigentums- und Machtverhältnissen, die jedoch ihren Inhalt bestimmen. Daher sind beide Sichtweisen irrational und gefährlich.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma zu zeigen, kann nicht durch populistische Vereinfachung gelingen, sondern erfordert analytische Arbeit. In früheren Zeiten hätten wir gesagt, wir müssen unser „marxistisches Instrument der Welterkenntnis“ schärfen und anwenden. Heute wissen wir, dass die Welt durchaus unterschiedlich ausschaut, aus welcher Perspektive man sie betrachtet, und dass Welterkenntnis daher die Fähigkeit zum Dialog verlangt.

Es ist beinahe vergessen, dass das Scheitern des Wirtschaftsliberalismus die Welt schon einmal in eine Katastrophe gestürzt hat. Den Weg dorthin beschreibt Karl Polanyis in seinem 1944 erschienenen Buch „The Great Transformation“. Polanyi bestreitet nicht den gesellschaftlichen Sinn von Märkten. Aber die Anerkennung der zivilisierenden Aspekte einer Marktwirtschaft ist nicht dasselbe wie die von Wirtschaftsliberalen vertretene Vorstellung, man solle die Märkte sich selbst überlassen, sie aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang herauslösen, „entbetten“. Diese beruhe, so Polanyi, auf der zerstörerischen Fiktion, dass auch „Arbeit, Boden [= die Umwelt!] und Geld Waren seien, die zum Zwecke des Kaufs und Verkaufs auf Märkten existierten.”[1] Diese „Fiktion ignorierte die Tatsache, dass die Auslieferung des Schicksals der Erde und der Menschen an den Markt mit deren Vernichtung gleichbedeutend wäre.“[2]

Die sozialistische Arbeiterbewegung setzte der Dominanz einer von sozialer Steuerung „entbetteten“ Marktwirtschaft die Idee der Sozialisierung entgegen, die eine Entmachtung der bürgerlichen Klasse voraussetzt. Konfrontiert mit der ökonomischen Krise der 20er-Jahre konterte ein Teil der herrschenden Klasse mit ihrer eigenen Konzeption für eine Reform der Marktwirtschaft., dem Faschismus als der konservativen Antithese einer rationalen Kritik des Kapitalismus. Parallel zur kapitalistischen Krise zerfiel auch die internationale Ordnung. Im anschließenden Zweiten Weltkrieg scheiterten nicht nur die Weltherrschaftspläne des japanischen und des deutschen Imperialismus, sondern die USA verdrängten Großbritannien von der Spitze der imperialistischen Machtpyramide.

Heute befindet sich die Welt in einer ähnlichen Situation. Das nach dem Sieg des westlichen Kapitalismus im Kalten Krieg durchgesetzte neoliberale Modell offenbart seine Unfähigkeit, die Probleme der Gesellschaften zu lösen. Dies spielt sich auf offener Bühne und bei geöffnetem Vorhang ab, weil uns die Bilder von Kriegen, Wanderbewegungen, Massenelend und ökologischen Desasters durch die Medien frei Haus geliefert werden. Die hierarchische Weltordnung unter finanzieller, politischer und militärischer Dominanz der USA bietet keinen geeigneten Ordnungsrahmen für die notwendige Transformation der Weltgesellschaft.

Die neuen Zentren des wirtschaftlichen Wachstums, China und Indien, das im Kalten Krieg geschlagene Russland, aufstrebende Regionalmächte wie Türkei, Iran und Saudi-Arabien, die große Zahl wirtschaftlich benachteiligter, durch ökologische Krisen besonders verwundbare Staaten sind mit ihren untergeordneten Plätzen in der Hierarchie der Mächte nicht einverstanden und drängen auf eine multipolare Weltordnung.

Es ist nicht wahrscheinlich, dass die von der Trump-Administration angezettelten Wirtschaftskriege und das forcierte Wettrüsten die Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses aufhalten werden. Allerdings, und darin besteht eine für Übergangsperioden charakteristische Gefahr, drohen sie in militärische Konfrontationen umzuschlagen, die von der regionalen auf die globale Ebene übertragen, eskalieren können. Die Grundfrage ist, ob die mit der Transformation unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe unter Vermeidung von großen Kriegen, gar eines Weltkrieges, ausgetragen werden. Dabei kommt der Volksrepublik China eine Schlüsselrolle zu. Realpolitische Vernunft sollte nahelegen, dass ohne oder gegen die Volksrepublik China kein einziges der großen Weltprobleme gelöst werden kann.

Die wichtigste Forderung ist die nach allgemeiner Abrüstung, und insbesondere nach Abschaffung der Massenvernichtungswaffen, wie sie im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen festgelegt ist. Würde dieser internationale Vertrag in einer neuen Runde des Wettrüstens zusammenzubrechen, wäre Europa in besonderer Weise betroffen, da es der Schauplatz eines nuklearen Wettrüstens mit Erstschlagwaffen wäre. Die EuropäerInnen müssen sich entscheiden, ob sie Teil der Lösung werden oder darin verharren wollen, ein Teil des Problems zu sein. Die politische Frage, auf die die großen europäischen Staaten und die EU eine Antwort finden müssen, lautet, ob sie sich gegenüber dem Druck der USA, die auf eine Zerstörung des freien Welthandels und eine Verschärfung der politischen und militärischen Konfrontation zielen, emanzipieren wollen oder nicht.

Gerade hier in Deutschland sollte man verstehen, dass der von der Trump-Administration entfesselte Wirtschaftskrieg sich gegen die europäischen Industrien und Arbeitsplätze richtet. Die heutige Welt und noch mehr die von morgen ist multipolar. Das erfordert eine übernationale Sicherheitspolitik, die sich nicht auf militärische Aspekte beschränkt, sondern internationale Anstrengungen zum Stopp des Klimawandels, zur Überwindung der Ungleichheit, zur Sanierung der Umwelt, zur Schaffung neuer Systeme der Mobilität und der Energieversorgung miteinschließt. In dieser Welt müssen Ideologien, politische Systeme, soziale und ökonomische Modelle miteinander koexistieren. Das erfordert die Stärkung demokratischer internationaler Institutionen, die die Autorität erhalten müssen, Streitfälle friedlich zu regeln und soziale und ökologische Standards für alle verbindlich festzulegen.

Die Krise wird nicht allein durch die staatlichen AkteurInnen bewältigt werden, sondern erfordert die Mobilisierung der Zivilgesellschaften. Es ist evident, dass in den Bewegungen und Debatten, in denen die Weltgesellschaft nach Auswegen sucht, die Stimme der sozialistischen Linken heute zu wenig vernehmbar ist. Das erzeugt den fatalen Eindruck, dass die Alternative zur neoliberalen Globalisierung im Rückfall in Nationalismus und Fundamentalismus bestünde.

Im Kampf gegen den weltweiten Kapitalismus beginnt die sozialistische Linke nicht beim Nullpunkt. Ihre ersten historischen Versuche, ein progressives Subjekt der Weltentwicklung im Rahmen zentralisierter Weltparteien zu schaffen – Erste, Zweite, Dritte und Vierte Internationale (n) – haben zum Aufstieg der Arbeiterklasse Wesentliches beigetragen. Letzten Endes sind sie an der Komplexität der Weltprozesse und der Diversität der progressiven Akteure gescheitert. Daraus hat die Kommunistische Partei Chinas frühzeitig strategische Konsequenzen gezogen. Nicht alle dabei beschrittenen Wege haben sich als richtig erwiesen. Diversität prägte die Bewegung der Blockfreien, die als Bündnis unabhängiger Staaten den Sieg über den Kolonialismus wesentlich beschleunigte. Von den Zivilgesellschaften wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends im Weltsozialforum und in der Alter-Globalisierungsbewegung der Versuch unternommen, die progressiven Kräfte in ihrer Diversität zu vereinen. Auch dieser Ansatz verdient, gewürdigt und auf die Nützlichkeit hin überprüft zu werden. Die Frage ist, ob und in welcher Form eine Allianz derjenigen Kräfte gebildet werden kann, die einen Weg aus der Krise der Weltgesellschaft weisen und die im Gang befindliche große Transformation in eine friedliche und humane Richtung steuern kann. Fairness und Respekt bilden dafür die Voraussetzungen. Der erste Schritt ist eine Bereitschaft zuzuhören und der Willen zum Dialog.

transform! europe als ein Teil der europäischen Linken will dazu beitragen.

Die Referate der Konferenz werden als isw-Report 119 veröffentlicht, Erscheinungsdatum Mitte Dezember 2019.


[1] Karl Polanyi, Die große Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Suhrkamp Taschenbuch, S. 83.
[2] Ebd.