Mitte 2023 wurden an der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenze allgemeine Kontrollen eingeführt. Am 16. September 2024 wurden diese auf alle deutschen Außengrenzen ausgeweitet. Parallel zu den Grenzschließungen hat die Ampelkoalition ein umfassendes Repressions- und Abschiebeprogramm durchgesetzt (1): Dabei spricht es Bände, dass das „Sicherheitspaket“, das Ende Oktober verabschiedet wurde, (2) der CDU noch zu „lasch“ war – trotz seiner zahlreichen gegen Kinder- und Menschenrechte verstoßenden Aspekte: von den Kürzungen von Leistungen unter das Existenzminimum über Altersfeststellungen bei Sechsjährigen bis zu den brutalen Verschärfungen in Bezug auf die Zulassung von Abschiebehaft. Seitdem werden diese Maßnahmen, die vor allem als Reaktion auf den tödlichen Anschlag von Solingen am 23. August 2024 präsentiert wurden, in der Öffentlichkeit diskutiert. Zwar gibt es durchaus kritische Stimmen. (3) Diese klingen allerdings aktuell sehr leise. So besteht zweifellos die Gefahr, dass der Rechtsruck des Parteienspektrums mit Ausnahme der Linken sowie der Aufschwung eines gesellschaftlich weit verbreiteten Rassismus die Reste dessen killt, was vom humanitären Impuls des Grundrechts auf Asyl geblieben ist.
Antirassistische Positionen brauchen deshalb dringend Bündnispartner:innen. Aber welche Kräfte und Interessen können Rassismus und Rechtswende etwas entgegensetzen? Kann zum Beispiel ein Hinweis auf die „Nützlichkeit“ der Migration helfen? In diesem Text schlagen wir vor zu unterscheiden, wann der Hinweis auf „unsere“ Abhängigkeit von Migrant:innen eindimensional und utilitaristisch ist und somit gegenüber gesellschaftlichen Rassismen eher konstitutiv als kritisch. Und in welchen Kontexten das Argument wichtig sein kann, um humanitäre Grundsätze zu verteidigen. Ein besonderer Blick muss dabei auf die sich aktuell nach unserem Eindruck schnell wandelnden Positionen der Wirtschaftsverbände geworfen werden.
Die Krise des Schengen-Systems
Die neuen Grenzkontrollen haben eine längere Vorgeschichte: Im Sommer der Migration 2015 überwanden hunderttausende Menschen die EU-Außengrenzen und haben so den faktischen Zusammenbruch des Dublin-Systems – der Verteilung Geflüchteter auf die Mitgliedsländer – und eine Krise des Schengen-Systems – der Abschottung nach außen bei offenen Binnengrenzen – herbeigeführt. Es besteht kein Anlass, die Selbstständigkeit und den eigenen Sinn dieser Bewegung rückblickend zu romantisieren. Sie ist vielmehr umfassender zu verstehen, als „relative Autonomie“ und als Ausdruck sozialer Konflikte. (4) Es entstanden Spielräume für eine Demilitarisierung der europäischen Außengrenzen, aber diese wurden auch wieder verschlossen. So war die Zeit um 2015 nicht nur von der sogenannten Willkommenskultur geprägt, sondern die damalige Große Koalition beschloss – ebenso wie Regierungen in anderen EU-Ländern – erstmals wieder Grenzkontrollen auch im EU-Binnenraum durchzuführen. Diese fokussierten, ob in Österreich, Deutschland oder Dänemark, meist selektiv auf die Einreise aus dem Süden, während zugleich auch an den Außengrenzen der EU eine militärische Aufrüstung gegen Migrant:innen stattfand, wie etwa auf der sogenannten Balkanroute.
Damals warnte etwa die Bertelsmann-Stiftung, als bewährter Think-Tank, der zuvörderst in der Logik kapitalistischer Verwertung zu argumentieren pflegt, in einer Untersuchung in ganz drastischer Weise vor den ökonomischen Folgen von Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums. (5) Denn es werde hierdurch nicht nur die Just-in-Time-Lieferung von industriellen Zwischenprodukten, Rohstoffen und Lebensmitteln beeinträchtigt, sondern auch die Zufuhr von Arbeitskräften. Prognostiziert wurden „Schäden“, das heißt erhöhte Kosten für privatwirtschaftliche Betriebe, die sich in einigen Jahren auf eine dreistellige Milliardenhöhe aufsummierten, wobei zuerst der Logistiksektor betroffen sei, dann die Nahrungsmittelindustrie, aber auch Exportindustrien wie die Automobilbranche, die von Lieferungen aus ihrer osteuropäischen Peripherie abhängig sind. Ebenso wurden ein sinkendes Bruttoinlandsprodukt und sinkende Importe vorhergesagt.
Die kritische Würdigung der Verstöße gegen die Freizügigkeit von Waren und Kapital war damals gut nachvollziehbar, und die Position der Bertelsmann-Stiftung spiegelte durchaus eine verbreitet artikulierte Skepsis aus Unternehmerverbänden gegenüber einer Auflösung des gemeinsamen Marktes wider. Ganz dieser Position entsprechend profilierten sich etliche Großunternehmen mit „Welcome“-Initiativen gegenüber Geflüchteten, und Daimler-Chef Zetschke sprach sogar davon, dass die Fluchtbewegung 2014/15 Grundlage für ein „neues Wirtschaftswunder“ sein könne. (6) Und der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) warnte vor genau dem, was jetzt geschieht, Zitat: „Grenzkontrollen. Arbeitgeber warnen vor einem bösen Ende.“ (7) Auf dieser Grundlage war damals durchaus naheliegend zu glauben, dass man mit dem Hinweis auf die „Nützlichkeit“ von Migration rassistische Impulse ausbremsen konnte. Dies schien sich zu bestätigen, als sich die Prognosen über negative ökonomische Auswirkungen von Grenzschließungen 2020 unter dem Eindruck der Corona-Maßnahmen wiederholten. Auch zu dieser Zeit war die Kritik noch mehr als deutlich. In einer Kurzstudie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hieß es beispielsweise 2021:
Die Corona-Pandemie hatte im Frühjahr 2020 zu nationalen Egoismen unter den EU-Mitgliedsstaaten geführt. Aus Angst vor der Ausbreitung von Virusmutationen führte Deutschland […] einseitig Binnengrenzkontrollen zu Österreich und Tschechien ein. Ein Vorgehen, welches weit über die deutschen Grenzen hinaus (negative) Folgen für den Güterverkehr hat, da Deutschland das logistische Herz Europas darstellt. (8)
Die BDA schloss sich dieser Warnung an. In einer Presseerklärung vom 16. Februar 2021 protestierte man vehement gegen die Einschränkung der Unternehmensfreiheit durch „Diskriminierungen“ an den deutschen Außengrenzen und forderte „Maßnahmen mit möglichst geringen wirtschaftlichen Auswirkungen“. (9) in wichtiger Aspekt blieb dabei neben der Forderung nach logistischer Mobilität die nach der Beweglichkeit von Arbeitskräften. Diese Forderung muss auch im Lichte dessen gesehen werden, dass die Grenzschließungen während der Pandemie die EU-Arbeitnehmer:innenfreizügigkeit behinderten. Die meisten migrantischen Beschäftigten kamen damals und kommen bis heute aus EU-Staaten und nicht aus Drittstaaten (bzw. sind aus geopolitischen Gründen vorläufig de facto mit EU-Migrant:innen gleichgestellt). In Reaktion auf die Proteste von Unternehmen, die immer mehr mit Arbeitskräfteknappheit zu kämpfen hatten, ließ die Bundesregierung im Frühjahr 2020 Kontingente von rumänischen und bulgarischen Arbeiter:innen für die Ernte und andere sogenannte systemwichtige Tätigkeiten zu. Im Anschluss kam es zu Konflikten um deren Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelindustrie, die zunächst in den Medien der Herkunftsländer sichtbar wurden. (10)
Man könnte vor dem Hintergrund dieser Erfahrung mithin argumentieren, dass Grenzschließungen Arbeitskräfteknappheit hervorbringen, die wiederum Konflikte um die Arbeitsbedingungen verschärft. Beides kann nicht im Interesse derjenigen Fraktionen des Kapitals sein, die entweder fast ausschließlich migrantische Arbeitskräfte vernutzen und / oder auf die Lieferung von Zwischenproduktionen „in time“ angewiesen sind. Die Forderung nach der Aufrechterhaltung der Arbeitnehmer:innenfreizügigkeit ist insofern nur konsequent. Aber muss das Kapital deshalb grundsätzlich gegen Grenzschließungen sein?
Dies ist ein Auszug aus dem Text “Zwischen Migrationsabwehr und Arbeitskräftemangel. Anmerkungen zur aktuellen Debatte” von Peter Birke und Janika Kuge, der auf Sozial.Geschichte Online veröffentlicht wurde. Lesen Sie den ganzen Text hier.
----------------------
Fußnoten
(1) Dieser Text ist auf Grundlage der Frage „Sollte man mit der ‚Nützlichkeit‘ von Migrant:innen argumentieren, um die aktuelle Welle des Rassismus abzuwehren?“ entstanden, die uns in unterschiedlichen Zusammenhängen in den letzten Monaten verstärkt begegnet ist. Die Beantwortung der Frage hängt stark damit zusammen, wie man die Entwicklung eines an Verwertung orientierten Migrationssystems beurteilt, eine Diskussion, die in Sozial.Geschichte Online seit 2015 immer wieder mit ganz verschiedenen Antworten geführt wurde. Der Text hat sich – im Versuch, der Komplexität möglicher Antworten gerecht zu werden – nach einer Debatte in einem Forschungsnetzwerk zu Arbeit und Migration sowie nach der kritischen Würdigung durch die Redaktion der vorliegenden Zeitschrift – stark verändert. Viel zu diesen Veränderungen beigetragen haben neben Maren Kirchhoff auch Anita Heindlmaier und Christan Sperneac-Wolfer, wofür wir hiermit vielmals danken.
(2) Bundesregierung, Mehr Sicherheit für Deutschland, 31.10.2024, [https:// www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/sicherheitspaket-der-bundesregierung-2304924].
(3) Eine gute Zusammenfassung kritischer Argumente findet sich hier: Medico International, Migration: „Wir überschreiten einen Kipppunkt“, Valeria Hänsel im Gespräch mit Maximilian Pichl, 13.9.2024, [https://www.medico.de/blog/wir-ueberschreiten-einen-kipppunkt-19665].
(4) Zum Konzept der Autonomie der Migration siehe zuerst: Manuela Bojadžijev / Serhat Karakayali / Vassilis Tsianos, Papers and Roses. Die Autonomie der Migration und der Kampf um Rechte, in: Kanak Attak, 2001, [http://www.kanak-attak.de/ka/text/papers.html].
(5) Bertelsmann Stiftung (Hg.), Abkehr vom Schengen-Abkommen. Gesamtwirtschaftliche Wirkungen auf Deutschland und die Länder der Europäischen Union, Gütersloh 2016, [https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/abkehr-vom-schengen-abkommen].
(6) Frankfurter Allgemeine Zeitung, Daimler-Chef Zetschke. Flüchtlinge könnten ein neues Wirtschaftswunder bringen, 15.9.2015, [https://www.faz.net/aktuell/technik-motor/iaa/ daimler-chef-zetsche-fluechtlinge-koennten-neues-wirtschaftswunder-ausloesen-13803671.html].
(7) Neue Osnabrücker Zeitung, Flüchtlingskrise in Europa. Grenzkontrollen: Arbeitgeber warnen vor „bösem Ende“, 23.1.2016, [https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/ fluechtlingskrise-in-europa-grenzkontrollen-arbeitgeber-warnen-vor-boesem-ende-23419079].
(8) Thomas Obst / Thomas Puls, Corona in der EU: Wiederholen sich die Fehler aus dem Frühjahr 2020?, IW-Kurzbericht 13/2021, [https://www.iwkoeln.de/studien/thomas-obst-thomas-puls-wiederholen-sich-die-fehler-aus-dem-fruehjahr-2020-500307.html], S. 1.
(9) BDA, Presseerklärung, 16.2.2021, [https://arbeitgeber.de/offene-grenzen-im-schengen-raum-duerfen-nicht-einseitig-aufgehoben-werden/].
(10) Peter Birke, Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland, Wien / Berlin 2022, 269 f.