Mit den ersten, vorläufigen amtlichen Statistiken für 2024 können wir die Darstellung der Gewinneinkommen weiterführen. Die amtliche Statistik benennt diese Position als "Einkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen". Das beinhaltet als Sammeltopf alle Einkommen, die nicht (Lohn- und Gehalts-)Einkommen aus abhängiger Beschäftigung sind. Das ist völlig unbefriedigend, fallen darunter doch undifferenziert die nicht ausgeschütteten Konzerngewinne von RWE und BMW und Siemens, die Dividendenzahlungen der Konzerne, alle Arten von Sparer-Einkommen, aber auch die Einkommen und Gewinne von Autohändlern und Handwerkern, von Anwaltskanzleien und Arztpraxen, und, mehr noch, die Einkommen von Selbständigen und Freiberuflern, die häufig (grob in etwa zur Hälfte) Solo-Selbständige ohne Beschäftigte sind, oft in einer prekären wirtschaftlichen Lage: also Einzeltaxifahrer, kleine Fliesenleger, Landwirte mit familiären Mithelfern, Kioskpächter, Künstler bis hin zu quasi-selbständigen Uber- und Lieferando-Fahrern.
Derzeit werden in der Statistik etwa 3,8 Millionen Selbständige gezählt (erwerbstätig, aber nicht Arbeitnehmer). So viele waren es auch Mitte der 1990er Jahre. Von da an stieg ihre Anzahl bis 2010 auf etwa 4,5 Millionen, seither fällt sie. Viele von ihnen, die kleinen (Schein-)Selbständigen, liegen mit ihrem Arbeitsertrag noch unter dem üblichen Lohnniveau, aber ihr Einkommen ist kein Arbeitnehmer-Einkommen und wird deshalb in der Statistik in derselben Rubrik wie die Konzernprofite erfasst.
Dann muss man noch anmerken: Es handelt sich bei dieser amtlichen Statistik nicht um Bilanzdaten, das heißt, die Gewinne sind hier nicht verzerrt durch steuerbegünstigte Abschreibungsmodelle, durch Rückstellungen für spätere mögliche Ausgaben, durch steuerrechtlich erlaubte Bewertungsänderungen oder sonstige Kursänderungen: Kursgewinne von Aktien oder anderen Anlagen sind nicht Einkommen, sondern Änderungen der Vermögenspreise. Im Vergleich zur üblichen Bilanzpolitik handelt es sich hier um Realwirtschaft.
Nach diesen Vorbemerkungen – und der allgemeinen Bemerkung, dass hier wegen notorisch unzureichender statistischer Abdeckung auch eigene Schätzungen einfließen – sehen wir in Grafik 1 ein Anwachsen der Gewinneinkommen, das etliche Kerben aufweist. Das sind die Flautejahre ab 2000, die Welt-Finanzkrise 2008/09, die Corona-Krise 2020 und die aktuelle Flaute 2024. Man sieht, Gewinne sind viel stärker als Löhne und Gehälter krisenabhängig – aber sie erholen sich nach der Krise rapide.
"Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen." Das ist das konzentrierte Standardwissen von Wirtschaftskunde-Lehrern, Uni-Professoren und Bundeskanzlern. Deshalb muss die Gewinnmacherei gefördert und erleichtert werden. Was aber wird tatsächlich aus den Gewinnen (worin auch, nicht zu vergessen, die Arbeitserträge von vier Millionen arbeitenden Selbständigen mit dabei sind)? In den 1990er Jahren – siehe Grafik 1 und Grafik 2 – konnte die zitierte Sichtweise noch eine Spur Plausibilität für sich beanspruchen. Etwa 20 % der Bruttogewinne nahm die Steuer, etwa ein Drittel ging für den individuellen Konsum der Selbständigen drauf (von der Wohnungsmiete des Scheinselbständigen bis zu seiner Yacht). Der Rest wurde tatsächlich überwiegend investiert.
Die Investitionen sind hier Nettoinvestitionen im Inland, und zwar Investitionen in Sachanlagen, nicht in Finanzanlagen. Der größte Teil der Investitionen sind Ersatzinvestitionen: Wiederbeschaffung von verschlissenen Maschinen, Fahrzeugen, Ausstattungen, Fabrikgebäuden. Sie werden finanziert durch die Abschreibungen: in der Preiskalkulation ist neben Löhnen und Material immer auch ein Posten enthalten, der den laufenden Kosten für die Abnutzung der Anlagen entspricht und für ihre Wiederbeschaffung beiseitegelegt wird. Abschreibungserlöse sind Kosten, kein Bestandteil der Gewinne. Ersatzinvestitionen sind hier also nicht enthalten. Aus den Gewinnen werden – jedenfalls statistisch auf das ganze Land hochgerechnet – nur diejenigen Investitionen gezahlt, die neue Kapazitäten schaffen, also Erweiterungsinvestitionen, zusätzliche Maschinen, zusätzliche Fabriken. Das sind die Nettoinvestitionen, nur sie ermöglichen und fördern wirtschaftliches Wachstum.
Nach der Jahrtausendwende, also nach Beendigung der Integration von Ostdeutschland ins Konzerndeutschland, die verbunden war mit großen Investitionen, ändert sich das Bild der Nutzung der Gewinneinkommen massiv. Nach wie vor bleibt zwar, erstaunlich kontinuierlich, dass gut die Hälfte der Bruttoeinkommen an die Steuer und in den Konsum geht. Aber beim verbleibenden Rest sieht man, dass die Nettoinvestitionen drastisch an Bedeutung verloren. Nur ein kleiner Teil der Gewinne macht das, was das obige Zitat verspricht. Und in der aktuellen Krise, ebenso wie schon 2009, stagniert der Umfang des gesamtwirtschaftlichen Sachanlagenbestandes, es gibt keine Nettoinvestition. Wofür auch, wenn die Wirtschaft grad so dahin dümpelt.
Die Unternehmen machen aber dennoch Gewinne, also bleibt ihnen immer mehr anlagesuchendes Einkommen, das sie nicht für Investitionen brauchen. Grafik 3 zeigt das Ausmaß. Seit Anfang der 2000er Jahre bleiben Jahr für Jahr mehr als 200 Mrd. Euro übrig, seit einigen Jahren sogar mehr als 300 Mrd. Euro, wofür es keine Verwendungsmöglichkeit gibt für inländische Sachanlagen. Es sind Finanzströme, die für Finanzanlagen, Spekulationen, Aufkäufe von Konkurrenten, Aufkäufe von eigenen Aktien, irgendwelche Auslandsanlagen genutzt werden können. Grafik 3 zeigt zudem die Netto-Direktinvestitionen ins Ausland als Teil dieser freien Finanzen. Das sind Sachinvestitionen (ohne Finanzanlagen) direkt in ausländische Produktionsmittel, saldiert mit den Sachinvestitionen von ausländischen Konzernen in Deutschland. Interessant 2021 bis 2024: In diesen vier Jahren betrugen sie knapp 300 Mrd. Euro, vermutlich auch ein Resultat der oft diskutierten Abwanderung von Betrieben ins Ausland aufgrund der Energiepreis-Turbulenzen und der US-Gesetzgebung zur massiven Förderung der Verlagerung solcher Betriebe in die USA.
Grafik 3 vermittelt definitiv nicht den Eindruck, dass die deutsche Wirtschaft (gemeint ist mit den beiden Wörtern immer: das deutsche Kapital) Renditeprobleme hat und mit fürsorglicher Wirtschaftspolitik gestützt und hochgepäppelt werden muss. Wobei in diesem Bild die stark zunehmende Ungleichentwicklung innerhalb des Sektors Gewinneinkommen noch gar nicht zum Ausdruck kommt: Der Anteil, den man auf die Arbeitstätigkeit der Selbständigen zurückführen kann, nimmt im Vergleich mit der reinen Kapitalrendite ab (mehr dazu in isw-spezial 35, siehe unten).
Erinnert man sich an einstürzende Brücken, schlechte Bauzustände der Schulen, überlastetes und mies bezahltes Pflegepersonal, den unzureichenden öffentlichen Verkehr, dann verdeutlicht Grafik 3 den Widerspruch zwischen dem riesigen privaten Reichtum und die um sich greifende öffentliche Armut. Latente Wirtschaftskrise, stagnierende Reallöhne, die öffentliche Hand an der Schuldengrenze, aber die Aktienindizes feiern Rekorde um Rekorde. Verständlich: So geht marktkonforme Demokratie.
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Ausführlicher und tiefergehend dazu: