Deutschland beteiligt sich an der Entwicklung einer europäischen Mittelstreckenwaffe mit Reichweite bis Russland. Übergangsweise werden US-Marschflugkörper in Deutschland stationiert. NATO koordiniert die Aufrüstung der Mitgliedstaaten.
Aus Berichten des zu Ende gegangenen NATO-Gipfels in Washington geht hervor, dass Deutschland sich an der Entwicklung neuer Mittelstreckenwaffen beteiligt, die Ziele in Russland erreichen können, darunter vermutlich Moskau. Demnach haben Deutschland, Frankreich, Italien und Polen beschlossen, gemeinsam einen Marschflugkörper oder eine Hyperschallrakete zu entwickeln, die eine Reichweite von rund 2.000 Kilometern haben könne.
Damit gerät bei einer Stationierung der Waffe in der Bundesrepublik die russische Hauptstadt ins Visier. Übergangsweise sollen US-Marschflugkörper vom Typ Tomahawk sowie Lenkraketen SM-6 in Europa stationiert werden, vermutlich in Wiesbaden. Washington will dort zudem Hyperschallwaffen vom Typ Dark Eagle aufstellen, sobald deren Entwicklung abgeschlossen ist. Der NATO-Gipfel in Washington knüpfte an die Gipfel in Madrid (2022) und in Vilnius (2023) an: Hatte das Militärbündnis in Madrid ein neues Streitkräftemodell, in Vilnius neue Verteidigungspläne beschlossen, so diente der Gipfel in Washington dazu, die Pläne nun zu konkretisieren – den Aufbau rüstungsindustrieller Kapazitäten und die Entwicklung neuer Waffen inklusive.
Die Rüstungsprioritäten der NATO
Bei der Konkretisierung der Planungen geht es nicht nur darum, militärische Strukturen auszubauen und in Manövern Kriegsszenarien zu üben, sondern auch darum, in der Rüstung neue Kapazitäten zu schaffen und neue militärische Fähigkeiten zu erschließen. Dazu wurde in Washington eine Vereinbarung mit dem Titel NATO Industrial Capacity Expansion Pledge geschlossen, die im Wesentlichen vorsieht, die Rüstungsindustrie zu stärken sowie neue Fabriken zu errichten – dies nach Möglichkeit in multinationaler Kooperation.[1] Die NATO will dies künftig koordinieren, womit sie freilich in direkte Rivalität mit der EU gerät, die ihrerseits danach strebt, sich eine eigenständige rüstungsindustrielle Basis zu verschaffen.[2] Die Rüstungsproduktion sei ein „Teil der Verteidigungsplanung“, wird ein hochrangiger NATO-Beamter zitiert.[3] Um eine möglichst straffe Koordination sicherzustellen, sollen die Mitgliedstaaten ihre Rüstungsmaßnahmen einmal im Jahr nach Brüssel melden. Zu den Prioritäten gehöre es, heißt es unter Berufung auf den NATO-Beamten, die Logistik „für die schnelle Verlegung von Einheiten“ zu optimieren, zudem „moderne IT für Kommunikation und Aufklärung“ zu beschaffen, „erheblich größere Munitionsbestände“ aufzubauen und „Schläge in der Tiefe mit Abstandswaffen“ zu ermöglichen.
Mittelstreckenwaffe aus der EU
Mit Letzterem werden sich Deutschland, Frankreich, Italien und Polen gemeinsam befassen. Eine entsprechende, noch recht allgemein gehaltene Absichtserklärung zur Entwicklung von Waffen, mit denen man Ziele auf feindlichem Territorium weit hinter der Front treffen kann, unterzeichneten die Verteidigungsminister der vier Staaten am Rande des NATO-Gipfels. Konkret gehe es darum, dies berichtet ein gewöhnlich gut informierter Korrespondent, „eine landgestützte Waffe mit einer Reichweite von deutlich mehr als tausend Kilometern zu entwickeln“. Dabei könne es sich um „einen Marschflugkörper“ oder auch „eine ballistische Rakete“ handeln, wobei letztere, sollte man sich auf sie einigen, auch als Hyperschallrakete konstruiert werden könne.[4] „Derlei Waffen könnten von Deutschland aus auf russische Ziele gerichtet werden“, heißt es weiter – „bei einer Reichweite von 2.000 Kilometern auch auf Moskau“. In Berlin gehe man davon aus, dass sich nach dem Regierungswechsel in London auch Großbritannien an dem Vorhaben beteiligen werde. Als Modelle, die dabei als Anknüpfungspunkte genutzt werden könnten, werden der deutsche Taurus, der britische Storm Shadow und der französische Scalp genannt. Deren Reichweite liegt freilich bloß bei wenig mehr als 500 Kilometern.
Tomahawk als Übergangslösung
Weil die Entwicklung der neuen Waffe – unabhängig davon, ob es sich bei ihr um einen Marschflugkörper oder um eine Hyperschallrakete handelt – voraussichtlich eine Menge Zeit benötigen wird, ist zunächst eine Übergangslösung vorgesehen. Dazu werden die Vereinigten Staaten ab 2026 Raketen und Marschflugkörper in Deutschland stationieren. Zum einen handelt es sich um Lenkraketen des Typs SM-6, deren Reichweite mit über 350 Kilometern angegeben wird. Zum anderen ist auch die Stationierung von Tomahawk-Marschflugkörpern vorgesehen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 2.500 Kilometern erreichen können; damit gerät bei einem Standort in Deutschland auch Moskau ins Visier. Anders als die neu zu entwickelnde europäische Waffe werden die übergangsweise stationierten US-Waffen unter US-Kontrolle bleiben und im Kriegsfall von US-Einheiten abgeschossen werden. Als der wahrscheinlichste Standort gilt Wiesbaden, wo die Vereinigten Staaten schon im Jahr 2021 – also vor Beginn des Ukraine-Kriegs – ihre Second Multi-Domain Task Force aktiviert haben. Ein Dozent der Münchner Bundeswehr-Universität wird mit der Einschätzung zitiert, eine Stationierung von Waffen wie SM-6 und Tomahawk sei angesichts der Fähigkeiten der Second Multi-Domain Task Force „zu erwarten“ gewesen.[5]
Ausstieg aus dem INF-Vertrag
Dass die Stationierung der Tomahawk-Marschflugkörper zulässig ist, ist dem Auslaufen des INF-Vertrags geschuldet, den Washington und Moskau am 8. Dezember 1987 geschlossen hatten. Er sah die vollständige Abrüstung aller landgestützten Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern vor. Das Ende des Vertrags wird heute allgemein Russland in die Schuhe geschoben. Tatsächlich hat Washington bereits Anfang 2019 offen eingeräumt, schon Ende 2017 mit der Entwicklung neuer Mittelstreckenraketen begonnen zu haben. Recherchen der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) haben belegt, dass das Pentagon bereits im Oktober 2018 begann, Aufträge im Wert von mehr als 1,1 Milliarden US-Dollar für Entwicklung und Bau neuer Raketen zu vergeben. Am 1. Februar 2019 kündigte die Trump-Administration den INF-Vertrag; im März 2019 bestätigte das Pentagon, man beginne nun mit dem Bau neuer Mittelstreckenraketen.[6] Demnach lag der Ausstieg aus dem Vertrag eindeutig im US-Interesse.
Gegen China
Ursache für den US-Ausstieg aus dem INF-Vertrag war damals Berichten zufolge der Plan, US-Mittelstreckenraketen in größtmöglicher Nähe zu China zu stationieren (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Im November 2023 kündigte der Kommandeur der U.S. Army Pacific, General Charles Flynn, an, die Vereinigten Staaten würden im Jahr 2024 sogenannte Typhon-Batterien in die Asien-Pazifik-Region verlegen; dabei handelt es sich um Batterien, von denen etwa Tomahawk-Marschflugkörper abgeschossen werden können.[8] Im April verlegten die Vereinigten Staaten erstmals eine Typhon-Batterie im Rahmen eines Manövers in den Norden der Philippinen, von wo aus mit Tomahawks große Teile Südchinas attackiert werden können.[9] Hieß es zunächst aus den philippinischen Streitkräften, die Typhon-Batterien würden in den Philippinen bleiben, so wird nun berichtet, sie sollten im September wieder abgezogen werden. Doch könnten sie jederzeit erneut in den Norden der Philippinen verlegt werden.[10] Möglich ist dies dank der Aufkündigung des INF-Vertrags.
[1] NATO Industrial Capacity Expansion Pledge. nato.int 10.07.2024.
[2] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.
[3], [4] Thomas Gutschker: Eine neue Waffe, die Moskau treffen könnte. faz.net 11.07.2024.
[5] Nils Metzger: Warum die USA Raketen bei uns stationieren. zdf.de 11.07.2024.
[6] S. dazu Abschied vom INF-Vertrag (III).
[7] S. dazu „Ein Alptraumszenario für China“.
[8] Ashley Roque: Army’s new Typhon strike weapon headed to Indo-Pacific in 2024. breakingdefense.com 18.11.2023.
[9] Laurie Chen, Mikhail Flores: China’s defence ministry condemns US missile deployment in Philippines. reuters.com 31.05.2024.
[10] Seong Hyeon Choi, Sylvie Zhuang: Why is the US typhon missile system being withdrawn from the Philippines? scmp.com 05.07.2024.