Wenn legitime Kritik zum vermeintlichen Verfassungsfeind wird, stirbt ein Stück Pressefreiheit einen stillen Tod. Die Presse- und Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut – das betonte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2005.


Damals war die Frage: Darf die rechte Zeitung Junge Freiheit im Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen auftauchen? Das Gericht urteilte: Nein, potenzielle Leser:innen könnten vom Kauf abgehalten und Inserent:innen zum Boykott verleitet werden. Deshalb schränke die Erwähnung der Zeitung im NRW-Bericht die Pressefreiheit unzulässig ein. Dieses Grundsatzurteil gilt für alle Zeitungen, sollte man meinen. Scheinbar gilt es nicht für die linke Zeitung Junge Welt. Denn seit 2021 erscheint sie im Jahresbericht des deutschen Verfassungsschutzes. Der meint, Zeitung, Verlag und deren Genossenschaft seien „extremistische Personenzusammenschlüsse“, die „verfassungsfeindliche“ und umstürzlerische Absichten verfolgten. Deshalb sei das Ziel, der Zeitung den „weiteren Nährboden zu entziehen“, wie die Bundesregierung im Mai 2021 auf eine parlamentarische Anfrage schrieb.

Der Grund für diese Staatsgewalt: Die Junge Welt bekennt sich zum Marxismus. Das heißt, sie „stellt die Ökonomie ins Zentrum, fragt nach Interessen, Klassenwidersprüchen und der Veränderbarkeit sozialer Verhältnisse“. Kurz, die Zeitung betreibt Kapitalismuskritik und vertritt so oft andere Positionen als Mainstream-Medien. Sie ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für diplomatische Lösungen in Nahost. Diese Blattlinie vertritt sie erfolgreich. Ihre Abo-Zahlen steigen.

Der Verfassungsschutz beäugt diesen Erfolg kritisch. Die Zeitung baue „Gegenöffentlichkeit“ auf, meint er, mit dem Ziel, „die freiheitliche Demokratie durch eine sozialistische/kommunistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen“. Ein scheinbarer Beweis für diese Umsturz-Absichten: die jährliche Durchführung der Rosa-Luxemburg-Konferenz. Tausende Menschen diskutieren über Themen wie soziale Ungleichheit. Nun ist die Frage: Ist das Gesellschaftsanalyse oder Anstiftung zur Revolution?

Immerhin gelten 16,8 Prozent der Deutschen (14,2 Millionen Menschen) als armutsgefährdet – sie verdienen weniger als 1168 Euro im Monat. Dagegen besitzen die fünf reichsten deutschen Unternehmensfamilien etwa 250 Milliarden Euro – also mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Marxismus hin oder her, das klingt nach Zweiklassengesellschaft. Laut Bundesregierung verstößt aber schon die Klassen-Idee gegen die Menschenwürde, denn Menschen würden „zum ‚bloßen Objekt‘ degradiert“, schrieb sie im Mai 2021.

„Das ist alles komplett absurd“, sagt Verlagsgeschäftsführer Dietmar Koschmieder im Gespräch. „Wir wollen eine gute Zeitung machen, nicht mehr und nicht weniger.“ Die Nennung der Jungen Welt im Verfassungsschutzbericht mache das schwer, denn sie bringe „erhebliche Nachteile im Wettbewerb“. Werbetafeln könnten nicht angemietet und Werbespots nicht ausgestrahlt werden. Institutionen verweigerten Presseauskünfte.

Deshalb klagt die Junge Welt seit 2021. Die Zeitung wolle „eine faire Chance auf dem Pressemarkt“, sagt Koschmieder. Nach Revolution klingt das kaum. Die 100.000 Euro Prozesskosten beglichen bisher Spendengelder. Der nächste Gerichtstermin ist am 18. Juli. Man wünscht der Zeitung Erfolg. Denn wenn legitime Kritik zum vermeintlichen Verfassungsfeind wird, stirbt ein Stück Pressefreiheit einen stillen Tod.

Erstveröffentlichung berliner-zeitung