Wirtschaftsvertreter warnen wegen hoher Energiepreise, fallender Produktivität und schrumpfender Auftragsbestände vor Deindustrialisierung.
Maßnahmen zum Klimaschutz sollen zurückgedrängt werden.

Repräsentanten der deutschen Wirtschaft warnen vor einer voranschreitenden Deindustrialisierung und dringen auf Einschränkungen bei Maßnahmen zum Klimaschutz. Wie der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall erklärt, seien wegen deutlich schrumpfender Nachfrage bis zu 50.000 Arbeitsplätze in der Industrie bedroht. Das Statistische Bundesamt meldet konstant zweistellige Wachstumsraten – bei den Firmenpleiten in Deutschland. Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) warnt, nicht nur der Export lahme; auch die Produktivität gehe weiter zurück, während die Energiepreise immer noch über ihrem Niveau vor der jüngsten Energiekrise lägen. Deutschland drohe „den Anschluss“ zu verlieren, urteilt das IW. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) fordert, „Europas Wettbewerbsfähigkeit“ müsse zur „Top-Priorität“ werden; daher müsse die künftige EU-Kommission Ökologie und „Wettbewerbsfähigkeit“ besser „ausbalanciere[n]“. Teile der deutschen Wirtschaft nehmen die desolate Wirtschaftsentwicklung zum Anlass, um die Bundesregierung von rechtsaußen zu attackieren und zu Widerstand aufzurufen; sie erhalten Beifall unter anderem von der AfD.

Klimaschutz hat ausgedient

Die Europawahl hat vor dem Hintergrund einer hartnäckigen Wirtschaftsmisere die zunehmenden Differenzen und Spannungen innerhalb der deutschen Funktionseliten offengelegt. Kurz nach der Wahl preschte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mit der Forderung vor, das neue EU-Parlament solle Ökologie und „Wettbewerbsfähigkeit“ besser „ausbalancier[en]“; „Europas Wettbewerbsfähigkeit“ müsse in der kommenden Legislaturperiode zur „Top-Priorität“ werden.[1] Zugleich zeigten sich Wirtschaftsvertreter besorgt ob des Zuwachses „rechtspopulistischer Abgeordneter“; dieser wurde als „besorgniserregendes Signal“ bezeichnet. Der Verband der chemischen Industrie forderte „eine klare Kurskorrektur bei den politischen Prioritäten, damit unsere Wirtschaft im internationalen Wettbewerb“ bestehen und zugleich „die grüne Transformation vorantreiben“ könne. Hierbei müsse der Fokus auf „günstige Energie“ und offene Märkte gelegt werden. Ähnlich argumentierte der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), laut dem insbesondere die Wahlerfolge der AfD und des BSW in Ostdeutschland die „wirtschaftlichen Aussichten“ dieser Regionen verdüsterten. Der Green Deal, der die EU auf eine ökologisch nachhaltige Energieversorgung umstellen sollte, wird laut dem ifo-Institut in der „bisherigen Form wohl nicht weitergeführt“. In der EU hätten „Klimaschutz und Regulierung ausgedient“, heißt es unter Bezug auf Wirtschaftskreise; es stehe ein Politikwechsel hin zu „Pragmatismus und Wettbewerbsfähigkeit“ an.[2]

Streit um „Sondervermögen“

Herrscht diesbezüglich weithin Einigkeit, so bestehen unterschiedliche Einschätzungen zur Konjunkturpolitik. Während das ifo-Institut vor dem Konfliktpotenzial in der EU wegen der hohen Schulden in Frankreich und Italien warnte, sprach sich der BDI für einen deutschen Investitionsplan in Höhe von 400 Milliarden Euro aus.[3] Diesem Vorstoß erteilte wiederum Finanzminister Christian Lindner (FDP) eine Absage. Ein „Sondervermögen“ von 400 Milliarden Euro belaste „künftige Steuerzahler“, erklärte der Minister. Zudem gälten auch in diesem Fall die „europäischen Fiskalregeln“. Zustimmung erhielt der BDI hingegen von Politikern der Grünen. Deren Vizefraktionschef im Bundestag Andreas Audretsch erklärte, der Wirtschaftsverband stehe mit dieser Forderung „nicht allein“.[4] In der Berliner Ampelkoalition schwelt der Konflikt um eine schuldenfinanzierte, aktive Konjunkturpolitik seit Langem, wobei sich Kanzler Olaf Scholz bislang auf die Seite seines Finanzministers schlug, der die Schuldenbremse trotz zunehmender Krisentendenzen aufrechterhalten will.[5]

Anschluss verloren

Dabei halten die stagnativen Tendenzen in der Wirtschaft des ehemaligen Exportweltmeisters an. Das unternehmernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) prognostiziert der Bundesrepublik für 2024 eine Stagnation von 0,0 Prozent, wodurch die führende Wirtschaftsmacht der Eurozone gegenüber ihren Konkurrenten zurückfallen werde:

„(Fast) alle wachsen, Deutschland nicht“, klagt das IW; nach der Rezession des vergangenen Jahres (minus 0,3 Prozent) sei die Bundesrepublik dabei, aufgrund fehlender Investitionen „den Anschluss“ zu verlieren.

China werde laut dem IW um 4,5 Prozent wachsen, die USA um 2,0 Prozent; sogar der Euroraum könne um 0,75 Prozent zulegen. Das IW macht für die Misere der exportfixierten deutschen Wirtschaft den stockenden Außenhandel verantwortlich, der „seit Herbst 2022 rückläufig“ sei und „zuletzt unter dem Niveau von 2019“ gelegen habe. Obwohl die Weltwirtschaft in diesem Jahr leicht um ein Prozent wachsen werde, werde hiervon in der Bundesrepublik wenig ankommen, da die globale Nachfrage nach Investitionsgütern aufgrund der weltpolitischen Spannungen schwach bleibe, prognostiziert das IW. Zudem seien die Energiepreise trotz einer deutlichen Stabilisierung „immer noch höher als vor der Energiekrise“. Auch die Arbeitskosten seien in den vergangenen beiden Jahren in Deutschland um fünf Prozent gestiegen, während die Arbeitsproduktivität um 0,1 Prozent pro Jahr zurückgegangen sei. Folglich trage derzeit vor allem der Binnenkonsum die Konjunktur, während die Investitionstätigkeit zurückgehe. Die Anlageinvestitionen der Unternehmen etwa sollen laut dem IW 2024 um 1,5 Prozent schrumpfen.

Deindustrialisierung

Medien warnen gar, die fallende Produktivität – die deutsche Wirtschaft konnte den Spitzenwert ihrer Produktivität aus dem Jahr 2017 bislang nicht mehr erreichen [6] – werde „den Wohlstand in Deutschland“ gefährden. Aufgrund sinkender Produktivität, der zunehmenden Konkurrenz und der anhaltenden protektionistischen Bestrebungen warnen Industrievertreter wie der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall inzwischen vor einer Deindustrialisierung in Deutschland. [7]

Demnach seien bis zu 50.000 Arbeitsplätze in der Industrie aufgrund fehlender Nachfrage akut bedroht. Der Auftragsbestand der Industrie sei im März um 5,8 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen, was vor allem auf die schlechte Lage in der Autoindustrie zurückzuführen sei. Die deutsche Industrie sehe ihre „Wettbewerbsfähigkeit gefährdet“, warnte das ifo-Institut bei der Präsentation einer entsprechenden Umfrage Ende Mai.[8] Demnach hätten nahezu alle Industriezweige berichtet, „ihre Wettbewerbsposition im ersten Quartal 2024“ habe sich „gegenüber dem vierten Quartal 2023 verschlechtert“.

Pleitewelle

Bei der Zahl der in der Industrie beschäftigten Lohnabhängigen scheint sich jüngsten Studien zufolge die Tendenz zur Deindustrialisierung allerdings erst leicht anzudeuten.[9] Demnach arbeiteten 2019 in der deutschen Industrie mit 7,5 Millionen genauso viele Lohnabhängige wie 1996. Allerdings seien seit 2019 zehntausende Arbeitsplätze abgebaut worden; die „Anzahl der Industriearbeitsplätze“ liege „noch immer unter dem Niveau vor der Coronapandemie“. Deutlich stärker spiegelt sich die Krise in der Pleitewelle, die die Bundesrepublik erfasst hat.[10] So mussten im ersten Quartal 2024 mehr als 5.200 Unternehmen Insolvenz anmelden; das kam einem Anstieg um 26,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gleich. Seit Mitte 2023 würden bei Firmenpleiten „durchgängig zweistellige Zuwachsraten“ verzeichnet, teilt das Statistische Bundesamt mit.

Angriff von rechts

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Wirtschaftsmisere nahm die Kritik von Wirtschaftsvertretern an der Bundesregierung gerade im Vorfeld der Europawahl zu, wobei der offizielle Konsens, die äußerste Rechte einzudämmen, innerhalb der deutschen Wirtschaftselite zunehmend bröckelte. Bislang wurde die mit Faschisten durchsetzte Alternative für Deutschland (AfD) vor allem vom Mittelstand und vom Kleinunternehmertum unterstützt, während die Export- und die Großindustrie sich entweder zurückhielten oder den Rassismus und den Nationalismus der AfD formell als wirtschaftsschädlich verurteilten. In Absetzung davon wurde kurz vor der EU-Wahl eine heftige Polemik des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Börse, Theodor Weimer, in den sozialen Medien lanciert, die als Angriff auf die Bundesregierung und sogar auf die bürgerliche Demokratie von weit rechts interpretiert und von der AfD aufgegriffen wurde.[11]

„Wir machen nicht mehr mit!“

Deutschlands Ansehen sei „schlecht wie nie“, erklärte Weimer, der auch die im Herbst 2023 massiv verschärfte Asyl- und Migrationspolitik der Bundesregierung – ganz auf AfD-Linie – als „Gutmenschentum“ kritisierte; das Industrieland Bundesrepublik verkomme zu einem „Ramschladen“ und sei auf dem „Weg zum Entwicklungsland“. Die Unternehmer müssten laut Weimer Berlin endlich klar mitteilen: „Wir machen nicht mehr mit“. Weimers Aufruf wurde kurz vor der Wahl von ultrarechten Kräften massiv in den sozialen Medien verbreitet. Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch etwa erklärte, Weimer kenne die harte ökonomische Realität – „anders als der journalistische Teil des Ampel-Hofstaats“.

„Primat der Politik“

Vertreter der Großindustrie hingegen beeilten sich nach der Wahl, Weimers Äußerungen zu widersprechen. Deutschland sei kein Ramschladen, erklärte der Chef des Evonik-Konzerns, Christian Kullmann. Unternehmensvertreter, die anonym bleiben wollten, beteuerten gegenüber Medienvertretern, sie akzeptierten das „Primat der Politik“. Stefan Hartung, Chef des Bosch-Konzerns, beteuerte gegenüber dem Internationalen Club Frankfurter Wirtschaftsjournalisten, er habe Börsenchef Theodor Weimer lange nicht gesehen und wisse nicht, wie dieser zu seinen Aussagen komme. Er stehe, erklärte Hartung, „zum Standort Deutschland mit all seinen Stärken und Schwächen“.

 

[1] So reagiert die deutsche Wirtschaft auf die EU-Wahl. wiwo.de 11.06.2024.

[2] Deutsche Wirtschaft verlangt „klare Kurskorrektur“ von Brüssel. n-tv.de 10.06.2024.

[3] Industrie fordert Milliardentöpfe gegen Investitionsstau. spiegel.de 12.06.2024.

[4] Lindner lehnt BDI-Vorstoß ab. deutschlandfunk.de 12.06.2024.

[5] Scholz gibt Lindner Rückendeckung. tagesschau.de 14.05.2024.

[6] Die Welt wird immer leistungsfähiger – und Deutschland fällt zurück. welt.de 13.06.2024.

[7] „Beginnende Deindustrialisierung“: In fast allen Branchen verliert Deutschland den Anschluss. merkur.de 01.06.2024.

[8] Industrie in Deutschland sieht ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährdet. ifo.de 21.05.2024.

[9] Industriejobs ade? Welche Branchen Stellen abbauen – und welche Mitarbeiter einstellen. wiwo.de 31.05.2024.

[10] Zahl der Firmenpleiten nimmt weiter zu. zeit.de 14.06.2024.

[11] Wie die Wutrede des Börsenchefs die Wirtschaft aufmischt. sueddeutsche.de 12.06.2024.

 

Ergänzende Literatur:

https://www.isw-muenchen.de/broschueren/wirtschaftsinfos/217-wirtschaftsinfo-64