Bei den deutschen Chemie-Unternehmen lief es im Jahr 2023 nicht gut. Der Umsatz ging gegenüber 2022 um zwölf Prozent auf 230 Milliarden Euro zurück. "Besonders kräftig fiel der Rückgang im Inlandsgeschäft aus - die Verkäufe sanken um 16 Prozent auf 86 Milliarden Euro". (Verband der Chemischen Industrie,VCI). Dementsprechend reduzierte sich auch der Ausstoß der Fabriken um acht Prozent, die Pillen-Fabrikation herausgerechnet sogar um elf Prozent.

 

Auszug aus dem isw-wirtschaftsinfo 64, März 2024

Mit je 15 Prozent am stärksten brach die Fertigung von Petro-Chemikalien inklusive Derivaten und von Polymer-Kunststoffen ein. Nur zu 77 Prozent nutzte die Branche ihre Kapazitäten aus. "Damit liegt die Produktion seit rund neun Quartalen unter der wirtschaftlich notwendigen Grundauslastung von 82 Prozent", konstatierte der Verband am 15. Dezember 2023 auf Basis der Zahlen bis einschließlich November.
Bei der BASF rutschte der Umsatz um 18,5 Milliarden Euro auf rund 69 Milliarden Euro ab und bei Wacker um 22 Prozent auf 6,4 Milliarden Euro. Von den meisten anderen Unternehmen lagen bislang noch keine Zahlen für das Gesamtjahr vor, lediglich für das 3. Quartal 2023; aber auch hier liegen die Einbrüche jeweils bei über 20 Prozent.
Bei Covestro waren es 22,7 Prozent, bei Lanxess 26,7 Prozent und bei Evonik 23 Prozent. Nur bei den Konzernen, die mit Haushaltschemikalien, Pestiziden oder Pharmazeutika handeln, sieht es etwas besser aus.
Der drittgrößte bundesdeutsche Industrie-Zweig, der rund 480.000 Beschäftigte zählt, reagiert auf die schlechten Bilanzen mit den üblichen Maßnahmen. BASF etwa vernichtet 2.600 Arbeitsplätze. Zudem legte die Aktiengesellschaft in Ludwigshafen Werke zur Herstellung von Ammoniak und Kunststoff still.
Daneben gab sie Pläne bekannt, die Bereiche "Agro-Chemikalien" und "Batterie-Chemikalien" aus der Verbundstruktur zu lösen und zu eigenständigen Einheiten umzugestalten – normalerweise der erste Schritt zu einer Abspaltung. Den Verkauf von Wintershall Dea – lange Zeit die Gasleitung der Firma nach Russland – an das britische Unternehmen Harbour Energy machte das Management kurz vor Weihnachten 2023 bekannt. Allerdings beabsichtigt die Bundesregierung, den Deal intensiv zu prüfen, weil sie die BASF-Tochter wegen ihres Pipeline-Netzes in Deutschland zur kritischen Infrastruktur zählt und ihres Zugriffs auf Öl und Gas wegen als wichtig für die Energiesicherheit des Landes erachtet. Evonik folgt dem Vorbild BASF und formt seine Sparte "Technology & Infrastructure" zu einer eigenständigen Gesellschaft um. "Vom vollständigen Verbleib im Konzern über Partnerschafts- und Joint-Venture-Modelle werden alle Optionen geprüft", heißt es in einer Pressemitteilung. Überdies legte der Chemie-Riese ein Sparprogramm im Umfang von 250 Millionen Euro auf. Damit nicht genug, steht noch eine Umstrukturierung der Verwaltung an. Einen solchen Plan hegt auch Bayer. Zudem kündigte der Vorstandsvorsitzende Bill Anderson Mitte Januar 2024 einen "erheblichen Personalabbau" an. Finanzinvestoren fordern vom Management des Unternehmens, dessen Börsen-Kurs infolge der Schadensersatz-Prozesse in Sachen "Glyphosat" immer neue Tiefstände erreicht, sich von einzelnen Sparten zu trennen. Eine Entscheidung darüber will der Leverkusener Multi Anfang März 2024 am Kapitalmarkt-Tag bekanntgeben.
Wacker verspricht seinen Aktionären derweil, einen "verstärkten Fokus auf Effizienz und Kostendisziplin" zu legen, während Lanxess erwägt, sich von der Abteilung mit den Polyurethan-Kunststoffen zu trennen. Covestro ist indes als Ganzes gefährdet. Der saudi-arabische Öl-Gigant Adnoc interessiert sich für eine Übernahme und führt entsprechende Verhandlungen mit dem Vorstand.
Gegenüber ihrer ausländischen Konkurrenz verlor die deutsche Chemie-Industrie 2023 an Boden.
In Europa hatte bei der Produktion mit einem Minus von 9,5 Prozent nur Polen einen drastischeren Einschnitt zu verkraften. Der Durchschnittswert – auf Basis der Zahlen von Januar bis November 2023 – lag bei -0,6 Prozent. Im globalen Maßstab legte der Ausstoß sogar zu: +2,2 Prozent. Neben Russland (+5,2 Prozent) verzeichneten vor allem Indien (+5,4 Prozent) und China (+5,8 Prozent) Steigerungen.

Das Klagelied

Als Hauptgrund für die Misere nennt die Branche die gestiegenen Strompreise nach dem Stopp der Lieferungen aus Russland.
Tatsächlich hat kaum ein anderer Industrie-Zweig einen derart hohen Bedarf an Energie; neun Prozent des gesamten Verbrauchs in Deutschland gehen auf sein Konto. An erster Stelle steht dabei die Kunststoff-Produktion mit all ihren Vorstufen. Nicht zuletzt deshalb ist die BASF der größte Gas-Konsument des Landes. Im europäischen Vergleich jedoch bewegt sich die finanzielle Belastung deutscher Unternehmen bei diesem Kostenfaktor nach Angaben der Statistik-Behörde Eurostat und der "Internationalen Energie-Agentur" im Mittelfeld. Die Betriebe profitieren nämlich von zahlreichen Vergünstigungen wie Befreiungen von der Strom-Steuer, einer "Strompreis-Kompensation" und kostenlosen CO2-Verschmutzungszertifikaten. Evonik & Co. verweisen jedoch vornehmlich auf die USA, wo die Kosten für Strom nur ein Viertel dessen betragen, was die Firmen in Deutschland aufbringen müssen.
Des Weiteren führen die Chemie-Riesen die weltweit schwache Nachfrage für ihre Erzeugnisse als Ursache für ihre schlechten Bilanzen an. Hierzulande litten sie als Anbieter von Vorleistungsgütern speziell unter der schwierigen Lage, dem Konjunktur-Einbruch im Baubereich, auf den mehr als 50 Prozent aller Investitionen kommen, und der Situation im Automobil-Sektor.
Darüber hinaus verweisen die Unternehmen auf zu viel Bürokratie im Allgemeinen und zu lange Genehmigungsverfahren für neue Anlagen im Besonderen. Sie klagen zudem über die Masse an Auflagen aus Brüssel hinsichtlich Umwelt- und Sozialstandards sowie über die Belastungen durch die Umstellung auf klima-freundlichere Produktionsverfahren. Schließlich beanstandet die Branche noch die angeblich zu hohe Steuerlast und Defizite bei der Infrastruktur.
Dementsprechend lang ist der Forderungskatalog. "Die Bundesregierung muss den Alarmruf der energie-intensiven Industrie ernst nehmen. Uns eint der Wille, die Deindustrialisierung zu stoppen. Ein entscheidender Schritt ist ein international wettbewerbsfähiger Strompreis. Deshalb brauchen wir einen Brückenstrompreis und die Beibehaltung des Spitzenausgleichs", mahnte der "Verband der Chemischen Industrie" (VCI) im September 2023 an. Drei Monate später hieß es dann: "Das Energiethema ist aber nur eins von vielen ungelösten Problemen. Auf der Mängelliste stehen weiterhin die marode Infrastruktur, der Fachkräftemangel oder die überbordende Bürokratie und Regulierung." Und nach Ansicht des VCI-Präsidenten Markus Steilemann haben die Konzerne schon reagiert.
 "Die Leute laufen in die USA, als gebe es kein Morgen mehr", so der Covestro-Manager.

Tatsächlich reduzierten in 2023 40 Prozent der Firmen ihre Investitionen im Inland. Demgegenüber stehen 23 Prozent, die ihre Ausgaben erhöhten. Was das Ausland betrifft, so verhält es sich nahezu umgekehrt: 21 Prozent fuhren ihre Investitionen zurück, während 37 Prozent drauflegten. Die Pläne für 2024 sehen laut VCI ähnlich aus. In Deutschland wollen 38 Prozent ihre Investitionen kappen und 31 Prozent mehr Geld anlegen, im Ausland hingegen wollen nur 18 Prozent sparen und 44 Prozent tiefer in die Tasche greifen. Allerdings lassen sich Chemie-Fabriken nicht so einfach in einer Lauftasche mitführen oder aus dem 3D-Drucker zaubern. Standort-Entscheidungen haben einen langen Vorlauf und erfordern umfangreiche Planungen und Bau-Tätigkeiten. Die Rede von der Deindustrialisierung Deutschlands gehört deshalb zu einem guten Stück auch zu einem Horrorszenario, mit dem BASF & Co. ganz bewusst Politik machen.
Zudem ist der Kostenfaktor oftmals gar nicht ausschlaggebend dafür, ein bestimmtes Land für die Errichtung einer neuen Niederlassung zu wählen. "Markterschließung bleibt das wichtigste Motiv für Investitionen an Standorten im Ausland", muss der VCI konzedieren. 59 Prozent der Unternehmen nannten das als Hauptgrund, Einsparungen nur 41 Prozent. Nur bei Engagements in Nordamerika dominierten finanzielle Erwägungen.
Europa-weit rechnen nach einer Erhebung der Unternehmensberatung Deloitte unter Chemie-Managern 81 Prozent mit einem Abzug energie-intensiver chemischer Wertschöpfungsstufen vom alten Kontinent. 71 Prozent haben dabei die Vereinigten Staaten als Ziel im Auge, wobei 58 Prozent angeblich dem Ruf des "Inflation Reduction Acts" und anderer Programme bereits gefolgt sind.

 

Gipfel-Politik

Die Bundes- und Landesregierungen machten die neuerlichen Fernweh-Anwandlungen merklich nervös. Nicht nur deshalb beschäftigten sie sich eingehend mit dem Wunschzettel der Branche. In Formaten wie "Chemie-Allianz", "Pharma-Gipfel" und "Chemie-Gipfel" nahm die Ampel-Koalition deren Kritik auf und versprach Besserung. Auch in der Industrie-Strategie mit ihrer "transformativen Angebotspolitik", die in den durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Verwerfungen nach der Finanzkrise und der Corona-Pandemie den dritten Anwendungsfall  für ein aktives Eingreifen in den Wirtschaftsprozess jenseits des "Laissez-faire" des Neoliberalismus gekommen sieht, räumen SPD, Grüne und FDP dem Begehr der Chemie-Firmen viel Platz ein.
Die Chemie-Allianz konstituierte sich aus zwölf Bundesländern, die sich dem "Erhalt der chemischen Industrie in Deutschland" verschrieben haben.
"Ohne ein entschlossenes Gegensteuern besteht die akute Gefahr einer Verlagerung von Produktion und damit Arbeitsplätzen an kostengünstigere Standorte im Ausland",
hielten die Ministerpräsidenten fest. Darum machten sie sich zu Fürsprechern der Konzerne und forderten von der Ampel-Koalition im Vorfeld des Chemie-Gipfels unter anderem eine Absenkung der Strom-Steuer sowie einen "zeitlich befristeten Brückenstrompreis".

Eine Zusage dazu wollte Olaf Scholz bei dem Treffen, an dem Vertreter des VCI, der Chemie-Unternehmen, des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie, der IG BCE sowie Bundesminister und Ministerpräsidenten der Länder teilnahmen, allerdings nicht geben. Es blieb bei einer Absenkung der Stromsteuer auf das EU-Minimum von 0,50 Euro pro Megawattstunde. Zusammen mit den Zuschüssen zu den Netzentgelten und anderen Wohltätigkeiten kommen da für die energieintensiven Firmen bis 2028 Subventionen in Höhe von 28 Milliarden Euro heraus – und ein Strompreis von sechs Cent pro Kilowattstunde. Trotzdem hätten BASF & Co. lieber einen Industriestrompreis gehabt.
Ansonsten aber lieferte der Chemie-Gipfel. So sicherte die Ampelkoalition den Multis eine "Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung" zu.
Zudem stellte sie Unterstützung bei der Verhinderung eines kompletten Banns der gesundheitsschädlichen PFAS-Chemikalien in Aussicht.
SPD, Grüne und FDP sprachen sich gegen "pauschale, undifferenzierte Verbote ganzer Stoffklassen" aus. Umweltministerin Steffi Lemke suchte stattdessen den Schulterschluss mit den Unternehmen: "Wir brauchen eine starke Chemie-Branche, die für ihre Weiterentwicklung zu nachhaltiger Chemie Planungssicherheit und klare Rahmenbedingungen bekommen muss."

Auch darüber hinaus tut die Ampel alles, um die Konzerne vor Unbill aus Brüssel zu verschonen bzw. den europäischen Regulierungsrahmen "ausgewogener" zu gestalten. Sie stellte sich – Koalitionsvertrag hin oder her – etwa der Zulassungsverlängerung für Glyphosat nicht entgegen. Und gegen die Deregulierungen der neuen Gentechniken erhebt sie so wenig Einspruch wie gegen die Aufweichung der Luftqualitätsrichtlinie.

Den Rest erledigt die Kommission selbst. Sie verschob die Verschärfung der REACH-Verordnung, welche die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Anwendungs-beschränkungen von chemischen Substanzen regelt, auf unbestimmte Zeit. Auch nahmen von der Leyen & Co. die Prüfung eines Export-Verbots für solche Pestizide, die innerhalb der EU wegen ihrer Risiken und Nebenwirkungen keine Zulassung (mehr) haben, aus ihrem Arbeitsprogramm. Zum Ende der Legislatur-Periode ist deshalb von dem zuvor groß angekündigten Green Deal kaum noch etwas übrig.

Parallel zum Chemie-Gipfel lud die Bundesregierung auch zum Pharma-Gipfel. Dort stellte Gesundheitsminister Karl Lauterbach die "Pharma-Strategie" des Bundes vor. Diese möchte er in ein Medizinforschungsgesetz einfließen lassen mit dem Ziel, den Pillen-Standort Deutschland zu stärken. "Mit Bayer hat er deshalb eine Gesetzesinitiative abgesprochen", meldete der "Kölner Stadtanzeiger". Der Gesundheitsminister erklärte gegenüber der Zeitung freimütig, bei der Arbeit an dem Projekt im engen Austausch mit Stefan Oelrich, dem Pharma-Vorstand des Leverkusener Multis, gestanden zu haben. Der hatte nämlich im Januar 2023 lamentiert: "Die europäischen Regierungen versuchen, Anreize für Forschungsinvestitionen zu schaffen, aber auf der kommerziellen Seite machen sie uns das Leben schwer", und für Bayer hat er die Konsequenz gezogen:
"Wir verlagern unseren kommerziellen Fußabdruck und die Ressourcen deutlich weg von Europa." Im Mai gab der Pillen-Riese dann bekannt, seine Forschungsausgaben in den USA verdoppeln und eine Milliarde Dollar investieren zu wollen.

Das hat Lauterbach, der seinen Wahlkreis in Leverkusen hat, anscheinend alarmiert. Sein Paragraphen-Werk sieht nun unter anderem vor, den Pillen-Riesen klinische Studien zu erleichtern, das Extra-Profite garantierende Patentrecht auf europäischer Ebene zu verteidigen und "Anreize zum Aufbau von Produktionsstätten in Deutschland" zu prüfen. Die Genehmigungsdauer für Medikamenten-Tests plant die Ampelkoalition auf fünf Tage zu verkürzen. Darüber hinaus beabsichtigt sie, neben Uni-Kliniken auch ganz normalen Krankenhäusern zu erlauben, klinische Prüfungen für die Pharma-Industrie durchzuführen, was alles nicht gerade der Sicherheit der Probanden dient. Parallel dazu schuf Lauterbach im "Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens" schon einmal bessere Möglichkeiten zur Nutzung von Patienten-Daten zu Forschungszwecken und erfüllte damit eine Forderung des Leverkusener Multis. "Problematisch in Deutschland ist neben der Bürokratie der fehlende Zugang zu Forschungsdaten. Es ist hierzulande schwerer als in anderen Industrie-Nationen, für die Forschung an anonymisierte Patienten-Daten zu kommen, hatte Oelrich noch im April 2023 geklagt. Das "Handelsblatt" zeigte sich dementsprechend begeistert über das Vorhaben des Gesundheitsministers. "Lauterbach-Pläne könnten Wirtschaft Milliarden-Einnahmen bescheren", frohlockte die Zeitung.

Auch Roche zeigte sich zufrieden mit den Aussichten. Nach Einschätzung des Unternehmens hat die Pharma-Strategie das Potenzial, "Fehlentwicklungen zu korrigieren und bietet die Chance, dass Deutschland zukünftig wieder ein Beispiel für Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Gesundheit wird". Der Konzern kündigte Investitionen in Höhe von rund drei Milliarden Euro binnen der nächsten drei Jahre an, die er als "Vorleistung und Vertrauensvorschuss für die Politik" verstanden wissen will.

Die Verfassungsbeschwerde gegen das "Gesetz zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung", das die freie Preis-Gestaltung für neue Medikamente auf einen Zeitraum von sechs Monaten begrenzte und die Porto-Kassen der Pillenhersteller noch mit einigen weiteren Maßnahmen belastete, lässt Roche jedoch nicht fallen. Dem Vorstandsvorsitzenden Hagen Pfundner ist es nämlich ein Anliegen, höchstrichterlich klären zu lassen, ob es dem Staat "je nach Bedarf" erlaubt sein darf, "Unternehmen in die Tasche zu greifen".

Chemie- und Pharma-Gipfel haben die Wunschliste der Branche also konsequent abgearbeitet. Daneben profitieren Bayer & Co. noch von den allgemeinen Wohltaten der Ampelkoalition, wie dem Wachstumschancen-Gesetz, und dürfen dank Robert Habeck zusätzlich noch auf eine Unternehmenssteuerreform hoffen.

Das China-Syndrom

In Sachen "China" verstört der Wirtschaftsminister die Branche allerdings ebenso häufig wie seine Ampel-Partner. Sogar in seinem eigenen Haus stößt er auf Widerstand, denn die Aufgeschreckten wissen um die Bedeutung des Landes für die Chemie-Industrie und die deutsche Wirtschaft im Allgemeinen. Dabei hatte die Bundesregierung im Juli 2023 eine gemeinsame China-Strategie vorgelegt. "China hat sich verändert – dies und die politischen Entscheidungen Chinas machen eine Veränderung unseres Umgangs mit China erforderlich", heißt es darin. Nunmehr ist das Land "gleichzeitig Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale". Deshalb wollen SPD, Grüne und FDP künftig einseitige Abhängigkeiten – z.B. bei Rohstoffen – vermeiden und die "technologische Souveränität" wahren. "Unternehmen müssen geopolitische Risiken bei ihren Entscheidungen adäquat berücksichtigen. Die Kosten von Klumpenrisiken müssen unternehmensseitig verstärkt internalisiert werden, damit im Falle einer geopolitischen Krise nicht staatliche Mittel zur Rettung einstehen müssen", mahnen sie.
Zudem sieht die China-Strategie eine Überprüfung chinesischer Direktinvestitionen in Deutschland vor, wenn diese in kritische Infrastruktur und Hoch- oder Grundlagen-Technologien fließen.
Aber während SPD und FDP vor der Feinderklärung zurückschrecken und zur Vertretung deutscher Wirtschaftsinteressen auch den Konflikt mit den USA nicht scheuen, die strikt auf Konfrontationskurs sind, denken die Grünen transatlantisch. So wollte Robert Habeck eine Beteiligung der chinesischen Staatsreederei Cosco am Hamburger Hafenterminal Tollerort verhindern. Gegenüber Olaf Scholz konnte er sich damit aber nicht durchsetzen. Der hatte den amerikanischen Freunden seine Position zu China diplomatisch verklausuliert in der einflussreichen Zeitschrift "Foreign Affairs" dargelegt: "Chinas Aufstieg ist weder eine Rechtfertigung für die Isolation Pekings noch für eine Einschränkung der Zusammenarbeit. Aber zugleich rechtfertigt Chinas wachsende Macht auch keine Hegemonialansprüche in Asien und darüber hinaus."
Habeck ließ jedoch nicht locker. Im Januar 2024 unternahm er sogar einen – von der China-Strategie nicht gedeckten – Vorstoß dazu, Kontrollen von Direktinvestitionen nicht mehr nur One-Way, sondern auch in Richtung Deutschland-China vorzunehmen. Bei solchen Operationen besteht seiner Meinung nach nämlich ebenfalls die Gefahr eines unerwünschten Technologie-Transfers. Da die Vereinigten Staaten ein solches "Outbound Investment Screening" bereits betreiben und die Bündnispartner drängen, es ihnen nachzutun, versuchte Habeck, einen solchen Mechanismus in die von der EU auf den Weg gebrachte "Strategie für wirtschaftliche Sicherheit" zu implementieren.
Trotz tatkräftiger Mithilfe von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheiterte das Unterfangen allerdings am Widerstand der Wirtschaft. So verfolgte laut "Handelsblatt" die "Deutsche Industrie- und Handelskammer" (DIHK) "die Diskussion über eine neue staatliche Aufsicht von Auslandsinvestitionen mit großer Sorge". Aktivitäten zu verbieten oder zu reglementieren, lehnt die DIHK ebenso wie der VCI ab.
Überdies erteilte DIHK-Präsident Martin Wansleben der "Vorstellung, dass es relativ leicht ist, China kurzfristig als Handelspartner zu ersetzen", eine Absage. Eine Reise nach Südostasien im Begleittross von Außenministerin Annalena Baerbock verfehlte offensichtlich den erhofften Zweck, ökonomische Beziehungen jenseits des Reiches der Mitte zu vertiefen.

"Das Geschäft mit der Region Asien-Pazifik ohne den chinesischen Markt kann immer nur ein Add-on sein, eine Absicherung in Form eines China plus 1‘ – aktuell aber kein Ersatz für China",
so Wansleben.
 Das gilt in besonderer Weise für die Chemie, denn weltweit werden 43 Prozent aller Geschäfte des Sektors in China abgewickelt.
Der Wacker-Konzern macht dort 30 Prozent seines Umsatzes, Covestro 20 Prozent, die BASF 14 Prozent und Evonik acht Prozent. Die BASF baut in Zhanjiang für zehn Milliarden Euro gerade den nach Ludwigshafen und Antwerpen drittgrößten Verbund-Standort des Unternehmens auf.
"Ohne das Geschäft in China wäre die notwendige Umstrukturierung hier nicht so möglich", sagt der Vorstandsvorsitzende Martin Brudermöller mit Verweis auf die Elektrifizierung der Produktionsprozesse. Auch Merck, Covestro, Evonik, Henkel und Bayer investieren weiter in dem Land. Der Glyphosat-Produzent beteiligte sich etwa an der Biopharmazie-Firma Jixing und nutzte die alljährlich in Shanghai stattfindende Import-Messe CIIE neben der Präsentation seiner Agrar- und Pharma-Produkte auch dazu, um Kooperations-vereinbarungen mit chinesischen Firmen abzuschließen. "Dies ist eine wirklich wichtige Veranstaltung", sagte Unternehmenssprecher Matthias Beringer in einem Interview mit "China Daily": "Sie wurde eingeführt, um sicherzustellen, dass China nicht nur als großer Exporteur, sondern auch als offener Markt für Importe präsentiert wird. Für Bayer ist es unser Ziel, Brücken zu bauen und Partnerschaften über manchmal sehr schwierige Grenzen hinweg zu schließen." Allerdings treffen die Firmen Vorsichtsmaßnahmen für den Fall zunehmender Spannungen zwischen dem Westen und China. Im Zuge dieses "De-Risking" entkoppeln viele der Betriebe ihre Geschäfte dort von denjenigen im Rest der Welt und produzieren stattdessen "in China für China".
Von den europäischen Chemie-Multis, die Deloitte befragte, gaben 71 Prozent an, ihre digitalen und physischen Vermögenswerte im Reich der Mitte künftig unabhängiger verwalten zu wollen. "Angesichts geopolitischer Spannungen überprüfen die europäischen Chemie-Hersteller insgesamt ihre Investitionsstrategien.
Die Unternehmen regionalisieren ihre Lieferanten-Netzwerke und Produktionskapazitäten und nutzen Investitionsanreize, um sich resilienter aufzustellen", resümiert Deloitte-Director Dr. Alexander Keller.

Die Bundesbank befasste sich derweil bereits mit den finanziellen Risiken, die aus den Engagements in China erwachsen, wenn die Konflikte mit den USA zunehmen oder der strauchelnde Immobiliensektor in China eine Wirtschaftskrise auslöst. Nach Einschätzung der Banker wären die Folgen schwerwiegend, da die Geldhäuser die Projekte von BASF, VW & Co. mit Krediten in beträchtlicher Höhe stützen. Dem Monatsbericht der Bundesbank vom Januar 2024 zufolge beliefen sich die Forderungen der Geldhäuser auf fast 220 Milliarden Euro (Stand: Ende 2022) – nicht weniger als 42 Prozent ihres Kernkapitals. "Insbesondere systemrelevante Institute haben vergleichsweise hohe Gesamtforderungen", so die Bundesbank.

Ausblick

Das alles sind keine guten Aussichten für die Branche, und positive Entwicklungen zeichnen sich kaum ab. Deshalb schaut der VCI nicht eben hoffnungsvoll in die nähere Zukunft. Für das laufende Jahr rechnet er mit einem Umsatz-Minus von drei Prozent und einer stagnierenden, aber wenigstens nicht weiter abfallenden Produktion. "Die Talsohle scheint erreicht", so der Verband. Nach einer Umfrage bei den Mitgliedsunternehmen erwartet der Großteil (45 Prozent) eine Belebung des Geschäfts erst 2025 oder später, 33 Prozent im 2. Halbjahr 2024 und 13 Prozent noch im 1. Halbjahr 2024. Lediglich Zehn Prozent spüren bereits jetzt einen Aufwärtstrend.