Mit dem Christentum hat die in Ost-Berlin aufgewachsene Autorin wenig am Hut. Doch eine Eigenschaft erkennt sie in Jesus doch:
Mut zur Revolution.
Als Kind fand ich Ostern toll. Eiersuche, Schokolade und Frühling. Welches Kind mag das nicht? Heute gehe ich auf Ostermärsche, der Papst spricht seinen Ostersegen, und ich fühle mich wie im falschen Film.
Nicht „Die Passion Christi“, sondern „Täglich grüßt das Murmeltier“: Ein Mann erwacht Tag für Tag im selben Tag. Er versucht seinem Schicksal zu entkommen, schafft es aber nicht.
Im Film ist das lustig, in der Welt weniger. Denn seit Jahren hören wir Osteransprachen über Frieden und Mitgefühl. Wir demonstrieren gegen Krieg, Armut und Hass. Das ist gut und wichtig, manche nennen es Tradition. Aber ich verzweifle jedes Jahr aufs Neue an der Politik und ihren selbstherrlichen Phrasen.
Als Ost-Berliner Kind wusste ich lange nicht, was es mit Ostern auf sich hat. Christentum, Jesus, Auferstehung? Bis heute habe ich damit wenig am Hut. Trotzdem hilft Ostern den Menschen zur Besinnung. Es geht um Güte, Demut und Achtsamkeit, denn darum ging es Jesus.
Der, und auch das wusste ich lange nicht, war ein radikaler Revoluzzer. Er lebte entgegen allen Konventionen. Für ihn hatten Menschen Wert, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft. Prostituierte, Arme, Kranke. Alle waren gleich. Heute haben wir Künstliche Intelligenz, Supercomputer, und wir fliegen Reiche ins All. Aber die Tatsache, dass allen Menschen Wert zukommt, verstehen wir trotzdem nicht. Und stünde Jesus vor meiner Tür, riefe ich wahrscheinlich die Polizei.
Klar, die Ampel-Regierung ist eine Katastrophe
Denn ehrlich, wer will schon wirklich Veränderung? Das Klima spielt verrückt, im Mittelmeer sterben Menschen, aber wir tun so, als habe das wenig mit uns zu tun. Denn ändern können wir eh nichts, und am Ende geht es uns doch ganz gut, oder?
Klar, die Ampel-Regierung ist eine Katastrophe und mit der Alternative für Deutschland (AfD) wollen völkische Nationalist:innen an die Macht. Schon wieder! Als hätte uns die Geschichte nicht gezeigt, wo das hinführt. Aber sich deswegen politisch engagieren und raus aus der Komfortzone? So weit gehen weder Empörung, Angst noch Nächstenliebe.
Natürlich ist der Vergleich unfair. Jesus gehörte in eine andere Liga – ähnlich wie Gandhi oder MArtin Luther. Sie alle kritisierten die Mächtigen und ihre Institutionen; wollten Reformen oder Revolution. Das setzt die Messlatte ziemlich hoch.
Denn heute leben wir Alltag – wir haben Berufe, Kinder und Kredite. Da bleibt kaum Zeit für Revolution.
Trotzdem, täten wir alle ein Fünkchen von dem, was wir zu Ostern propagieren, sähe die Welt anders aus: kein Ignorieren obdachloser Menschen, kein Anfeinden statt Zuhören, kein „Ich zuerst und nach mir die Sintflut“.
Das wäre doch etwas.
Jesus meinte einmal, ein Kamel komme eher durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Das stimmt bis heute. Aber wir fliegen um die halbe Welt in Urlaubsparadiese und kommen dem Himmel so ziemlich nah. Das ist die Ironie der Geschichte. Und Jesus, Gandhi und Luther? Ihr Erbe wird benutzt und ist oft Teil jener Institutionen, die sie einst kritisierten. Das ist das Schicksal deren, die Geschichte schreiben.
In „Täglich grüßt das Murmeltier“ entkommt der Held schließlich seinem immer gleichen Tag. Er überwindet sein Ego und tut Gutes für andere.
Und wir?
Vielleicht ist es Zeit, unsere Komfortzonen zu verlassen.
Denn sonst wiederholt sich, statt den Ostermärschen, auch unsere Geschichte.
Erstveröffentlichung berliner-zeitung 1.4.2024