Zahl der Todesopfer unter Flüchtlingen auf dem Mittelmeer ist dieses Jahr um die Hälfte gestiegen. EU verschärft Flüchtlingsabwehr erneut. Papst Franziskus kritisiert Indifferenz der EU gegenüber dem Massensterben.

Trotz eines rasanten Anstiegs der Zahl der Todesopfer unter den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer treiben Berlin und die EU die nächste Verschärfung der europäischen Flüchtlingsabwehr voran. Hatten sich die EU-Innenminister bereits am 8. Juni auf neue „Grenzverfahren“ geeinigt, die von Menschenrechts- und von kirchlichen Organisationen als „Entwertung europäischer Grund- und Menschenrechte“ kritisiert wurden, so steht jetzt die abschließende Einigung auf neue Maßnahmen bevor, die sogar die vollständige Schließung der Außengrenzen für Asylsuchende möglich machen. Verzögert wird eine Einigung darauf nur noch durch einen Streit zwischen Berlin und Rom, wer Flüchtlinge aufnehmen soll, die von Seenotrettern gerettet wurden. Laut Angaben des UNHCR ist die Zahl der Todesopfer auf dem Mittelmeer von Anfang Januar bis zum 24. September um mehr als die Hälfte auf über 2.500 gestiegen. Seit 2014 kamen auf der Flucht über das Mittelmeer und durch die Sahara nachweislich mindestens 34.000 Menschen zu Tode. Papst Franziskus warnt vor einer Gewöhnung an das Massensterben und urteilt mit Blick auf die Indifferenz der EU: „Wir stehen an einem Scheideweg der Zivilisationen.“

„Entwertung von Menschenrechten“

Bereits am 8. Juni hatten sich die Innenminister der EU-Mitgliedstaaten auf eine drastische Verschärfung der Flüchtlingsabwehr geeinigt. Demnach werden an den EU-Außengrenzen in Zukunft „Grenzverfahren“ durchgeführt, bei denen Flüchtlinge während der Überprüfung ihres Asylanspruchs in Grenzlagern interniert werden können; dies trifft auch Kinder. Zudem wurden die Regeln für sogenannte sichere Drittstaaten weiter aufgeweicht. Experten gehen davon aus, dass bis zu 120.000 Flüchtlinge pro Jahr in die EU-Grenzlager gepfercht werden können.[1] Die Einigung wurde damals von Bundesinnenministerin Nancy Faeser als „historischer Erfolg“ und von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock als „seit Jahren überfällig“ gelobt.[2] Dabei liefen nicht nur Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen gegen sie Sturm. In einem Appell hatten vorab unter anderem die Diakonie, der Deutsche Caritasverband, Brot für die Welt sowie diverse weitere kirchliche Organisationen vor einem „Trend der Entwertung europäischer Grund- und Menschenrechte“ gewarnt; das Vorhaben, hieß es, rüttele „an den Grundfesten des Rechtsstaates“. Rund 700 Juristen warnten in einem Offenen Brief, mit der Regelung machten Deutschland und die EU „die Ausgrenzung von Geflüchteten ... und deren Inhaftierung und Abschiebung zu ihrem Markenkern“.[3]

„Instrumentalisierung“ von Migration

Im Kern haben sich die EU-Innenminister am vergangenen Donnerstag auf eine zusätzliche Verschärfung geeinigt. Demnach kann unter bestimmten Umständen die Frist, innerhalb derer ein Asylantrag an der Grenze registriert werden muss, auf vier Wochen verlängert werden. Auch die Höchstdauer der Grenzverfahren, während derer Flüchtlinge in Lagern interniert werden können, wird ausgeweitet – von zwölf auf zwanzig Wochen. Darüber hinaus wird die bisherige Beschränkung der Internierung auf Flüchtlinge aus Staaten, bei denen die Asyl-Anerkennungsquote unter 20 Prozent liegt, aufgehoben; es dürfen Flüchtlinge aus Staaten mit einer Anerkennungsquote von bis zu 75 Prozent in Grenzlagern eingesperrt werden. All dies gilt in einer „Krisensituation“ sowie bei „höherer Gewalt“.[4] Neu eingeführt wird zudem die Kategorie einer angeblichen „Instrumentalisierung“ von Migration; diese soll vorliegen, wenn ein Drittstaat die Flucht von Menschen in die EU fördere, um die Union oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren. In diesem Fall sollen die Außengrenzen geschlossen werden dürfen, wie es in Polen und den baltischen Staaten bereits der Fall ist.[5] Schließlich soll es dann zulässig sein, alle ankommenden Flüchtlinge in Grenzlagern zu internieren. In der Praxis ist zudem mit zunehmenden illegalen Zurückweisungen („pushbacks“) zu rechnen.[6]

Streit um die Seenotrettung

Unter Dach und Fach ist die jüngste Einigung lediglich aus einem Grund noch nicht: Italien und Deutschland streiten sich einmal mehr um die Seenotrettung im Mittelmeer. Aktueller Anlass ist zum einen, dass die EU empfehlen will, Einsätze von Seenotrettern nicht als „Instrumentalisierung“ von Migration zu Lasten Italiens zu werten. Italien, wo die Schiffe der Seenotretter aus Gründen der unmittelbaren räumlichen Nähe üblicherweise anlanden, lehnt die Empfehlung ab, um die Rettungsschiffe abweisen zu können. Deutschland befürwortet sie.[7] Rom protestiert zudem dagegen, dass Berlin aus PR-Gründen gewisse staatliche Mittel für die Seenotrettung zur Verfügung stellt, zugleich aber nicht bereit ist, die von deutschen Rettungsschiffen an Bord genommenen Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Wegen des Streits wurde die offizielle Verabschiedung der jüngsten Asylrechtsverschärfung vertagt. Denkbar sei, so heißt es, eine Einigung zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am Rand des informellen Treffens des Europäischen Rats am Freitag dieser Woche in Granada.

34.000 Todesopfer seit 2014

Während der Streit um die Seenotretter und um die Frage anhält, welcher Staat die auf dem Mittelmeer geretteten Flüchtlinge aufnehmen soll, steigt die Zahl derjenigen, die während der Überfahrt zu Tode kommen, erheblich an. Ende vergangener Woche bestätigte ein Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, bis zum 24. September 2023 hätten mehr als 2.500 Flüchtlinge nachweislich ihr Leben verloren oder seien verschollen – rund 50 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2022.[8] Das Missing Migrants Project der International Organization for Migration (IOM) gibt die Zahl der seit dem Jahr 2014 auf dem Mittelmeer verstorbenen oder verschollenen Flüchtlinge mit 28.105 an – mindestens: Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Hinzu kommen Todesopfer, die auf dem Weg durch die Sahara in Richtung Mittelmeerküste verzeichnet werden. Das Missing Migrant Project zählte von Anfang Januar bis Mitte Juni 212 tote Flüchtlinge in der Sahara, geht dabei aber von einer noch erheblich höheren Dunkelziffer aus.[9] Für die Jahre von 2014 bis 2022 konnte die IOM rund 5.600 Tote oder Verschollene in der Sahara registrieren, doch auch diese Zahl sei viel zu niedrig, heißt es bei der Organisation.[10] Die Gesamtzahl der toten Flüchtlinge beläuft sich demnach auf fast 34.000 – nur seit 2014, nur verlässlich dokumentierte Fälle.

„Zerbrochene Leben, zerstörte Träume“

Außergewöhnlich scharfe Kritik an der Tatsache, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten das Massensterben im Mittelmeer nicht nur tolerieren, sondern mit ihrer Flüchtlingsabwehr sogar noch verstärken, hat vor kurzem bei einem Besuch in Marseille Papst Franziskus geäußert. „Zuviele Personen, die vor Konflikten, Armut und Umweltkatastrophen fliehen, finden in den Wellen des Mittelmeers die endgültige Zurückweisung ihrer Suche nach einer besseren Zukunft“, konstatierte das Oberhaupt der katholischen Kirche: „So ist dieses großartige Meer zu einem gewaltigen Friedhof geworden, in dem sich zahlreiche Brüder und Schwestern selbst noch des Rechts auf ein Grab beraubt finden und in dem die Menschenwürde begraben ist.“[11] Man dürfe sich nicht daran gewöhnen, „die Schiffbrüche unter ‘Vermischtes‘ zu subsumieren und die Toten im Meer als Ziffern zu betrachten“, mahnte Franziskus: „Es geht um Gesichter und Geschichten, um zerbrochene Leben und zerstörte Träume.“ Europa stehe „an einem Scheideweg“: „auf der einen Seite die Geschwisterlichkeit ..., auf der anderen die Indifferenz, die das Mittelmeer mit Blut tränkt. Wir stehen an einem Scheideweg der Zivilisationen.“

 

[1] Ausverkauf der Menschenrechte: Deutschland stimmt für Aushebelung des Flüchtlingsschutzes. proasyl.de 09.06.2023.

[2] EU-Staaten wollen Asylverfahren verschärfen. zdf.de 08.06.2023.

[3] S. dazu Abschiebung als Markenkern.

[4] Verhandlungskrimi in Brüssel: Bundesregierung stimmt toxischer Krisenverordnung zu. proasyl.de 29.09.2023.

[5] S. auch Flüchtlingssterben im Niemandsland (III) und „Willkommen in Guantanamo!“

[6] Verhandlungskrimi in Brüssel: Bundesregierung stimmt toxischer Krisenverordnung zu. proasyl.de 29.09.2023.

[7] Eine Einigung, die keine war. Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.09.2023.

[8] More than 2,500 dead, missing as 186,000 cross Mediterranean in 2023. aljazeera.com 29.09.2023.

[9] Franziska Grillmeier, Katy Fallon, Vincent Haiges: Disappeared in the desert: bodies lie in the sand in Niger while Europe pours millions into blocking migration route. theguardian.com 15.06.2023.

[10] Bodies of 27 migrants, including children, found in Chad desert. aljazeera.com 13.12.2022.

[11] Le discours en intégralité du pape François en hommage aux migrants morts en Méditerranée. lepelerin.com 24.09.2023.