Der Westen führt einen Wirtschaftskrieg gegen Russland wegen dessen Aggressionskrieg gegen die Ukraine. Baerbock will "Russland ruinieren", von der Leyen will "die industrielle Basis des Landes zerstören", Biden will Russland Schäden zufügen, "die der Anwendung militärischer Macht gleichkommen". Ob Sanktionen, die über die Zerstörung der Wirtschaft die Einwohner in die Armut und dadurch in einen Aufstand gegen die Regierung treiben wollen, als Antwort auf eine militärische Aggression überhaupt funktionieren können und gerechtfertigt sind, das sei hier mal dahingestellt. Einem Ende des Mordens wären diplomatische Anstrengungen und Zwänge in Richtung Waffenstillstand und Verhandlungen dienlicher. Kanzler Scholz hat die Zeitenwende ausgerufen. Die deutsche Gesellschaft soll sich heute offensichtlich eher auf Abschreckung und Krieg vorbereiten als einen verträglichen Frieden für alle herbeiführen und gestalten. Ein zentrales Element dieses Wirtschaftskrieges ist, russische Einnahmen aus dem Verkauf von Kohle, Öl, Gas in Westeuropa (und nicht nur dort) auf Null zu bringen. Die Entwicklung der letzten Monate lässt uns aber fragen: Hatten wir jemals schon eine durch aktiv betriebenen Wirtschaftskrieg, scharfe Energieknappheiten (so sagt es die Regierung) und rasende Inflation derart derangierte und unsichere Regierung und Wirtschaft? Im Folgenden sollen hier einige Problemfelder etwas näher beleuchtet werden.

1. Kosten des Umbaus der Gaswirtschaft: Wie teuer kommt uns der Austausch von russischem Erdgas durch den Gasbezug von westlichen LNG-Lieferanten?

Das kann derzeit wohl niemand beziffern. Mit Sicherheit handelt es sich dabei um gewaltige Milliardenbeträge. Hier nur einige wenige Aspekte.

1.1 Das Fiasko Uniper

In die Tochterfirma Uniper (Kunstname aus "Unique Performance" = einzigartige Leistung; was für ein einzigartig treffsicherer Name!) hatte Eon den Gashandel (die alte Ruhrgas; größter, aber nicht einziger Russengas-Importeur) und einen großen Teil der Stromerzeugung geparkt (über 30 GW Leistung, entsprechend 20 riesige AKWs oder 100 mittlere Kohlekraftwerke). 80 % von Uniper wurden dann an den finnischen Stromkonzern Fortum verkauft. Uniper blieb nach der Verteuerung des Russengases und nach der Lieferreduzierung und -einstellung nach Medienberichten auf seinen Abgabeverpflichtungen sitzen, ohne entsprechende Mengen auf der Beschaffungsseite zu haben. Eigentlich nicht vorstellbar: Wieso hat Uniper seine Bezugs- und Abgabeverträge nicht vorsorglich so aufeinander abgestimmt, dass es Preiserhöhungen weitergeben kann? So wie es jeder Großhändler machen muss. Jedenfalls musste Uniper die Gasmengen auf anderen, teureren Wegen beschaffen, weshalb für 2022 Verluste in Höhe von 40 Mrd. Euro prognostiziert werden, der höchste Jahresverlust eines deutschen Konzerns überhaupt jemals. Die Unterstützungsmaßnahmen der Regierung sind endlos und unübersichtlich. Ende Juli gab es ein Stabilisierungspaket in Höhe von 15 Mrd. Euro, das allerdings nach einem Monat schon um 4 Mrd. Euro aufgestockt werden musste. Ende September wurde Uniper verstaatlicht (99 % Staatsanteil), diese Aktion kostet 30 Mrd. Euro. Anmerkung: Das ist nicht das einzige Beispiel dafür, dass Verstaatlichungen bei uns gegebenenfalls schnell gehen: Die Tochtergesellschaft von Gazprom in Deutschland wurde – entschädigungslos – verstaatlicht und in SEFE umbenannt (Securing Energy for Europe); die Raffinerie in Schwedt an der Oder (bisheriger Eigentümer: der russische Ölkonzern Rosneft) wurde ebenfalls verstaatlicht.

1.2 Die Regierung kauft Erdgas

Als im Frühjahr die Gaspreise massiv stiegen, hätten die Gaskonzerne ihre Gasspeicher mit so extrem teurem Gas niemals vollgefüllt, allenfalls bis zum unabdingbaren Minimum. Grund: die Aussicht, im kommenden Winter die Speichermengen womöglich zu dann wieder gesunkenen Preisen abzugeben. Also gab's ein Speichergesetz, das die Gaswirtschaft neuerdings zum Einspeichern zwingt. Wirtschaftsminister Habeck traute dem aber doch nicht ganz und kam auf den Gedanken, dass die Regierung selbst Speichergas einkaufen könnte. Er beauftragte die Trading Hub Europe (THE), eine private, profitorientierte Organisation zum Management der deutschen Gasnetze (Hochdruckleitungen), mit Kreditgeldern der staatlichen Bank KfW massiv die Gasmärkte leerzukaufen, koste es was es wolle, und das Gas in die Speicher einzuspeichern. Klar, dass die Anbieter jubelten und die Preise noch weiter erhöhten: Anfang Juni kam der Auftrag bei einem Börsen-Gaspreis von etwa 1 Euro pro m³ (eh schon das Fünffache der Preise von Anfang 2021), Ende August erreichte der Gaspreis eine Spitze von über 3 Euro pro m³. Kann gut sein, dass diese Ankaufsaktion der Regierung wesentlich ursächlich dafür war, den Erdgas-Preishype in diesem Sommer noch auf die Spitze zu treiben. Insgesamt stellte die Regierung 15 Mrd. Euro für die Speicherbefüllung bereit und erwarb damit 950 Mio. m³ Erdgas. Unbekannt ist (mir), ob die 15 Mrd. Euro verbraucht wurden, wenn ja, dann entsprächen sie einem absoluten Toppreis (15 Euro pro m³).

1.3 Importpreisanstieg und Verbraucherpreisanstieg beim Gas
Gaspreise in ct/kWh (1 m³ Erdgas: etwa 10-11 kWh) 2019 2020 2021 2022 3) 2023 4)
Verbraucherpreis 1) 6,04 5,73 6,73 14,53 22
Importpreis 2) 1,63 1,15 2,59 8,76 10 - 12
Differenz 4,41 4,58 4,14 5,77 ca. 10
1) Verivox, 20.000 kWh Jahresmenge, incl. Grundgebühren. 2) Statistisches Bundesamt, Durchschnittskosten der Nettoimporte (Import minus Export). 3) Durchschnitt Januar bis September. 4) Schätzung / Annahme: Bundesnetzagentur: Verdreifachung der aktuellen Preise zu erwarten. Wirtschaftsministerium: die Erläuterung der Gaspreisbremse nimmt für 2023 einen Preis von 22 ct/kWh an. Importpreise: derzeitiger Trend: 10 - 12 ct/kWh. Beobachter erwarten nach dem Winter eher einen Rückgang als einen Anstieg.

Interessant ist zunächst, dass die Förderung von Erdgas in Sibirien oder in der tiefen Nordsee vor Norwegen plus der Transport bis an die deutsche Grenze, teilweise über einige 1000 km, in den Vorkriegszeiten weniger als 2 ct/kWh kostete. Von der Grenze bis zum Verbraucher kommen dann noch Kosten von mehr als 4 ct/kWh hinzu (incl. Abgaben, Steuern). So wie es aussieht, werden in 2023 im Vergleich zur Vorkriegszeit die Verbraucherpreise erheblich stärker steigen als die Importpreise. Dabei ist nicht ersichtlich, wo im Inland, also nach dem Import, in diesem Ausmaß höhere Kosten anfallen werden. Also: Steigen die Privatverbraucherpreise deshalb so stark, damit die Industrieverbraucherpreise weniger stark erhöht werden müssen? Steigen sie so stark, damit sich Firmen wie Uniper irgendwie sanieren können? Ist es einfach die günstige Gelegenheit für die Gasverteiler, hier mal richtig zugreifen zu können? Um welche Beträge geht es hier? Der tariforientierte Gasverbrauch in Privathaushalten und Kleingewerbe beläuft sich auf etwa 400 Mrd. kWh. 1 ct/kWh bedeutet also 4 Mrd. Euro.

2. Wir alle werden durch die explodierende Inflation ärmer!? Sind Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft die großen Gleichmacher?

Martin Wansleben, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages: "Wir werden einfach alle [!] ärmer … Ich würde mich nicht wundern, wenn wir am Ende 20 bis 30 Prozent ärmer sind." Das ist definitiv eine dreiste Verdummungspropaganda. Im isw-Spezial 36 – Wirtschaftskrieg, Gaskrise, Inflation – haben wir die sozialen Auswirkungen der Umwälzungen ausführlich diskutiert und dabei festgestellt, dass die Ärmeren in unserer Gesellschaft durch Preiserhöhungen benachteiligt sind:

  1. Sie müssen einen viel höheren Betrag ihres Einkommens als die Reichen für den Konsum aufbringen, also frisst die Inflation viel mehr ihres Einkommens, als es bei den Reichen der Fall ist.
  2. Sie sind mit einer deutlich höheren durchschnittlichen Inflationsrate konfrontiert als die Reichen, weil sie viel mehr ihres Einkommens für stark preissteigende Konsumgruppen ausgeben müssen, insbesondere für Nahrungsmittel und Haushaltsenergie.
  3. Darüber hinaus zahlen sie für Gas und Strom pro Energieeinheit kWh viel mehr als die reichen Vielverbraucher. Bei steigenden Verbräuchen sinken die Durchschnittskosten stark.

Noch sehr viel heterogener verläuft die Entwicklung bei den Selbständigen-, Unternehmer- und Vermögenseinkommen (in der offiziellen Statistik nicht unterteilbar). Nach vielen Berichten müssen kleine Selbständige hart um ihre wirtschaftliche Existenz ringen, und die Wirtschaftsinstitute prognostizieren einen scharfen Rückgang dieser Einkommensart.

Jubelmeldungen in der Wirtschaftspresse

Man muss das Fazit ziehen, dass dieser Wirtschaftskrieg, diese Inflation einer gewaltigen Umverteilung den Weg bahnen: von den Kassen der Privathaushalte und der kleinen Selbständigen hin in die Konzernkassen der Krisengewinner. Wir erleben eine Belastung der Wirtschaft und eine Belastung des guten Lebens. Der obigen Aussage von Wansleben gehört sicherlich die Krone für die verdummendste Aussage des Jahres 2022.

3. Teures Militär statt Intensivmedizin für Kinder: Können wir uns noch beides leisten, Aufrüstung fürs Militär und Aufrüstung in der Kinder-Intensivmedizin?

Sieht leider nicht gut aus. 100 Mrd. Euro Wumms fürs Militär, dazu noch 20 bis 30 Mrd. Euro für Munition (wir können ja sonst nicht mitschießen!), und vor allem mindestens 2 % des BIP jährlich laufende Militärausgaben, das wären derzeit mehr als 75 Mrd. Euro jährlich. Das ist auch für ein sehr reiches Land so viel Geld, dass man anscheinend das Gesundheitssystem runtersparen muss. Lauterbach gibt jetzt für 2023 und 2024 zwei Finanzspritzen von jeweils 0,3 Mrd. Euro und zusätzlich für die Geburtshilfe auch noch 0,12 Mrd. Euro. Das sollte doch reichen. Ja und der bayerische Gesundheitsminister gibt auch noch: 0,005 Mrd. Euro. Helfen und gesundes Leben bewahren ist billig. Abschrecken und morden ist saumäßig teuer. Finanziell, sozial, moralisch, klimamäßig. Aber: Abschrecken ist rentabel und bringt ordentlich Profite, weit mehr als helfen und heilen.

Newsletter Tagesspiegel Abendlage, 1. 12. 2022:Deutschland ist krank – und am schlimmsten trifft es offenbar die Kleinsten. Eine Welle des RSV-Virus legt zunehmend die Kinderkliniken lahm, inzwischen sind bundesweit weniger als 100 Plätze in denselben verfügbar. „Wir sehen, dass jede zweite Klinik in den letzten 24 Stunden ein Kind letztendlich ablehnen musste“, warnt der Münchner Kinder-Intensivmediziner Florian Hoffmann. „Sehr besorgniserregend“, nannte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Lage und kündigte Sofortmaßnahmen an. Personal werde von Erwachsenen-Stationen in Kinderkliniken verlegt. Er appellierte an Eltern mit gesunden Kindern, Vorsorgeuntersuchungen aufzuschieben. Das Problem scheint in erster Linie nicht das Virus selbst. Von 607 Kinderintensivbetten sind aktuell nur 367 überhaupt nutzbar. Das Gesundheitswesen krankt nach der Pandemie schlimmer denn je.

 

4. Wirtschaftskrieg gegen die arme Welt: Liegt es an unserem Geschick, dass wir die Gasspeicher vollgekriegt haben und entspannt dem Winter entgegen sehen können?

Ja, das ist unser Verdienst, also das der deutschen Regierung; das haben wir sehr gut hingekriegt. Allerdings: Ist das ein Grund, stolz auf uns zu sein, weil wir unseren Werten (v.a. dem Euro) zum Sieg verholfen haben? Oder sollten wir uns nicht besser einfach schämen über diese Art von Erfolgen? Regierung und Konzerne haben viel Geld in die Hand genommen und überall (außerhalb von Russland) Nachfrager von Importgas überboten und ausgebootet. Statt russischem Pipeline-Gas, das der Westen so schnell wie irgend möglich auf Null bringen will (was Putin mit Lieferabschaltungen freundlicherweise beschleunigte), kauft die EU verflüssigtes Gas (LNG), das auf Tankern über die Meere geschippert wird, hauptsächlich LNG aus den USA. Die USA, nach Russland der wichtigste und gleichzeitig der am stärksten expandierende Gasexporteur, lieferten bisher, je nach Datenquelle, 20 % bis 30 % ihrer Gasexporte nach Europa und den Großteil nach Süd- und Ostasien. Aber bereits im 1. Halbjahr 2022, als die Gaskrise hauptsächlich erst noch theoretisch war, stiegen die Lieferungen der USA nach Spanien, Italien, Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern auf mehr als das Doppelte der entsprechenden Vorjahresmengen. Und gleichzeitig bekamen Länder wie (u.a.) Brasilien, Mexiko, Indien, Bangladesch, Pakistan weniger als die Hälfte der Vorjahresmengen. Ganz sicher hat sich das im 2. Halbjahr, als die Russen nicht mehr lieferten, noch richtig verschärft. Die Gaslieferanten müssen Vertragsstrafen zahlen, wenn sie Länder wie Pakistan nicht beliefern und die Ladungen nach Europa umleiten. Aber der mehrfach höhere hier zu erzielende Preis deckt die Vertragsstrafen (oft um die 20 % der Kaufsumme) problemlos. Mit der europäischen Einkaufsmacht können die armen und die Schwellenländer nicht mithalten – ist ja das speziell Gerechte an der Marktwirtschaft (im Gegensatz zur Zuteilungswirtschaft), dass derjenige die Ware bekommt, der den größten Nutzen davon hat und daher besonders zahlungsbereit ist. Pakistan bot mit einer Milliarde Dollar bei LNG-Auktionen mit und erhielt kein einziges Angebot. Bangladesch importierte im Sommer überhaupt kein LNG mehr, um den Zusammenbruch seiner Zahlungsbilanz zu vermeiden. In Bangladesch gab es weitreichende Strom-Blackouts trotz des vervielfachten Einsatzes von Diesel zur Stromerzeugung, weil Gas knapp ist. In ganz armen Ländern wie Simbabwe werden die Bäume abgeholzt, weil Gas zu teuer ist. In Thailand stieg der Dieseleinsatz für Strom auf das 16-fache. In Indien und auch anderswo laufen wegen reduzierter Gasimporte vermehrt die Kohlekraftwerke. Das ist der eigentliche Wirtschaftskrieg. Genau so geht internationale Marktwirtschaft. Krieg, Wirtschaftskrieg, Ausbeutung, Kapitalismus: ein fließender Übergang, ganz schwer voneinander abzugrenzen. Nicht nur bei Putin. Folgefragen: Wundert es, dass die armen Länder in diesem Krieg tendenziell neutral sind, angesichts dessen, dass die reichen Länder in dieser Gas-Verteilungsfrage das freie Marktwirken so hemmungslos gegen die Menschen dieser Länder ausspielen? Haben wir jemals ein Wort der Entschuldigung oder wenigstens des Bedauerns seitens der EU oder der Ampelregierung darüber gehört, dass die wirklich Leidtragenden des Wirtschaftskrieges gegen Russland (abgesehen von der russischen Bevölkerung) die Menschen in den armen Ländern sind, die ja nun wirklich wenig Beziehung zur Ukraine haben?

5. Russland und Saudi-Arabien, Ukraine und Jemen: Wer benötigt noch ein Beispiel für Scheinheiligkeit, Doppelmoral, Heuchelei?

Der Westen führt einen Wirtschaftskrieg gegen Russland wegen dessen Aggressionskrieg gegen die Ukraine, für die westlichen Werte Demokratie und Menschenrechte und Frieden und Freiheit. Daneben aber pilgert der Westen bittstellerisch nach Katar und Saudi-Arabien (Biden, Macron, Scholz mit allem Gefolge), das seit langem einen besonders grauenhaften und mörderischen Krieg führt: gegen den Jemen. Nicht nur das: Die deutschen Waffenliefergeschäfte an Saudi-Arabien laufen weiter, und zwar Lieferungen von dringend benötigten Ersatzteilen für die Bomberflotte zum weiteren Einsatz gegen den Jemen. Habeck freut sich über den tollen Gas-Deal mit Katar. Die Fußballer werden beschimpft, wenn sie einfach nur spielen wollen, aber an den Bücklingen der Konzerne und ihrer Regierungen ist nichts Kritisierenswertes, es geht um Milliarden Euro und Dollar, die eigentlichen westlichen Werte, die zu glänzenden Augen führen. Gibt es etwa eine Diskussion über einen Boykott saudischen Öls wegen dessen Krieg in Jemen? Gibt es eine Diskussion über Strafmaßnahmen gegen die Türkei wegen ihrer seit Jahren schon laufenden Terror-Aggressionen gegen die Kurden, vornehmlich in anderen Ländern? Hätte man eigentlich doch Deutschland bestrafen sollen für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Serbien 1999, etwa die deutschen Autoexporte boykottieren? Mal ganz zu schweigen von den unüberschaubar vielen Kriegen der USA. Es ist eine verlogene, schamlose, mörderische Doppelmoral. Eine Verrohung des Denkens.

6. Schub für die Klimazerstörung: Passt es zu grüner Klimapolitik, Russengas durch US-Fracking-LNG und australische Kohle zu ersetzen?

Das muss man offensichtlich mit Ja beantworten. Der Klimaschadens-Unterschied zwischen den beiden Alternativen ist riesig: angesichts dessen, dass mittlerweile jedes Jahr und jede Million Tonnen CO2 zählt, ist dieses Umschwenken ein wichtiger Sargnagel für das bisher menschlich passende Klima. Die Nordstream-Leitungen waren neu, auf technisch hohem Standard, dicht, mit effizienten Kompressor-Maschinen für den Antrieb versehen, und zudem die kürzeste Verbindung zwischen Förderstätte und Verbraucher. Klimamäßig eindeutig die beste Möglichkeit, Erdgas zu transportieren. Demgegenüber ist die Standardleitung durch die Ukraine erheblich länger, mit uralten Maschinen ausgestattet, schlecht gewartet und entsprechend undicht / löchrig (es gab laufend Dispute zwischen Russland und der Ukraine um Vornahme und Finanzierung der nötigen Reparaturen). Ökologisch also schlicht verheerend im Vergleich zu Nordstream (wie der Auspuffvergleich Trabi gegen High-Tech-Auto). Aber noch sehr viel schlimmer ist das US-LNG: Gas aus den USA ist annähernd zu 100 % Frackinggas. Diese Fördermethode setzt technisch bedingt beträchtliche Methanmengen frei, ein Gas, das 25- bis 80-mal so klimazerstörerisch ist wie CO2. Die Förderung von Frackinggas ist fast immer mehrfach klimaschädlicher als konventionelle Erdgas-Förderung. Dazu kommt das nach vielen Berichten häufig ausgesprochen klima-verantwortungslose schlampige Vorgehen der US-amerikanischen Behörden und Konzerne. Der Transport des US-Gases per LNG (verflüssigtes Erdgas) nach Europa: Für die Verflüssigung (Abkühlung auf minus 160 Grad) und die Aufrechterhaltung dieser superextremen Kühlung während wochenlanger Transporte wird eine Energiemenge benötigt, die bis zu einem Viertel der zu transportierenden Gasmenge entspricht. Im Vergleich zum Pipelinetransport eine absolut bizarre Verschwendung von Energie.

Aber es geht ja immer noch weiter: Das Ende von Nordstream-Gas und der enorme Preisanstieg von Gas führte in Europa und auch in den Ländern im Süden zur vermehrten Nutzung von Kohle- statt Gaskraftwerken. Teilweise Kohle, die den Weg um die halbe Welt von Australien her nach Europa nahm – ein absurder klimapolitischer Unsinn. Genauso wie der vermehrte Abbau von Braunkohle. Und zum Schluss: Das Ganze ist ein gigantisches Konjunkturprogramm: Erstens für die US-amerikanische Frackinggasindustrie, die endlich den gewünschten riesigen Markt in Europa erobert hat, und zweitens für den LNG-Tanker-Schiffbau und die nötige Infrastruktur. Die Stilllegung der russischen Pipelines führt zu riesigen Wegstrecken-Verlängerungen: Russisches Gas geht – statt als Pipeline-Gas nach Europa – als LNG nach China (mehr als halb um die Welt), stattdessen kommt US-Gas und womöglich auch australisches LNG über die Ozeane nach Europa. Dasselbe auch nach dem Ölembargo vor einigen Tagen: Russische Öltanker fahren künftig wohl nach Süd- und Ostasien, arabische dafür nach Nordeuropa. Und die Grünen und der Wirtschaftsminister Habeck und die Klimaministerin Baerbock finden das alles in Ordnung. Moderne Klimapolitik: es geht nicht um CO2, sondern um Russengas. Keinerlei Murren auf deren Parteitag. Der Fehler der vergangenen Jahre war nicht die Abhängigkeit von russischem Gas, sondern die Abhängigkeit von fossilen Energien. Hätte man entsprechend der Forderungen der Klimabewegung bereits früher intensiv begonnen, den Energieverbrauch zu reduzieren und den Rest per erneuerbare Energien zu erzeugen, dann wären wir heute sehr viel weiter und hätten keine Gaspreisprobleme.

Mehr zu diesen und anderen Punkten: Franz Garnreiter: Wirtschaftskrieg, Gaskrise, Inflation; isw-Spezial 36, November 2022