Die Umfragen zu den Auftragserwartungen der Industrie zu Beginn des Jahres wurden durchgeführt, bevor das Corona-Virus seine epidemische Wirkung entfalten konnte. Schon damals standen die Zeichen für die wirtschaftliche Konjunktur auf Null-Wachstum. In den ersten Wochen der Virus-Entfaltung begriffen Wirtschaft und die dazu gehörenden Politiker, Publizisten und Forscher nicht, was die Stunde geschlagen hat. Im Januar 2020 meinte das ifo-Institut noch, die Massenerkrankung hätte in China eine Wachstumseinbuße von einem Prozent zur Folge, was in Deutschland zu einem Minus von nur 0,06 Prozent führen würde. Das Motto des deutschen Gesundheitsministers lautete: Ruhe bewahren, das deutsche Gesundheitswesen habe alles im Griff.
Mittlerweile wird klar, dass wir es mit einer globalen Gesundheitskrise von epochaler Dimension zu tun haben. Ende Februar sind über 2.800 Tote und rund 83.000 Infizierte aus 53 Ländern auf sechs Kontinenten gemeldet. In Europa sind über 800 Menschen infiziert, über 600 in Italien. In Deutschland sind über 30 Verdachtsfälle bekannt, eine Explosion der Zahlen wird am Ende der ersten Märzwoche erwartet, wenn die 14 Tage Inkubationszeit nach Karneval vorbei sind. In Nordrhein-Westfalen sind bereits rund 1.000 Menschen unter Quarantäne. Große Messen und Sportereignisse werden abgesagt. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Epidemie mit den bisherigen Mitteln in Deutschland nicht aufzuhalten ist. Fragen von Quarantänen und Grenzsperrungen sind keine abstrakten Erwägungen mehr, sondern drängen auf praktische Entscheidungen. Der Gesundheitsminister spricht vom Beginn einer Massenepidemie.
In China ist die Epidemie offenbar weniger unter Kontrolle, als angesichts der schnellen und rigorosen Maßnahmen der Behörden lange angenommen wurde. Es gibt keine amtlichen Zahlen zu Auswirkungen auf die Wertschöpfung, doch lassen Daten von Außenhandelskammern, Konzernen und Umweltorganisationen verlässliche Annahmen zu, wie weit die Industrieproduktion in China zurückgefahren wird. Eine aktuelle Umfrage der Außenhandelskammer China, ein Institut der Deutschen Industrie- und Handelskammer, lässt einen tiefgreifenden Rückgang in Chinas Wirtschaft erwarten. Von 577 deutschen Firmen in China melden fast die Hälfte zweistellige Einnahmenrückgänge im ersten Halbjahr 2020, ein Viertel erwartet einen Rückgang von über 20%. Die Angaben von Umweltorganisationen zum Rückgang der Schadstoffemissionen weisen in dieselbe Richtung. Die Kohlenstoffemissionen in China sind um ein Viertel zurückgegangen, der Kohleverbrauch ist auf dem geringsten Stand seit vier Jahren, die Flüge haben landesweit um 70% abgenommen. Chinas Wertschöpfung wird nicht um ein Prozent gedämpft, wie das ifo-Institut anfänglich annahm, sondern es werden selbst im günstigen Fall mehrere Prozentpunkte sein. Die deutsche Wirtschaft hängt auf mehreren Ebenen mit der Entwicklung in China zusammen. Da ist einmal der Anteil Chinas am deutschen Warenhandel.
Das deutsche Wirtschaftsmodell beruht auf seinen starken Exporten, fast die Hälfte aller Waren geht ins Ausland (über 49%). 7% der Exporte gehen nach China, fast 10% der Importe kommen von dort. Für das erste Halbjahr 2020 erwartet der chinesische Verband der Autohersteller einen Rückgang der Verkäufe um zehn Prozent. Im Januar 2020 war der Verkauf im Vergleich zum Vorjahr bereits um 20% eingebrochen. VW setzt im Januar 2020 in China 11% weniger Fahrzeuge ab als im Vorjahr. In der Umfrage der AHK melden 64% der Befragten aus dem Automobilsektor eine sinkende Nachfrage aus China, 60% der Autofirmen erwarten eine verzögerte Produktion wegen fehlender Lieferungen. Die Propagandisten der neoliberalen Marktwirtschaft, die jetzt mit Freude die Probleme der Chinesen konstatieren, müssten sich darüber im Klaren sein, dass Chinas Probleme bald die ihren sein werden. Und umgekehrt. Dafür sorgen die Globalen Wertschöpfungsketten, die Unternehmen in China mit denen in Deutschland oder den USA verbinden. Überall werden Teile für ein Gesamtprodukt hergestellt, über dessen finales Zustandekommen das rechtzeitige und stimmige Funktionieren der einzelnen nationalen Standorte entscheidet. Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von der chinesischen Volkswirtschaft wird mit dem Faktor 0,12 % angegeben (also doppelt so viel wie in der ersten ifo-Analyse). China ist in diesen globalen Ketten nicht mehr nur die Drehscheibe für Asien, sondern auch der Transmissionsriemen zwischen Deutschland und den USA. Deutschlands Export steht und fällt mit dem globalen Knotenpunkt China.
Wenn die deutsche Wirtschaft vor dem Virus auf ein Nullwachstum zusteuerte, so ist heute klar, dass 2020 in Deutschland mit einem „negativen Wachstum“ zu rechnen ist. Deutschlands Wertschöpfung wird deutlich schrumpfen.