Der Blick richtet sich auf die Grafik. Aber ja doch, immer antwortet die Regierung: geht doch gegen Null. Wir sind nämlich die Größten überhaupt, tönt sie: „Wir sind das erste Land, das verbindlich aus Atom und Kohle aussteigt“ (in Klammern: in 18 Jahren, 2038!), sagt Umweltministerin Schulze.

Regierungsbeschluss: Künftig noch erlaubte CO2-Emissionen aus der Braunkohle-Verstromung, in Mio. Tonnen

Erinnern wir uns: 2015 haben die Länder der Welt, nach mehr als 20 Jahren Verhandlungen, endlich in Paris beschlossen, gegen die Klimazerstörung anzugehen (ernsthafte Absicht war das wohl nur bei wenigen, aber immerhin ein Bekenntnis). 2016 schrieb die deutsche Regierung einen Klimaschutzplan 2050. 2017 passierte nichts, die Wahlen waren wichtiger. 2018 wurde eine Kohlekommission (KK) eingesetzt, die einen Ausstiegsplan aus der Kohlestromerzeugung entwerfen sollte (alle anderen Emissionsbereiche ruhen weiter). Anfang 2019 hat die KK den Bericht abgegeben. Und schon am 15. 1. 2020 beschloss nun die Regierung, den Ausstiegsplan in Gesetzesform zu gießen – im Detail allerdings erst nur den Braunkohleausstieg. Steinkohle kommt später. Richtig eilig ist die Sache mit dem Klima also nicht.

Was haben die Überlegungen gebracht? Das Ziel der Regierung ist, für jedes einzelne Braunkohle-Kraftwerk (BKW) ein Stilllegungsdatum festzulegen: 30 große BKW (mit 17,2 GW Leistung) sind in einer Liste ausgewählt, davon soll bei 8 BKW Schluss sein bis Ende 2022, bei 11 weiteren bis Ende 2029 und bei den letzten 11 BKW bis 2038 – eventuell schon 2035, darüber soll später mal geredet werden. Das war auch die Vorgehensweise der KK. Aber weder die KK – das haben wir und viele andere kritisiert – noch jetzt die Regierung in ihrem Beschluss haben auch nur eine Silbe darüber verloren, wie viel Strom die (noch) zugelassenen Kraftwerke produzieren dürfen. Dürfen sie ununterbrochen fahren, in Höchstlast? Oder müssen sie Richtung Abschaltdatum mit ihrer Auslastung peu à peu runter- fahren? Das ist ein dramatisches Manko, denn das Klima wird nicht dadurch zerstört, dass irgendwo ein BKW rumsteht, sondern dadurch, dass dieses BKW läuft und CO2-Emissionen ausstößt, und zwar deutlich bis vielfach mehr Emissionen pro kWh Strom als alle anderen Kraftwerksarten.

Was dieses Manko ermöglicht – und wahrscheinlich bewirkt! – darüber gibt die Grafik Auskunft. Hier sind die CO2-Emissionen aus der Braunkohle-Stromerzeugung von 2020 bis 2038 aufgezeichnet. Dies unter der Annahme, dass die 30 BKW, deren jeweilige Laufzeit die Regierung begrenzen will, bis zur jeweiligen Stilllegung mit 80 % Auslastung gefahren werden, d.h. 7000 von den 8760 Stunden im Jahr. Das ist ein Auslastungsgrad, der in der Vergangenheit bei großen BKW durchaus üblich war. In der Grafik sind eine Reihe von kleineren BKW (Heizkraftwerke) nicht einbezogen, die der Regierungsbeschluss nicht behandelt, sowie die Emissionen, die der Fernwärme-Auskopplung bei einigen der großen BKW zuzurechnen sind. Diese beiden Punkte würden die Werte in der Grafik um mindestens 10 % noch erhöhen.

Nun ist zu sehen: Das was die Regierung einen Ausstieg nennt, erlaubt jährliche CO2-Emissionen allein aus der Braunkohle-Verstromung von

  • rund 120 Millionen Tonnen in den nächsten Jahren,
  • rund 100 Millionen Tonnen bis Ende der 2020er Jahre,
  • und immer noch 40 bis 60 Millionen Tonnen in den 2030er Jahren.

Bis zur letzten Abschaltung 2038 sind aufsummiert noch 1500 Millionen Tonnen CO2-Emissionen erlaubt. Sogar einige der KK-Mitglieder monieren, dass der Regierungsbeschluss den KK-Vorschlag bis zum Äußersten zugunsten der Braunkohle-Verstromer ausreizt.

Diesem überbordenden Emissionswahn muss gegenübergestellt werden, dass derzeit (2019) die gesamten deutschen Treibhausgas-Emissionen auf gut 800 Mio. Tonnen geschätzt werden, darunter gut 700 Mio. Tonnen CO2-Emissionen. Darunter an die 300 Mio. Tonnen Emissionen aus der gesamten Stromerzeugung. Dieser „Ausstieg“ der Regierung erlaubt also allein den Braunkohle-Verstromern noch klimaschädliche Emissionen von rund zwei Jahresmengen der heutigen Deutschland-Gesamtemissionen. Oder mehr als fünf Jahresmengen für die gesamte derzeitige Stromerzeugung. Und da ist der Steinkohle-“Ausstieg“, der von der KK parallel genauso konzipiert wurde, noch gar nicht dabei.

Das ist, man muss es so sagen, sowas von hirnrissig, dass man es eigentlich gar nicht glauben will. Denn es kommt ja noch hinzu, dass es wirklich überhaupt keinerlei Notwendigkeit gibt, die 30 BKW überhaupt in Betrieb zu nehmen, weder heute, noch morgen. Wir haben nämlich in Deutschland so hohe Stromerzeugungskapazitäten, dass auch bei winterlicher “Dunkelflaute“, also ohne Sonne, ohne Wind – und auch ohne Atom! – die restlichen Kraftwerksanlagen (Erdgas, Müll, Biogas, Steinkohle, sowie die kleinen Braunkohle-Heizkraftwerke) zur Deckung des Stromverbrauchs ausreichen. Dieses vielzitierte Angstargument des bevorstehenden Zusammenbruchs der Stromversorgung zieht nicht.

Konkret: Die winterliche Höchstlast für den inländischen Stromverbrauch beläuft sich auf gut 80 GW (Mio. kW). Die Bundesnetzagentur, die neben dem Zugang zum Stromnetz auch für ausreichende Menge und Einsatzfähigkeit der Kraftwerke zuständig ist, beziffert die installierte Erzeugungsleistung für den Januar 2020 auf diese Werte: 31,7 GW Erdgas, 22,5 GW Steinkohle, 3.9 GW kleinere Braunkohle-(Heiz-)Kraftwerke (ohne die oben in der Regierungsliste aufgeführten), 17,0 GW sonstige konventionelle Kraftwerke (Müll, Öl u.a.) plus Pumpspeicher, 13,6 GW Laufwasser und Biomasse, zusammen also 88,7 GW, ein Zehntel mehr als der Maximalbedarf (auf sehr ähnliche Werte kommen auch der Stromverband BDEW und das Fraunhofer-ISE, das einen umfassenden Datensatz über die Stromerzeugung pflegt).

“Dunkelflauten”-Tage, also Tage mit annäherndem Windstillstand, sind selten, gerade im Winter: In den Wintermonaten tragen die Windanlagen im Durchschnitt etwa 15 GW zur Versorgung bei; an den Tagen mit Starkwind mit 30 oder 40 GW Leistung kann genügend Strom in die Pumpspeicher eingespeichert werden, um an den windarmen Tagen die Mindererzeugung seitens des Windes zu überbrücken. Und im Übrigen gibt es noch erstens einen regen internationalen Stromaustausch in Knappheitssituationen und zweitens noch viele unausgeschöpfte Möglichkeiten zur Stromverbrauchs-Vergleichmäßigung (z.B. Waschmaschinen in Haushalten oder Kühlanlagen in der Industrie nach Stromüberschuss oder Knappheit fahren).

Dieser Braunkohle-“Ausstieg“ ist in Wirklichkeit eine Langzeitgarantie der Regierung für die BKW-Betreiber auf ungestörte Stromerzeugung und Klimazerstörung. Es ist die Perversion einer Klimapolitik, es ist eine Anti-Klimaschutz-Politik. Dieses Verfahren ist von derselben Art wie der viel gelobte Atomausstieg der Schröder-Regierung 2002: Auch dieser „Ausstieg“ befreite die Atomstromer von der bis dahin intensiven gesellschaftlichen Diskussion über den Atomstrom und erlaubte ihnen einen jahrzehntelangen ungestörten Betrieb ihrer AKW mit ununterbrochener Höchstlast in technisch immer maroder werdenden Uraltmeilern. Ende 2022 ist – hoffentlich ohne Unfall – endgültig Schluss.

Weitere Punkte im Regierungsbeschluss vom 15.01.2020

  • Für Strukturhilfen in den Braunkohleregionen spendet der Bund 40 Mrd. Euro bis 2038.
  • Die Beschäftigten in den Kohle-Tagebauen und -Kraftwerken erhalten Anpassungsgeld. Höhe offen.
  • Die Betreiberkonzerne (RWE u.a.) erhalten 4 Mrd. Euro, um den Verlust des billigsten aller Kraftwerks-Einsatzstoffe zu verschmerzen.
  • Stromintensive Unternehmen (Chemie, Stahl, Alu u.a.) erhalten ab 2023 wegen eventuell steigender Strompreise „einen jährlichen angemessenen Zuschuss“ aus dem Steuersäckel.
  • Zusätzliche Gaskraftwerke sollen gebaut werden, z.B. in Jänschwalde, und – jedenfalls nach KK-Vorschlag – aus Steuergeldern subventioniert. Weitere Gaskraftwerke konkurrieren allerdings gegen den dringend nötigen Ausbau der Regenerativen.

Hätte es Alternativen gegeben?

Ja natürlich:

  1. Meine persönliche Meinung ist, es wäre immer noch besser – wenn’s nicht anders möglich ist – den RWE & Co. etliche Mrd. Euro drauf zu legen und ihnen die BKW alle sofort wegzunehmen und diese totalen Klimazerstörer endlich rigoros abzuschalten. Der Ausstieg aus dem Kohlestrom hat eine riesige Bedeutung als schnelle, vergleichsweise billige und großvolumige Klimaschutzpolitik.
  2. 8 BKW mit 38 % der Erzeugungskapazität haben erst nach dem Jahr 2000 die Stromproduktion aufgenommen bzw. sind grunderneuert worden (die letzten im Jahr 2012). Sie sind gebaut worden in einer Zeit, in der das Klimaproblem längst völlig klar war. Diese Kraftwerke hätten niemals, niemals genehmigt werden dürfen. Weitere 5 BKW mit 19 % der Erzeugungskapazität wurden in den späten 1990er Jahren gebaut; auch damals war schon klar, dass das absolut zukunftsschädlich ist. Kohleausstieg? Man hätte nicht noch weiter in die Braunkohle-Verstromung einsteigen dürfen! Und dennoch, weiter geht’s: Im Sommer 2020 soll ein riesiges neues Steinkohle-Kraftwerk (Datteln) in Betrieb gehen. Es sieht ganz danach aus, dass die Genehmigung erteilt wird.
  3. Der Zertifikate-Preis aus dem EU-Emissionshandelssystem, dem die Stromerzeugung unterliegt, lag die meiste Zeit bei etwa 5 Euro pro Tonne CO2. Ein Hemmnis für Kohlestrom war er damit nicht. Heute liegt er, vermutlich aus Spekulationsgründen, bei 25 Euro – und immerhin werden die Kohlekraftwerke ein bisschen zurückgefahren. Wo der Preis künftig hingeht, ist gänzlich offen. Dieses System ist völlig getrennt von den derzeit diskutierten CO2-Aufschlägen auf Benzin und Heizöl etc. Die gesamte Klimaschutzbewegung forderte seit jeher einen Zertifikate-Mindestpreis. Das hätte vor langer Zeit schon den Kohleeinsatz gehemmt und neue BKW verhindert. Großbritannien z.B. hat einen Mindestpreis eingeführt und damit den Kohlestrom eliminiert. Einfach so. Die EU und Deutschland weigerten sich, darüber auch nur ernsthaft nachzudenken.