Massive Vorwürfe werden derzeit gegen streikende Gewerkschafter erhoben. „Wer vom Streikrecht Gebrauch macht, der muss auch Verantwortung übernehmen und das heißt: konstruktiv verhandeln.“, fordert Bundesverkehrsminister Volker Wissing .






Und er geht einen Schritt weiter mit den Vorwürfen: Die Befürchtung sei, dass Menschen, die bereit waren umzusteigen, sich wieder dem Auto zuwenden könnten. „Das können wir nicht gebrauchen in einer Zeit, in der wir alle uns anstrengen müssen, klimaneutrale Mobilität und bezahlbare Mobilität für jede und jeden zu gewährleisten.“  https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/neue-gdl-streiks-wissing-ist-empoert-aber-greift-nicht-ein,U6GKDCw

„Aber nehmt uns nicht als Geisel“, ergänzt BILD-Chefkolumnist Franz Josef Wagner Streikende https://www.verdi.de/++file++65df396440110e37da87f9b5/download/verdi_news_03_2024_web.pdf

Den Lokführer-Streik kritisiert auch der Bundeswirtschaftsminister. „Das muss möglich sein, eine Lösung zu finden und die Interessen, die man hat, jetzt nicht auf Kosten anderer Menschen so radikal auszutragen, das finde ich nicht mehr richtig“, sagte Habeck dem Sender RTL. „Und was passiert, wenn immer mehr gesellschaftliche Gruppen ihre Meinungen per Streik durchsetzen wollen und dafür weite Teile des Landes lahmlegen?“, deutet Gitta Connemann, Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, die Richtung der CDU an  https://www.cdu.de/artikel/braucht-es-andere-streikregeln

„Deutschland hat im Gegensatz zu vielen anderen Ländern kein Streikgesetz, das der Regierung Einflussnahme auf Streiks sichern könnte. Muss das geändert werden?“, fragt bereits der Bayerische Rundfunk. Er sehe im Moment keine politischen Mehrheiten für eine „Eingrenzung des Streikrechts“, bedauert Michael Brenner, Verfassungsrechtler bei der Uni Jena https://www.mdr.de/mdr-thueringen/bahn-streik-122.html

Verzichtsforderungen an die Gewerkschaften aus Ministerien

Der Bundesverkehrsminister setzt noch einen drauf – er erwarte von der GDL, dass „verantwortungsbewusst verhandelt wird“. Tarifverhandlungen finden zwischen zwei Seiten statt. Hat ein Bundesminister diese Forderung auch an die Verhandlungsseite der Unternehmen gerichtet? Etwa wenn diese Tarifverträge verweigern?
Immer weniger Unternehmen schließen Tarifverträge ab. Die Tarifbindung ist seit Mitte der 1990er-Jahre kontinuierlich zurückgegangen. Fielen 1998 noch 73 Prozent unter einen Tarifvertrag, betrug der Anteil 2022 nur noch 51 Prozent.
Je größer ein Betrieb ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen Tarifvertrag anwendet. Von den Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten tut dies nur knapp ein Fünftel. Die Tarifbindung ist sogar bei den Schwergewichten der deutschen Wirtschaft lückenhaft, meldet die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung: Sieben der Dax-40-Unternehmen sind an einen Tarifvertrag gebunden. https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-schlechte-vorbilder-55198.htm

Überhaupt keine Tarifverträge haben SAP, die Deutsche Börse, das Biotechnologieunternehmen Qiagen, der Wohnungskonzern Vonovia und der Onlinehändler Zalando: "Tendenzen zur Aufweichung der Tarifbindung seien aber selbst in lange etablierten, milliardenschweren Konzernen unübersehbar", betonen die Wissenschaftler Thorsten Schulten, Marlena Sophie Luth und Malte Lübker.

Das Beispiel Amazon

Dort wird seit über einem Jahrzehnt für einen Tarifvertrag protestiert und gestreikt. Generell lehnt das Unternehmen einen Tarifvertrag ab. Den Gewerkschaftern ist auch klar, warum: Beschäftigte arbeiten im Niedriglohnbereich. „Amazon zahlt in Deutschland je nach Standort einen Einstiegslohn von 11,30 Euro bis 12,70 Euro brutto. Nach 12 und 24 Monaten steige dieser automatisch. Nach zwei Jahren verdienen Amazon-Beschäftigte durchschnittlich 2.600 Euro brutto im Monat.“, meldet Gewerkschaft Verdi. Der Konzern ist in einer starken Position: Ein Teil Belegschaft ist befristet beschäftigt, den Arbeitsvertrag kann das Management auslaufen lassen, ohne Begründung. Konflikte vermeiden betroffene Arbeiter dann eher. Amazon versucht bei Streiks hierzulande, den Versand über andere Länder in Europa zu organisieren.

Davon lässt sich die Gewerkschaft nicht einschüchtern. Inzwischen sind Beschäftigte etwa aus Bad Hersfeld vernetzt mit Arbeitern in Polen oder Tschechien. Als „Amazon Workers International“ organisierten sie eine Tour an mehrere Standorte des Versandmoguls in Polen und der Bundesrepublik. https://mmm.verdi.de/geschaeftsmodelle/kollektiv-produzieren-ganz-nah-dran-93493

Auch gibt es weltweite Aktionstage „Die Amazon-Beschäftigten haben den Black Friday zum Make Amazon Pay Day umbenannt“. An diesem Tag geht es darum, sich weltweit für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen einzusetzen, meldet Verdi. Amazon will die Tarifverhandlungen weiter aussitzen. Die Beschäftigten treten für ihre Rechte ein, auch ihr Streikrecht. Die Politik vermeidet Konflikte mit großen Unternehmen wie Amazon. Forderungen von Bundesministern etwa nach einem Schlichtungsverfahren, an dem der Internet-Konzern teilnehmen soll, bleiben aus.

„Volkswirtschaftlicher Schaden“ nur bei Streiks ein Thema – nicht beim Desaster im Bahn-Normalbetrieb

Die Zuverlässigkeit der Bahn ist dafür aber ein Thema für den FDP-Politiker. Die Fahrgäste müssen Planbarkeit haben. „Aber klar ist, dass eine zuverlässige Bahn eine Voraussetzung dafür ist, dass wir auf Wachstum kommen und sich die Wirtschaft in unserem Land gut entwickelt“, formuliert Minister Wissing. Diese Aussage verwundert häufige Bahnfahrer. Denn die Unzuverlässigkeit der Bahn wird seit Jahren dokumentiert, etwa durch die Verspätungszahlen: „Deutsche Bahn verpasst ihr Pünktlichkeitsziel“, meldet tagesschau.de https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/deutsche-bahn-puenktlichkeit-ziele-verfehlung-100.html

Streikausfälle fallen aus den Statistiken, die Verantwortung für dieses seit Jahren dokumentierte Desaster trägt der Vorstand.

Der Journalist Arno Luik beobachtet seit Jahren die Entwicklung bei der Bahn. Er ist Autor von „Schaden in der Oberleitung: Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“. Die Bahn solle Klima-Vorbild sein, fahre aber zu einem großen Teil noch mit Diesel „Hier sind gerade mal 61 Prozent der Strecken elektrifiziert – eine Schande für dieses Industrieland“  https://www.nachdenkseiten.de/?p=110219

Zum Vorwurf, die Streiks sorgen für volkswirtschaftlichen Schaden sagt er: „Wenn es heute mal, was im Winter passieren kann, ein wenig schneit, dann stellt die Bahn häufig den Verkehr ein, hängt ganze Bundesländer vom Verkehr ab. Neulich gab es Schnee in Bayern, in München, fast ganz Bayern fuhren zwei Tage lang keine Züge mehr – ein teurer Witz für die Volkswirtschaft.“. Wie groß die Probleme seien, zeige sich auch im Vergleich zu anderen Ländern: „Der Zustand der Deutschen Bahn ist so desolat, dass die Schweizer häufig keine ICEs, das Vorzeigeprodukt der Deutschen Bahn, mehr nach Zürich fahren lassen“. Dass die Bahn in einem Zustand sei, der „für ein Industrieland überaus peinlich ist, hat Gründe. Und Verantwortliche dafür – und die sitzen im Vorstand der Bahn, aber auch in der Bundesregierung“.

Der Bahnkenner kritisiert auch die Personalpolitik von Bahn-Personalvorstand Martin Seiler:

 „Die Bahn hat 325 000 Mitarbeiter und ist nicht in der Lage, genügend Lokführer anzustellen? Das ist ein eklatantes Versagen dieses Personalvorstands. Wenn die Bahn ihr Personal ordentlich bezahlen würde, hätte sie genügend Mitarbeiter“.

Mehr als 100 von der Deutschen Bahn ausgebildete Lokführer arbeiten in der Schweiz, so der Journalist https://www.fr.de/wirtschaft/deutsche-bahn-wer-die-bahn-so-ruiniert-kann-sie-nicht-retten-experte-ueber-92870496.html

Luik ist von den heftigen Streikwellen nicht überrascht: „Bahnvorstandschef Richard Lutz bekommt das dreifache Gehalt des Bundeskanzlers und einen Bonus von zwei Millionen. Aber Lutz ist verantwortlich für eine Bahn, die 35 Milliarden Euro in den Miesen ist“, so der Buchautor „Und bei den Eisenbahnern schafft es dieses Gefühl von Ungerechtigkeit: »Die da oben sahen ab!« Diese Stimmung stärkt die Streikbereitschaft“.

„Müssen kritische Infrastrukturen eine Pflicht zur Schlichtung vor dem ersten Streik bekommen?“, legt die CDU-Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann ihre Position noch in Frageform offen https://www.cdu.de/artikel/braucht-es-andere-streikregeln

Anregungen könnten sich die Streikgegner möglicherweise bei der faschistischen Regierung in Italien holen. Minister Matteo Salvini, als „Gewerkschaftsfresser“ bekannt, beschränkte dort jüngst das Streikrecht https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180572.bahnstreik-und-gdl-angriff-auf-das-streikrecht-salvini-als-vorbild.html.